4

War Stevie auch noch so eingespannt, für ihre täglichen Tagebucheintragungen nahm sie sich immer Zeit, sodass sie auch an diesem Morgen, während sie auf ihre Gäste wartete, ihr Tagebuch aufschlug und Ort und Datum notierte: Thanksgiving 1996, Connecticut. Dann saß sie da und starrte gedankenverloren die Seite an.

Seit Jahren schon, praktisch den Großteil ihres Lebens, führte sie ein Tagebuch. Mittlerweile hatte sich im Schrank ihres Arbeitszimmers, in dem sie nun am Schreibtisch saß, eine stattliche Anzahl von Bänden angesammelt.

Vierunddreißig Jahre waren in diesen Bänden festgehalten, seitdem sie 1962, mit zwölf Jahren, von ihrer Mutter das erste Tagebuch geschenkt bekommen hatte. Da seither so viel geschehen war, erschien ihr jene Zeit nun fern und entrückt. Mehr als ein Menschenleben war seit damals vergangen, so kam es ihr jedenfalls vor.

Das erste Tagebuch, durch einen kleinen Verschluss mit Schlüssel gesichert, hatte der Zeit gut widerstanden. Vor Kurzem erst hatte sie hineingesehen und erstaunt festgestellt, dass es die Jahre tadellos überdauert hatte. Da und dort vergilbte Ränder und auf manchen Seiten verblasste Tinte konnte man kaum als Schäden bezeichnen.

Insgesamt ist das Buch ein wahres Wunder der Konservierung, dachte Stevie und legte den Füller aus der Hand, um sich zurückzulehnen, in Gedanken bei ihrer Mutter, die selbst ihr Leben lang Tagebuch geführt hatte. Sie hatten immer ein sehr enges Verhältnis gehabt, so eng, dass ihre Beziehung während Stevies Kinderjahren geradezu symbiotischen Charakter angenommen hatte. Jerome Anderson, Stevies Vater, war weder für Blair der richtige Mann noch für seine Tochter ein guter Vater, ein Umstand, der sie und ihre Mutter noch enger aneinanderband.

Jerry war Journalist, Frauenheld, Bonvivant und Liebling der Gesellschaft, und daher für das Familienleben, das ihre Mutter sich wünschte, denkbar ungeeignet. Das schöne, glamouröse und international gefragte Supermodel Blair Connors hatte immer nur Frau und Mutter sein wollen. Ihren Erfolg hatte Blair ihrem Gesicht und ihrer Figur zu verdanken, der Art, wie sie den Laufsteg dominierte und mit der Kamera flirtete, aber keinesfalls ihrem Ehrgeiz. Auch auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als zu Hause zu bleiben und zu kochen, Kinder aufzuziehen, Hausfrau und Mutter und dem richtigen Mann eine gute Frau zu sein. Ihr Traum vom Glück war gleichbedeutend mit Häuslichkeit.

Derek Rayner, Englands klassischer Bühnenheld par excellence, blendend aussehendes Matinee-Idol und Filmstar, schien für die Rolle, die Blair ihm zugedacht hatte, nicht der Richtige. Blairs Freunde hielten ihn sogar für eine krasse Fehlbesetzung.

Es sollte sich jedoch zeigen, dass er der Richtige war, die ideale Wahl, der perfekte Partner. Blair und Derek, nunmehr über dreißig Jahre verheiratet und noch immer verliebt wie am ersten Tag, mussten als einzige Enttäuschung hinnehmen, dass ihnen eigene Kinder versagt blieben. Vielleicht war dies der Grund für ihre Unzertrennlichkeit, die so weit ging, dass Derek keinen Schritt ohne seine schöne und kultivierte Frau tat.

Stevie war sehr erleichtert, dass beide kommen und Thanksgiving bei ihr verbringen würden. Am Tag zuvor hatte ihre Mutter am Telefon abgespannt und matt geklungen, für sie recht ungewöhnlich. Sie hatte angedeutet, dass Derek nach zwölf Wochen dauernden Außenaufnahmen in Arizona und den anschließenden Dreharbeiten im Studio in Los Angeles fix und fertig sei. Der Film hatte sich unmittelbar an eine Aufführungsserie von Beckett am Broadway angeschlossen. Es war also höchste Zeit, dass er endlich zur Ruhe käme.

»Eine ganze Weile ohne Arbeit«, hatte Blair gesagt. »Er freut sich riesig auf das lange Wochenende mit dir, Stevie, ehe wir nächste Woche zurück nach London fliegen«, hatte ihre Mutter hinzugefügt, und Stevie war entschlossen, die Tage besonders schön zu gestalten. Ihre Mutter und Derek sollten sich den Luxus von Ruhe und Frieden gönnen und sich in behaglicher Umgehung mit viel gutem Essen erholen. Vor allem ganz ohne Stress.

Plötzlich fiel ihr Chloe ein. Sie musste später mit ihr ein Wörtchen reden und sie ermahnen, Derek nicht mit ihren kleinen Problemen zu behelligen, da sie zuweilen dazu neigte, ihn richtig in Beschlag zu nehmen. In Stevies Augen nicht unverständlich, da Derek der einzige Vater war, den Chloe je gehabt hatte.

Bruce Jardine hatte für sie eher die Rolle des Großvaters gespielt. Viel älter als Derek, weniger agil und schon ein wenig schrullig, wurde er von Miles und Chloe Old Bruce genannt. Kein Wunder, da er tatsächlich ein alter Mann geworden war, der sich nicht gut gehalten hatte.

Stevie wusste jedoch genau, dass Chloe Bruce lieb hatte, ungeachtet ihrer gegenteiligen Behauptungen und ihrer Neigung, ihn als griesgrämigen Tyrannen hinzustellen. Und was Bruce betraf, so zweifelte Stevie nicht daran, dass er die Zuneigung des Mädchens erwiderte. Er war zu ihrer Tochter zu gut gewesen und hatte ihr zu viel Güte gezeigt, als dass es anders hätte sein können. Stevie wunderte sich mitunter darüber, freute sich aber für ihre Tochter. Bruce hatte Chloe ihr ganzes junges Leben wie eine echte Jardine behandelt, und Stevie würde ihm dafür immer dankbar sein.

Bruce war kein Mensch, der es einem leicht machte, ihn zu mögen oder gar gernzuhaben, doch im Laufe der Jahre hatte sie dennoch eine Beziehung zu ihm entwickelt. Zwanzig Jahre lang hatten sie gut zusammengearbeitet, ohne dass es nennenswerte Temperamentsausbrüche oder Wutanfälle seinerseits gegeben hätte. Rückblickend hatte sie das Gefühl, dass die Jahre sehr gleichförmig verstrichen waren.

Da fiel Stevie ein, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, mit Bruce über Nigel zu sprechen. Sie und Chloe wollten Weihnachten in London verbringen, die ideale Zeit, um sich auszusprechen. Mich aussprechen, dachte sie erstaunt. Geht mir Nigels Haltung wirklich so nahe? Seufzend musste sie sich eingestehen, dass es so war.

Sie brachte ihrem ältesten Sohn nicht nur Liebe, sondern Bewunderung entgegen, da er viel Bewundernswertes an sich hatte. Er war ein intelligenter, ja brillanter junger Mann mit vielen guten Eigenschaften. Und doch hatte er einen Makel, einen höchst fatalen sogar. Als typischer Besserwisser war er felsenfest davon überzeugt, mit seinen Ideen und Ansichten immer recht zu haben. Niemals gab er sich mit einem Nein als Antwort zufrieden oder zeigte sich Argumenten zugänglich. Eigensinn und Sturheit gingen bei ihm so weit, dass es an Überheblichkeit grenzte. Für Stevie waren seine mangelnde Kompromissbereitschaft und Uneinsichtigkeit eine große Enttäuschung.

Er war genau wie sein Großvater. Nein, er ist schlimmer, dachte sie und lachte leise auf. Er war der Klon von Bruce. Er war, wie Bruce als junger Mann gewesen war.

Mit Bruce kritisch über sein Ebenbild zu sprechen würde nicht einfach sein. Es war ein Gedanke, der Stevie ein Lächeln entlockte. Nein, sie würde mit Bruce nicht den Charakter ihres Sohnes diskutieren, sondern ihm vielmehr ihre Befürchtung eingestehen, Nigel wolle sie aus der Firma hinausdrängen. Steckte etwas Wahres dahinter, würde Bruce diesen Machenschaften gewiss ein Ende bereiten.

Aber das konnte sie auch selbst tun. Sie konnte Nigel feuern.

Schließlich war er ihr Angestellter.

Er arbeitete für sie.

Sie stand an der Spitze der Geschäftsführung von Jardine’s, London und war Präsidentin von Jardine’s, New York, während Bruce als Vorsitzender des Aufsichtsrates fungierte. Nigel war Mitglied der Geschäftsführung wie seine zwei Brüder, Positionen, die sie immer bekleiden würden, da sie ihnen als Erben zustanden.

Sie aber konnte Nigel seinen Job jederzeit wegnehmen, wenn sie es für richtig hielt. So einfach war das.

Nein, nicht so einfach, rief sie sich ins Gedächtnis. Er ist mein Sohn, mein Erstgeborener. Ich möchte ihn nicht verletzen, ihn nicht demütigen oder vernichten. Außerdem ist er gut in seinem Beruf, eine Spitzenkraft.

Ich muss ihn einfach dazu bringen, dass er die Linie nicht überschreitet und im Moment seinen Ehrgeiz noch zügelt. Er wird sich gedulden müssen, bis ich mich zurückziehe.

Stevie lachte laut auf. Leichter gesagt als getan, wenn man sich auf der anderen Seite des Atlantiks befand ... Tausende von Meilen entfernt.

Ihre Gedanken gingen zu Gideon, zu demjenigen ihrer Söhne, der nicht den geringsten Ehrgeiz besaß, zumindest was Besitz und Macht betraf. Ihm lag einzig und allein daran, lupenreine Diamanten aus Rohdiamanten schleifen und schöne Dinge schaffen zu können. Aber Gideon machte ihr schon seit geraumer Zeit im persönlichen Bereich Sorgen. Bei ihrem letzten Zusammentreffen, Ende September in London, hatte er schlecht ausgesehen und war ihr zerfahren und nervös vorgekommen. Bleich und übellaunig, so hatte sie ihn in Erinnerung. Gut möglich, dass er es seit dem Bruch mit Margot Saunders noch nicht geschafft hatte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Hatte ihm die junge Frau mehr bedeutet, als er zugeben wollte? Am Wochenende wollte sie mit Miles über seinen Zwillingsbruder sprechen.

Ganz plötzlich wurde ihre Miene weich, und ihre Augen glänzten. Miles war ihr Stolz und ihre Freude, wie sie sich offen eingestand ... aber nur ganz im Geheimen.

Miles würde ihr auch dabei helfen, dass ihr Chloe nicht entglitt. Chloe und Miles hatten viel gemeinsam, und er war im Umgang mit seiner kleinen Schwester sehr geschickt, anders als Gideon, der dazu neigte, sie als Störenfried zu sehen. Und nun wollte Chloe ausgerechnet bei ihrem Bruder Gideon in die Lehre gehen. Stevie schüttelte den Kopf. Die Menschen waren schon sehr merkwürdig.

Schon oft hatte sie sich gedacht, wie sonderbar es war, dass Miles und Gideon, die eineiige Zwillinge waren und einander so ähnlich sahen, sich in Persönlichkeit und Charakter unterschieden wie Feuer und Wasser.

Miles war so viel unbeschwerter und unbekümmerter, sanft, ausgeglichen und ein echter Charmeur. Im Gegensatz dazu war sein Zwillingsbruder introvertiert, stur – in dieser Hinsicht eher wie Nigel – und ein Perfektionist, der mit seiner zuweilen lächerlichen Pingeligkeit nicht in die moderne Zeit zu passen schien. Und doch konnte er geradezu sträflich großzügig sein und besaß die Seele eines Künstlers, der alles Schöne liebte, seien es Frauen, Gemälde, Skulpturen, Bäume, Meeresstimmungen, Gärten, kostbare Edelsteine oder edler Schmuck. Sein Blick war unfehlbar, sein Geschmack verfeinert und erlesen.

Nach ihrem Füller greifend, stellte Stevie mit einem Blick auf die Tagebuchseite fest, dass sie bis auf Datum und Ort nichts zu Papier gebracht hatte.

Langsam fing sie zu schreiben an, und als zwei Seiten voll waren, schraubte sie ihren Füller zu, nahm das Tagebuch in beide Hände und lehnte sich zurück, um das Geschriebene zu lesen.

Connecticut, Thanksgiving 1996

Denke ich an meine Kinder und an das, was sie treiben, kommen sie mir wie Fremde vor. Bis auf Miles, aber der ist mein Herzenskind und ähnelt mir in so vielem. Natürlich liebe ich sie alle, doch er war mir von klein auf besonders nahe. Ich frage mich, ob alle Mütter so sind? Ob alle ein Kind haben, das sie den anderen vorziehen? Ich bin sicher, dass es so ist, doch widerstrebt es einem, jemandem eine so intime Frage zu stellen. Und wissen es die Kinder? Entdecken sie es, spüren sie es, fühlen sie es? Wissen sie, dass es einen unter ihnen gibt, der Mutters wahrer Liebling ist?

Jedes meiner Kinder ist anders. Doch erkenne ich Züge von mir in ihnen wieder. Auch Ralphs Züge ... aber auch von Bruce haben sie etwas geerbt. Zum Glück hat keines etwas von ihrer Großmutter Alfreda mitbekommen, wofür ich aufrichtig dankbar bin. Mit ihrer Kälte, Zurückhaltung und Bitterkeit war sie nicht das, was man sich unter einem netten Menschen vorstellt. Kein einziges Mal hatte sie ein liebes Wort für mich und all die anderen übrig, die sie für minderwertig hielt. Die andere Großmutter ist es, die sich in meinen Kindern zeigt. Meine Mutter. Chloe hat ihre Schönheit geerbt; ihre gertenschlanke Figur, ihr gewinnendes Wesen und das Bestreben, sich anderen angenehm zu machen. Miles hat ihren Sinn für Humor und ihre Originalität geerbt.

Ich liebe sie. Ich liebe alle meine Kinder. Es ist die Wahrheit, ich liebe sie wirklich. Zu viel vielleicht. Und doch habe ich sie vermutlich irgendwann verletzt, habe ihnen unwissentlich geschadet. Aber sind wir nicht alle leicht beschädigt? Das Leben und die Menschen beschädigen uns, wir fügen uns sogar selbst Schaden zu. Gewiss habe ich meinen Kindern Schmerz und Herzeleid bereitet und ihre Gefühle verletzt. Man tut dies unbeabsichtigt und unwissentlich oft jenen an, die man am liebsten hat. Vielleicht habe ich sie vernachlässigt, wenn Beruf und Reisen mich zu sehr in Anspruch nahmen. Aber nie habe ich aufgehört, sie zu lieben.

Für mich sind sie noch immer meine Kinder, obwohl sie natürlich keine Kinder sind, nicht mehr. Sie sind groß geworden. Erwachsene. Sie sind jetzt andere Menschen, nicht mehr meine Kinder. Und sie sind in vielem so anders. Fremde. Manchmal zumindest. Sogar Chloe ist plötzlich erwachsen. Sie weiß, was sie will, und ist auf Biegen und Brechen entschlossen, sich durchzusetzen.

Bald werde ich nicht mehr Mutter sein, werde mich nicht mehr als solche sehen. Stattdessen werde ich ... was sein? Ich werde ... einfach für sie da sein, falls sie mich brauchen. Ist das möglich? Wie hört man auf, Mutter zu sein? Wie bringt man es fertig, sich nicht mehr um seine Kinder zu sorgen? Sich nicht mehr um sie Gedanken zu machen? Vielleicht gar nicht. Aber wie hört man wirklich auf, Mutter zu sein? Kann mir das jemand verraten? Werde ich mit meinen Enkeln besser umgehen? Diese Frage stellte ich mir mitten in der Nacht, als ich ganz plötzlich erwachte. Ich werde Natalie und Arnaud eine gute Großmutter sein. Großmütter sind besser als Mütter, hört man allgemein. Weniger besitzergreifend. Meine Enkel sind richtige kleine Schätze, und Nigel hat Glück, sie zu haben, Tamara zu haben. Sie ist eine gute Ehefrau, eine gute Mutter. Eine fabelhafte junge Frau.

Allmählich geht es mir gegen den Strich, dass Gideon sie immer aufzieht und »Ausländerin« nennt. Gideon macht viel Aufhebens davon, dass ihr Vater Franzose ist und ihre Mutter Russin. Warum, weiß ich nicht. Aber es ist richtig unangenehm, obwohl er sagt, es wäre nur Spaß. Ich spüre aber, dass eine Spur Wahrheit dahintersteckt. Ich fände es abscheulich, wenn er in irgendeiner Weise Vorurteilen anhinge, wobei mir sehr wohl bewusst ist, dass mein Sohn Gideon alles Nichtenglische von vornherein für minderwertig hält. Ich möchte wirklich wissen, warum er dieser Ansicht so hartnäckig anhängt, da ich sie längst geändert habe.

Chloe. Ich kann sie nicht nach London gehen lassen. Chloe mit achtzehn dort allein! Nein, niemals. Ich spüre, dass es unvernünftig wäre. Sie ist zu jung. Und sie muss studieren. Sie kann ihre Ausbildung nicht einfach an den Nagel hängen.

Bald wird meine Familie bei mir sein. Zumindest einige davon, und das macht mich glücklich. Und jeder von uns hat Grund, für diesen November 1996 dankbar zu sein. Besonders ich kann mich glücklich schätzen, da mir so viel gegeben wurde.

Stevie klappte das Tagebuch zu, legte es in den Schreibtisch und versperrte die Lade. Als sie ihren Stuhl zurückschob und aufstand, hörte sie das Geräusch eines Wagens draußen auf der kiesbestreuten Auffahrt.

Ans Fenster tretend, zog sie die Spitzengardine zurück und spähte hinaus. Ihr Herz tat einen Sprung, als sie Miles aussteigen sah.

Er blickte zu den Fenstern hoch, bemerkte seine Mutter und winkte.

Sie winkte zurück, ließ die Gardine fallen und lief eilig hinaus. Die Treppe ins Erdgeschoss brachte sie fast im Laufschritt hinter sich.