21

Chloe, die seit ihren Kindertagen das Geschäft an der Bond Street unzählige Male aufgesucht hatte, liebte das stilvolle alte Haus, das in der City als Sehenswürdigkeit, als Inbegriff von Eleganz und Vornehmheit galt. In seinen übergroßen, bleigefassten Schaufenstern waren herrlicher Schmuck und erlesenste Luxuswaren ausgestellt. »Das Beste, das man für Geld bekommen kann«, pflegte Bruce Jardine immer zu sagen, und er hatte recht.

Solange sie zurückdenken konnte, hatten alle Angestellten ihr das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein, von den uniformierten Türstehern angefangen, die ihr zulächelten und an ihre Mützen tippten, wenn sie sie sahen, bis zum Verkaufspersonal, das immer ein paar nette Worte für sie übrig hatte.

Das Innere des Geschäfts gehörte für sie zum Eindrucksvollsten, was sie je gesehen hatte, eine endlose Flucht von Ausstellungsräumen mit hohen Decken, Kristalllüstern, weißen Marmortreppen und dicken, dunkelblauen Teppichen.

Auf Chloe wirkte das Geschäft großartig und imponierend, vielleicht mit ein Grund, weshalb sie es so liebte. Jardine & Company hat es immer gegeben und würde es immer geben. Das Unternehmen stand für Prestige, Verlässlichkeit und Kontinuität.

Mit der Familiengeschichte aufgewachsen, wusste Chloe, dass die Firma Jardine seit 1843 das Prädikat Hofjuwelier führen durfte, ein Titel, den Königin Victoria dem damaligen Chef der Familie verliehen hatte. Vor Jahren hatte Bruce ihr erklärt, dass das Unternehmen sechs Monarchen gedient hatte und dass sämtliche Mitarbeiter des Hauses nur einen Zweck, ein einziges Ziel kannten – das Beste anzubieten, was die Welt zu bieten hatte.

Von ihrer Mutter hatte sie mehr über die königliche Ermächtigung erfahren, die nur einer Einzelperson und nie einer Firma verliehen wurde. Der derzeitige Träger des Titels Hofjuwelier war Gideon. Das bedeutete unter anderem, dass ihm die Pflege der Kronjuwelen oblag, die meist im Tower von London, im neuerbauten Juwel House, aufbewahrt wurden.

Als Hofjuwelier war Gideon der einzige Mensch, der die Juwelen anfassen durfte. Er war der Königin für die Erhaltung der großen Krone von England, des Reichsapfels und des Zepters verantwortlich, Insignien, die Elizabeth II. bei Staatszeremonien benutzte. »Auf Gideon lastet die Verantwortung für die nationalen Symbole«, hatte ihre Mutter es formuliert.

Die Dimensionen der Geschäftsräume waren erstaunlich. Sie nahmen viel mehr Platz ein als allgemein angenommen, da auch die verschiedenen Werkstätten in den Etagen über den Schauräumen zum Unternehmen gehörten. Dort schufen namhafte Kunsthandwerker aus Edelmetallen wie Silber, Gold und Platin Stücke von atemberaubender Schönheit; Edelsteinschleifer schnitten und schliffen Diamanten und Smaragde, Saphire und Rubine; Designer zeichneten Schmuckentwürfe für die Goldschmiede.

Als sie vergangene Woche zur Arbeit im Geschäft erschienen war, hatte sie zunächst mit Gideon einen Rundgang gemacht. »Damit du mit allem vertraut wirst und ein Gespür dafür bekommst«, hatte er gesagt.

Und wieder war sie sehr beeindruckt gewesen, als er sie durch die Werkstätten führte, in denen sie Schmuck, aber auch alte und moderne Uhren aller Art und verschiedenste Ziergegenstände bewundern konnte.

Jardine’s war ein eleganter Juwelierladen, der eine Vielzahl von Artikeln höchster Qualität führte. Ihre Mutter war stolz auf jedes verkaufte Stück, und ihr Großvater ebenso.

Das Geschäft, das ihre Mutter an der Fifth Avenue eröffnet hatte, gefiel Chloe sehr gut, doch war es das Stammhaus in London, dem ihre wahre Liebe galt. Von ihrer Geburt an bis zu ihrem zehnten Lebensjahr war sie praktisch im Londoner Geschäft aufgewachsen. Es war dieses Geschäft, das sie vor allem gereizt hatte, als sie beschloss, im Familienunternehmen zu arbeiten.

Als Gideon sie in der Woche zuvor gefragt hatte, was sie eigentlich machen wolle, hatte sie offen eingestanden, dass sie es nicht sicher wüsste. Gideon hatte sie daraufhin in den Schmuck-Schauraum gesteckt, in dem die Prunkstücke des Hauses verkauft wurden. »Versuchen wir es erst mit dem Verkauf. Mal sehen, wie dir das zusagt und ob du gern mit Menschen umgehst.«

Heute war der Montag der Osterwoche. Am Donnerstag wollten sie und Gideon nach Yorkshire fahren und mit Nigel und Tamara das Wochenende über in Aysgarth verbringen. Die nächsten drei Tage aber würde sie Gideon an seiner Werkbank zusehen. Er wollte ihr in allen Einzelheiten zeigen, wie die Arbeit eines Diamantschleifers aussah.

Sie wartete auf ihn, auf einem Schemel neben dem seinen sitzend, in einem weißen Mantel wie er. Es dauerte nicht lange, und er kam mit einem kleinen Päckchen wieder, das er auf die Werkbank legte und auswickelte. »Das ist ein Diamant, den ich schneiden und schleifen werde, erklärte er und fuhr fort. »Ein Diamant kann nur mit einem anderen Diamanten geschliffen werden.«

Sie nickte. »Aber dazu benutzt man keinen richtigen Diamanten. Das hast du mir vor langer Zeit schon einmal erklärt. Man benutzt Diamantstaub.«

»Braves Mädchen, du hast es dir gemerkt. Das stimmt, wir benutzen zu feinem Pulver zerriebene Industriediamanten.« Gideon griff nach einem Glastiegel. »Das ist es. Ein graues Pulver, unscheinbar, aber aus fein gemahlenen Diamanten bestehend. Ich mische etwas davon mit Leinsamenöl zu einer schwarzen Paste. Der Diamantstaub schleift die Diamanten, und das Öl bewirkt, dass der Staub am Schleifrand haften bleibt.«

Gideon konzentrierte sich auf die flache gusseiserne Scheibe auf der Werkbank. »Wenn sie läuft, dreht sie sich mit über dreitausend Umdrehungen pro Minute. Würde ich nur Diamantstaub darauf tun, würde er einfach zerstäuben. Deshalb benötigt man Leinsamenöl – damit der Staub an der Schleifscheibe haftet.«

»Ich verstehe.«

»Ich stecke den Diamanten in diese Zange. Sieh gut zu. Die Zange selbst wird von dem Arm festgehalten, der an der Bank angeschraubt ist. Also, der Diamant steckt in der Zange, die ich beim Schleifen nach Belieben positionieren kann.«

Nachdem er sich eine Lupe mit zehnfacher Vergrößerung ins Auge geklemmt hatte, bewegte Gideon die Zange vorsichtig, hielt sie über die Scheibe und begann, den Diamanten zu schneiden und zu facettieren.

Fasziniert sah Chloe zu und wagte es nicht, ein Wort zu sagen, um seine Konzentration nicht zu stören.

»Ach, du fährst über Ostern also nach Yorkshire«, sagte Bruce und blickte Chloe über den Tisch hinweg an. »Gideon sagte, dass ihr Donnerstagmorgen losfahren und am Montag zurückkommen wollt.«

»Das stimmt, Großvater, und Mom weiß davon«, antwortete sie rasch. »Sie sagte, es ginge in Ordnung, ich dürfe fahren.«

Ein leises Lächeln zuckte um seinen Mund. »Aber natürlich. Warum solltest du nicht nach Yorkshire fahren? Nigels Verhalten war zwar sehr dumm und hätte fürs Geschäft ernste Probleme schaffen können, aber er gehört immer noch zur Familie ... er ist immer noch dein Bruder.«

Chloe nickte, plötzlich sehr ernst. »Mom hat mir alles erzählt. Sie war erst wirklich außer sich und wütend, aber mittlerweile hat sie sich schon wieder beruhigt. Miles sagte, Nigel hätte sich geradezu selbstmörderisch aufgeführt, und Gideon meinte, er hätte einen Hang zur Selbstzerstörung.«

»Wirklich?«, murmelte Bruce, der nach seinem Wasserglas griff und einen Schluck trank. »Ich muss sagen, die Zwillinge neigen dazu, alles zu dramatisieren.«

Sich leicht vorbeugend, sagte Chloe in leisem, vertraulichem Ton: »Tamara hat sich sehr aufgeregt, über Nigels Dummheit, meine ich. Sie hat Mom lieb, und sie sagte zu mir, dass sie sich für Nigel und für die Art und Weise, wie er sich aufführte, sehr schäme. Sie ist der Meinung, er sollte sich entschuldigen und Mutter bitten, ihn wieder in der Firma arbeiten zu lassen. Jede Wette, dass Mom ihn wieder nehmen würde, wenn er es täte, meinst du nicht auch?«

»Vielleicht«, sagte Bruce wachsam, wobei er sich insgeheim fragte, ob Stevie Nigel wirklich eine Rückkehr gestatten würde. Aber würde er selbst es denn erlauben, wenn er noch an der Spitze des Unternehmens gestanden hätte? Er war seiner Sache nicht sicher. Nigel war äußerst unbedacht vorgegangen, und Unbesonnenheit war wahrlich kein lobenswerter Zug, schon gar nicht im Geschäftsleben. Als er merkte, dass Chloe ihn anstarrte, sagte er nach kurzem Räuspern: »Abgesehen davon, dass sie in allem, was sie tut, hervorragend ist, hat deine Mutter sehr viel Mitgefühl. Und sie hat Nigel noch immer lieb, obwohl er sich scheußlich benommen hat. Es könnte daher sein, dass sie ihn rehabilitiert. Eines Tages, in weiterer Zukunft, natürlich. Aber genug der unangenehmen Dinge, meine Liebe. Sprechen wir lieber von deiner Zukunft. Möchtest du wirklich einmal im Familienunternehmen tätig werden?«

»Ja, und wie, Großvater!«, rief sie voller Enthusiasmus. »Bis jetzt bin ich von allem begeistert.«

»Weißt du auch schon, in welchem Bereich du arbeiten möchtest, Chloe?«

Chloe atmete aus, dann lächelte sie ihm zu. »Ich weiß, dass ich zur Schmuckdesignerin kein Talent habe. Ein Edelsteinschleifer wie Gideon möchte ich auch nicht sein. Aber ich liebe Steine, Großvater, ganz besonders Diamanten. Ich möchte Diamanten und andere Edelsteine einkaufen. Das würde mir gefallen.«

Bruce bedachte sie mit einem wohlwollenden Lächeln.

»Das war immer mein Spezialgebiet und auch das deiner Mutter. Du möchtest also in unsere Fußstapfen treten. Wenn du das Brearley hinter dir hast, werde ich Gilbert Drexel bitten, dich unter seine Fittiche zu nehmen. Du kannst den Sommer in seiner Abteilung verbringen. Das wird dir Spaß machen, und du wirst viel lernen.«

»Oh, danke, das ist ja wunderbar! Ach, da kommt der Lunch, Großvater.« Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck Wasser, als der Ober ihnen den ersten Gang servierte. Beide hatten das Gleiche bestellt: als Erstes eingelegte Shrimps, dann Hähnchenpastete, eine der Spezialitäten des Claridge.

Während sie langsam die Krabben genoss und dazu dünne Schnitten Schwarzbrot mit Butter aß, sprach Chloe nicht viel, und auch Bruce schwieg. Kaum aber war sie fertig, als sie sich über den Tisch beugte und vertraulich sagte: »Nigel wollte Mom nicht in der Firma haben. Nicht nur, dass er sich wie ein Chauvinistenschwein benimmt, er hinkt auch der Zeit hinterher.«

Bruce, der sie aufmerksam ansah, gab ihr recht. »Ja, das meine ich auch. Heutzutage bewähren sich Frauen auf der ganzen Welt in allen möglichen Berufen.« Er ließ ein kleines amüsiertes Lächeln aufblitzen, als er sagte: »Sogar ich musste lernen, Frauen im Geschäftsleben zu akzeptieren. Deine Mutter, die mich immer altmodisch schalt, hat sich schon vor Jahren entschlossen, es mir tüchtig zu zeigen. Bei ihrem Sohn war ihre Überzeugungsarbeit offenbar nicht so erfolgreich.«

»Ach, an Nigel ist das wohl irgendwie vorbeigegangen«, murmelte Chloe, um dann hinzuzufügen: »Oder ist es einfach noch so eine Haltung, die er angenommen hat.«

»Was meinst du damit?«, fragte Bruce stirnrunzelnd und nagelte sie mit seinem Blick fest.

»Ach, er hat sich doch immer irgendwie eine Haltung zugelegt, als wir heranwuchsen, eine bestimmte Einstellung. Deshalb wirkt er so ... so gezwungen. Seine Haltungen können sich übrigens sehr rasch ändern. Ich persönlich glaube, dass er wütend auf Mom ist.«

Wieder warf Bruce ihr aus zusammengekniffenen Augen einen interessierten Blick zu. »Warum sollte er wütend auf seine Mutter sein?«, fragte er, neugierig auf ihre Antwort.

Chloe zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, Großvater, vielleicht trägt er ihr etwas aus der Vergangenheit nach. Ich weiß nur, dass er sehr empfindlich sein kann.«

Bruce nickte. Chloe war zu einer sehr gescheiten, jungen Dame herangewachsen. Er selbst hatte oft den Eindruck gehabt, Nigel hege einen alten Groll gegen Stevie. Und was Chloe betraf, so war er sehr stolz auf sie. Mit ihrem schimmernden Haar, den leuchtenden dunklen Augen und ihrem makellosen Teint war sie ein bildhübsches Mädchen, ihr größter Vorzug aber, der sie so einnehmend machte, war ihr liebevolles, warmherziges und offenes Wesen. Strahlend war das Wort, das ihr und ihrer Erscheinung am ehesten gerecht wurde. Plötzlich regte sich in ihm der Wunsch, er wäre nicht so alt, dreiundachtzig an seinem nächsten Geburtstag, weil er noch da sein und miterleben wollte, wie aus ihr eine erwachsene Frau wurde. Sie bedeutete ihm sehr viel, nein, er liebte sie über alles. Das Dumme am Tod war, dass einem so viel von der Zukunft entging.

»Was ist los, Großvater?« Chloe legte ihre Hand auf seine.

»Nichts, meine Liebe. Warum fragst du?«

»Du hast eben so traurig ausgesehen«, erwiderte sie, und es klang besorgt.

Da lächelte er erneut und legte seine Hand auf ihre. »Ich wünschte mir gerade, ich wäre jünger, damit ich noch eine Weile miterlebe, wie du erwachsen wirst, heiratest und Kinder bekommst. Ganz zu schweigen von deiner erfolgreichen Arbeit bei Jardine’s.«

»Aber du wirst alles miterleben, Großvater!«, rief sie.

»Chloe, ich bin schon ein alter Mann.«

»Nicht für mich.«

»Und doch nennst du mich hinter meinem Rücken Old Bruce«, neckte er sie.

Ihre Augen wurden groß, sie errötete. »Aber das ist nur ein liebevoller Spitzname und nicht unfreundlich gemeint«, beeilte sie sich zu erklären.

Er nickte lächelnd und sah ihr ins Gesicht. Es tat ihm bis ins Herz weh, dass Chloe erst so spät in sein Leben getreten war, Chloe, die sein Innerstes anrührte und eine Zärtlichkeit in ihm weckte, wie es noch niemand vermocht hatte ... vom Tag ihrer Geburt an, seit er sie zum ersten Mal als Baby in den Armen ihrer Mutter gesehen hatte.