Es war ein stürmischer Tag.
Ein heftiger Wind umtoste die Bäume, beugte sie und riss viel der neuen, bereits sprießenden, frischen Blätter los und ließ sie um Chloes Beine wirbeln, als sie den schmalen Pfad durchs Moor zurück zum Farmhaus ging.
Der Morgen war kalt, doch der Himmel war klar und sonnenhell, mit bauschigen weißen Wolken, die über das Blau segelten.
Chloe liebte diese wilden, leeren Moorflächen, die sich wellig bis zum fernen Horizont hinzogen. Es war eine ehrfurchtgebietende Weite, die immer schon einen eigenen Reiz auf sie ausgeübt und sie in ihren Bann geschlagen hatte, sodass sie gern an diesen Ort zurückkehrte, an dem sie als Kind so viel Zeit verbracht hatte.
Aysgarth End stammte aus der Zeit der Jahrhundertwende. Das weitläufige alte Farmhaus aus heimischem, grauem Stein lag oberhalb des Moores in Coverdale und blickte auf das Dörfchen West Scrafton unweit Coverham hinunter.
Am Tor angekommen, durch das man aufs Farmgelände gelangte, hielt Chloe inne, drehte sich um und bewunderte die Aussicht, die sich von hier aus bot. Es war ein in seiner kargen Schönheit atemberaubendes Panorama, das von den hoch zum Himmel aufragenden Whernside-Klippen geprägt wurde, massive Felsformationen von entrückter Erhabenheit, wie von allmächtiger Hand geformt. Die Farm selbst lag inmitten grüner Felder und Wiesen, die durch uralte, vor Jahrhunderten von den Pächtern aufgerichtete Steinmauern aufgeteilt und getrennt wurden und sanft zum Tal abfielen, in dem das Flüsschen Nidd sich wie ein gleißender Silberfaden bis in unendliche Weiten durch das Grün wand.
Chloe blinzelte gegen die Sonne und schirmte ihre Augen mit der Hand ab, als sie hinunter zum Flusslauf starrte. Dann drehte sie sich um, öffnete das Tor und ging über den ungepflasterten Weg zum Haus. Nun erst merkte sie, wie hungrig sie geworden war. Ein rascher Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es fast acht war. Zeit fürs Frühstück. Sie beschleunigte ihren Schritt, um gleich darauf die Eichenholztür der kleinen vorderen Veranda zu öffnen.
Ein Duftgemisch aus Kaffee, warmem Brot und gebratenem Speck stieg ihr schon in die Nase, als sie ihren Barbour-Wettermantel und den roten Wollschal abnahm und aufhängte. Nachdem sie die eigentliche Haustür geöffnet und die Küche betreten hatte, roch sie den köstlichen Duft so intensiv, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
Tamara, die vor dem großen ländlichen Herd stand und den Speck in der Bratpfanne wendete, blickte mit warmem Lächeln auf. »Na, war es ein schöner Spaziergang, Chloe?«, fragte sie.
»Herrlich, danke.« Chloe lachte. »Er hat mir auch die allerletzten Spinnwebenreste aus dem Kopf vertrieben. Und mir Appetit gemacht.«
»Sehr gut. Ist es kalt draußen?«, fragte Tamara, noch immer mit dem Speck beschäftigt.
»Frisch ist es schon, aber wenn der Wind sich legt, wird die Kälte nicht mehr so spürbar sein. Es ist schön und sonnig, ein herrlicher Tag, wenn man richtig angezogen ist.«
Chloe ging durch die große Küche, die ihre Mutter vor Jahren so hübsch eingerichtet hatte. Seither war nichts verändert worden, und ihr war es lieb, wenn sie alles wieder so antraf, wie es gewesen war. An der Theke neben dem Kühlschrank goss sie sich eine Tasse Kaffee ein, fügte Milch und Zucker hinzu und ging damit an den großen Tisch in der Mitte, dessen grün-weiß kariertes Tischtuch mit den Gardinen abgestimmt war. Sie konnte sich noch an den Tag erinnern, als ihre Mutter die Gardinen mitgebracht und selbst an den Fenstern aufgehängt hatte.
Chloe setzte sich und fragte: »Für wen ist der Speck, Tamara? Er riecht so köstlich, dass ich es kaum aushalte.«
»Für den, der ihn haben möchte. Es gibt noch andere kurz gebratene Sachen ... Tomaten, Pilze, Würstchen und Rührei. Und im Backrohr wartet Brot. Soll ich dir eine hübsche Platte zurechtmachen? Von allem ein bisschen?«
»Das klingt gut, richtig toll. Danke, Tam. Und wo sind die anderen?«
»Nigel ist hinaufgegangen, um nach seiner Brieftasche zu suchen. Er und die Kinder haben schon gegessen. Er nimmt sie und Agnes nach Ripon mit und wird Einkäufe für mich erledigen. Ich brauche noch ein paar Dinge. Und Gideon ist im hinteren Zimmer und telefoniert mit Lenore. Später fährt er rüber nach Lindenhill und holt sie zum Lunch ab.«
»Ach, sehr gut, ich mochte Lenore schon immer gern. Es freut mich, dass sie Gid heiraten wird.«
»Ja, das ist schön, das Beste, was ihm passieren kann ... ich meine, dass sie zu ihm zurückkehrte. Wenn ihnen dieser grässliche Malcolm Armstrong bei der Scheidung nur nicht alle denkbaren Schwierigkeiten machen würde.«
»Ja, ich weiß. Mom sagt, dass er sich geradezu lächerlich aufführt.«
»Man wird ihm eine Kompensation bieten müssen, denke ich.«
»Da gebe ich dir recht. Mom sagte, jeder hätte seinen Preis, und das sei nicht immer Geld.«
Tamara, die über diese treffende Bemerkung laut lachte, ging daran, die Platte für Chloe zurechtzumachen. Es machte ihr Spaß, ihre achtzehnjährige Schwägerin ein wenig bemuttern zu können.
Chloe trank ihren Kaffee und sah sich in der großen Küche um, die immer schon ihr liebster Raum im alten Farmhaus gewesen war, von den Deckenbalken angefangen bis zu den Bodenfliesen aus Terrakotta. Alles war hier ganz Wärme und Behaglichkeit und wirkte einladend und heimelig. Ihre Mutter hatte im Laufe der Jahre den Raum noch gemütlicher ausgestattet und ein großes Sofa samt zwei Sesseln, mit rosafarbigem Leinen bezogen, vor dem großen, Ausblick auf das Moor bietenden Fenster platziert. Zwei Kommoden aus Kiefernholz mit hübschen alten Leuchten darauf ergänzten die Sitzgruppe. Um den großen Tisch in der Mitte der Küche standen acht Stühle mit rosa Leinenkissen. Waren keine Gäste im Haus, wurden die Mahlzeiten meist hier eingenommen.
Zu den Errungenschaften ihrer Mutter gehörte auch der riesige gemauerte Kamin, in dem hell ein Feuer loderte. Er bildete praktisch den Blickfang des Raumes. Die unzähligen, über dem Kamin hängenden Pfannen und Töpfe aus Kupfer schimmerten und blitzten im Feuerschein, der die Küche an diesem frischen Märzmorgen in einen warmen Schimmer tauchte. Den Kamin flankierte auf der einen Seite ein Stapel Feuerholz, auf der anderen ein großer, mit getrockneten Blumen gefüllter Kupferkessel. Davor standen auf einem farbenfrohen Teppich zwei alte, hochlehnige Großvaterstühle mit rosa Kissen. Auf der anderen Seite des großen Raumes lieferte ein Herd zusätzliche Wärme und machte die Küche zum gemütlichsten aller Räume, zum Herzstück des Hauses, in dem man sich gern zu jeder Tageszeit zusammenfand.
»Guten Morgen, Chloe«, sagte Gideon, der eintrat, sich über sie beugte und ihr einen Kuss gab. Sich aufrichtend fügte er hinzu: »Hübsch siehst du aus. Der Spaziergang im Moor hat dir Farbe auf die Wangen gezaubert. Kommst du später mit? Ich fahre nach Lindenhill und hole Lenore.«
»Ja, gern, danke, Gid.« Chloe stand auf, ging an den Herd und nahm Tamara den Teller ab. »Das ist ja gewaltig, Tam, und sieht köstlich aus. Danke.«
Gideon holte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu Chloe an den Küchentisch.
»Möchtest du etwas essen, Gid?«, fragte Tamara.
»Ja, ein Schinkensandwich, wenn es dir keine Mühe macht.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Tamara mit strahlendem Lächeln.
»Bringt Lenore ihre Kinder zum Lunch mit herüber?«, fragte Chloe.
»Gott behüte! Mit denen könnte ich nie fertig werden. Mit ihnen nicht und mit meinen nicht!«, rief Tamara, in gespieltem Entsetzen ihr Gesicht verziehend.
Gideon lachte. »Natürlich würdest du es schaffen, du wirst immer mit allem fertig, Tam. Aber sie bringt ihre Sprösslinge nicht mit. Sie sind mit ihren Brindsley-Vettern ausgeritten, rüber nach Middleham. Lenore sagte, sie wollten sich mit den Stallburschen, die die Rennpferde in Middleham trainieren, einen Galopp liefern. Das muss ein Riesenspaß für sie sein, mit den Burschen um die Wette zu reiten.«
»Ein idealer Ort zum Reiten«, bemerkte Tamara, die das dicke Schinkensandwich auf einen Teller legte und es ihm brachte.
»Danke, Tam. Du isst nichts?«
»Doch, dasselbe wie du, Gid.«
Nachdem sie sich ebenfalls ein Sandwich zurechtgemacht hatte, setzte Tamara sich endlich und fuhr fort: »Entschuldigt, wenn ich vom Lunch rede und wir noch nicht mal mit dem Frühstück fertig sind, aber ich dachte, ich könnte Fisch machen, weil Karfreitag ist. Da aber Nigel Fisch nicht sonderlich schätzt, steht zusätzlich eine Fleischpastete auf dem Programm. Außerdem habe ich einen gebratenen Schinken aus London mitgebracht. Als Beilage mache ich Gemüse und eine Riesenfuhre Salat. Was haltet ihr davon?
»Hört sich gut an«, murmelte Gideon. »Aber ich würde wie Nigel die Fleischpastete vorziehen.«
»Aber für mich Fisch mit Salat«, sagte Chloe mit einem Blick zu Tamara, ehe sie fragte: »Kommt Mrs. Entwhistle aus dem Dorf und hilft dir?«
»Nein. Ihr Enkel, der in Portsmouth bei der Marine stationiert ist, hat vierundzwanzig Stunden Urlaub bekommen. Da wollte ich ihr den Tag nicht verderben, indem ich sie in Anspruch nehme. Ich schaffe es auch allein.«
Chloe wandte sich an Gideon. »Ich glaube, ich bleibe lieber hier und helfe Tamara in der Küche.«
»Na schön. Und ich beeile mich und komme rasch wieder, damit Lenore und ich mithelfen können.«
Von der Tür her sagte Nigel: »Wir alle sind abmarschbereit, Tamsy, Liebling.« Er ging zu seiner Frau, küsste sie auf ihr silber-goldenes Haar und sagte zu Chloe: »Einen schönen guten Morgen, Miss. Wie ist das Wetter?«
»Guten Morgen, Nigel. Es ist windig und kalt, aber sehr sonnig. Ein schöner Tag.«
Agnes, das junge Kindermädchen, folgte ihm mit Natalie und Arnaud in die Küche und begrüßte Chloe und Gideon. Sofort rissen sich die Kinder von Agnes los, stürzten auf Chloe und klammerten sich an ihre Beine.
»Hallo, ihr beiden«, sagte Chloe und drückte sie an sich. »Komm mit, Tante Chloe«, drängte Arnaud. »Bitte.«
»Gern, mein Schatz, aber es geht nicht. Ich bleibe lieber hier und helfe deiner Mami beim Kochen. Aber nach dem Essen können wir Verstecken spielen, ja?«
Er nickte strahlend.
»Ich auch verstecken«, sagte Natalie.
Chloe zerzauste liebevoll Natalies Haar. Die Kinder sahen reizend aus in ihren Jacken und Hosen aus grünem Loden, zu denen sie rote Pullis und rote Gummistiefel trugen.
»Los jetzt, ihr Knirpse.« Nigel ging zur Tür.
Tamara lief ihm nach, hängte sich bei ihm ein und begleitete ihn hinaus zu dem vor dem Haus geparkten Jeep. »Nigel, vergiss die Hörnchen nicht, es ist so mühsam, sie selbst zu machen.«
»Keine Angst, ich bringe welche mit, Liebling«, gab Nigel zur Antwort und zog sie enger an sich. »Wenn es in Ripon keine geben sollte, flitze ich nach Harrogate und schaue in Betty’s Cafe vorbei. Dort müsste es Hörnchen in Hülle und Fülle geben.« Er sah ihr mit liebevollem Blick in die Augen und küsste sie.
»Also, bis später, mein Engel«, sagte er, schon beim Jeep, als er die Türen öffnete und Agnes und die Kinder auf den Rücksitzen verstaute. »Lebt wohl, Kinder«, rief Tamara und warf ihnen Kusshände zu, die die Kleinen erwiderten. Ihre Gesichter glühten vor Gesundheit und Fröhlichkeit.
»Fahr vorsichtig«, mahnte Tamara.
»Wird gemacht, also keine Angst. Bis später, Tamsy.«