23

Sich selbst überlassen, gönnten Tamara und Chloe sich noch eine Tasse Kaffee und plauderten eine Weile am Kamin, wobei sich das Gespräch in der Hauptsache wieder um Gideon und seine Beziehung zu Lenore drehte. Beide begrüßten es, sie in der Familie zu haben, und ergingen sich in Vermutungen über die Hochzeit.

Nachdem sie dieses Thema erschöpfend behandelt hatten, wandten sie sich Miles und dessen Amouren zu. »Hat er über Ostern jemanden mit nach Paris genommen?«, fragte Tamara und sah Chloe neugierig an, da sie wusste, dass diese mit Miles auf vertrautem Fuß stand.

Chloe schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, er hat mir auf dem Flug von New York hierher nichts erzählt. Aber wir waren nur zu zweit. Ich will damit sagen, dass Allison nicht mitflog. Er hat auch nicht von ihr gesprochen. Eigentlich habe ich das Gefühl, dass es aus ist.« Chloe zuckte lächelnd ihre Schultern. »Vielleicht hat er ein Rendezvous in Paris. Was meinst du?«

»Könnte sein«, gab Tamara ihr lachend recht.

Es war Chloe, die als Erste ihren Kaffee ausgetrunken hatte und aufsprang. »So wird nichts fertig«, rief sie. »Ich werde das Frühstücksgeschirr abräumen und den Tisch für den Lunch decken. Wo wollen wir essen?«

»Ach, in der Küche wie immer, meinst du nicht? Hier drinnen ist es so gemütlich. Und ohne Mrs. Entwhistle ist es so mühsam, alles ins Esszimmer und wieder heraus zu tragen.

»Stimmt.« Chloe machte sich sofort an die Arbeit und eilte in der Küche hin und her.

Tamara brachte die Frühstücksreste in Plastikbehältern unter, stapelte diese im Kühlschrank und räumte dann den Geschirrspüler ein. Danach nahm sie ihre Schürze ab und band sich eine frische um. »Ich bekleckere mich beim Kochen viel mehr als die Kinder beim Malen«, bemerkte sie halb laut zu ihrer Schwägerin.

Chloe schmunzelte. »Wem sagst du das, mir geht es ganz ähnlich. Am besten, ich binde mir jetzt eine von deinen Schürzen um. Ich möchte meinen neuen Trainingsanzug nicht ruinieren.«

Da die beiden gewohnt waren, auf der Farm gemeinsam Hand anzulegen, hatten sie die Küche bald auf Hochglanz gebracht und für den Lunch vorbereitet. Nach dem Aufräumen und Tischdecken holte Tamara alle Zutaten für den Salat aus der Speisekammer und bat Chloe, Kopfsalat und Kresse zu waschen und die Tomaten in Scheiben zu schneiden. Sie selbst machte sich daran, das Lammhack für die Fleischpastete anzubraten.

»Was ist ... glaubst du, dass du schon wieder schwanger bist?«, fragte Chloe ihre Schwägerin unvermittelt mit einem neugierigen Blick.

»Keine Ahnung, Chloe.« Tamara lachte und setzte mit blitzenden Augen hinzu: »Vielleicht ist es letztes Wochenende passiert. Nigel war richtig romantisch.«

»Gestern Abend war er zu dir ganz reizend und lieb und allgemein guter Laune«, bemerkte Chloe. »Ich wünschte, er hätte Mom diese schreckliche Sache nicht angetan. Jetzt geht eine Kluft mitten durch die Familie.«

»Ja, ich weiß. Aber die Zeit heilt alle Wunden, zumindest sagte das meine Mutter immer. Ich glaube, sie hat recht.« Tamara hielt kopfschüttelnd inne. »Ich stimme mit euch anderen überein, dass er dumm war. Manchmal kann ich ihn einfach nicht verstehen, Chloe. Ich begreife nicht, was in ihn fährt. Es ist dann, als würde ihm ein böser Geist eingeben, was er tun soll. Und er kann so griesgrämig und zänkisch sein wie ein alter Mann.«

»Auf dem Flug sagte Miles zu mir, dass Nigel mit zwölf oder dreizehn zu stark unter den Einfluss von Großmutter Jardine geriet. Vielleicht hat es damit zu tun. Gideon teilt diese Meinung.«

»Ja, mag sein, dass die beiden recht damit haben.« Tamara nahm einen Holzlöffel, beförderte das Fleisch in die Pfanne, fügte ein wenig Wasser zu und reduzierte die Hitze. Dann ging sie in die Speisekammer und suchte die Gewürze zusammen.

Chloe, die an der Spüle den Salat wusch, lächelte vor sich hin, als sie Tamara pfeifen hörte. Sie selbst konnte nicht pfeifen, obwohl ihre Brüder es nicht an Versuchen hatten fehlen lassen, es ihr im Laufe der Jahre beizubringen.

Als plötzlich auf der Veranda Schritte zu hören waren, fuhr Chloe erschrocken zusammen. Kaum hatte sie sich zur Tür umgedreht, als diese auch schon geöffnet wurde. Ein Mann betrat die Küche, einer, den sie noch nie gesehen hatte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit verwundert gerunzelter Stirn. Aussehen und Kleidung verrieten, dass er nicht aus dem Dorf stammte. Er sah eher wie ein Franzose aus.

Der Mann, der Anfang Dreißig sein mochte, war dunkel und gut aussehend. Er war auch gut gekleidet, wenn auch auf eine Art, die den Ausländer verriet. Falls er kein Franzose war, hätte er ebenso gut Spanier sein können. Er starrte Chloe wortlos an.

»Was kann ich für Sie tun? Wer sind Sie?«, fragte Chloe abermals.

Der Mann schwieg.

Tamara, die Chloes Stimme gehört hatte, kam aus der Speisekammer gestürzt, in der Hand die Pfeffermühle, und blieb wie angewurzelt stehen. Sprachlos starrte sie den Mann an. Schließlich fasste sie sich und rief schrill: »Mein Gott! Alexis! Was tust du hier?«

Der Alexis Genannte stand wie versteinert da und sagte noch immer kein Wort.

»Alexis, warum bist du gekommen?«, lautete Tamaras nächste Frage.

»Ich bin deinetwegen gekommen«, sagte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Überall habe ich dich gesucht, meine Tamara. Ich bin gekommen, um dich zu holen.«

Chloe, die seinen Akzent deutlich heraushörte, sah erschrocken von dem Mann zu Tamara und wieder zurück. Ihre Schwägerin war erbleicht, und in ihrem Blick lag ein Ausdruck des Entsetzens. Chloe erkannte deutlich, dass die sonst so kühle, gefasste und furchtlose Tamara vor diesem Mann Angst hatte. O Gott, es ist ihr Ex-Ehemann Alexis Dumachev, dachte Chloe und trat sofort schützend einen Schritt vor.

Auf ihn zutretend, sagte Chloe ohne eine Spur von Angst und im entschlossensten Ton, der ihr zur Verfügung stand: »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Mein Bruder wird sehr ungehalten sein, wenn er Sie hier antrifft. Bitte, gehen Sie.«

Ohne sie zu beachten, drängte Alexis Dumachev sich an ihr vorüber, durchquerte die Küche und packte den Arm Tamaras, die sofort die hölzerne Pfeffermühle fallen ließ. »Du bist mein«, rief er im Ton höchster Erregung aus. »Du gehörst mir. Und du wirst mit mir kommen. Jetzt gleich.«

Tamara, die ihn abzuschütteln versuchte, geriet mit ihm in ein Handgemenge. Sein Griff aber war so fest, dass seine Finger sich in ihren Arm gruben und sie vor Schmerz zusammenzuckte. Sie drehte den Kopf, sah ihn an und sagte mit erzwungener Ruhe: »Alexis, lass mich los. Es ist albern, du bist albern. Ich bin ...«

»Albern«, schrie er mit hysterisch geweiteten Augen. »Albern, weil ich dich anbete. Mein Gott, du bist mein Leben.« Es folgte ein Wortschwall auf Russisch, woraufhin Tamara zurückwich, noch immer bemüht, sich aus seinem Griff zu befreien.

Nun stürzte Chloe auf ihn zu und zerrte erst an seinem Mantel, dann an seinem Arm. »Lassen Sie sie los!«

»Fort, du dummes kleines Ding!«, schrie er Chloe an und stieß sie von sich.

Chloe taumelte und musste sich am Küchentisch festhalten. Wieder stürzte sie auf ihn zu, packte seinen Arm mit aller Kraft, bemüht, ihre Schwägerin aus seiner Gewalt zu befreien.

Da er Chloe abwehren musste, lockerte sich Dumachevs Griff, mit dem er Tamara festhielt. Damit bot sich ihr die erhoffte Chance, und sie schaffte es, sich zu befreien und sich am anderen Ende der Küche in Sicherheit zu bringen. Chloe wich zurück, duckte sich und lief angstbebend zu Tamara. Gemeinsam suchten sie hinter einem der Armsessel Schutz. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte Chloe völlig außer Atem. »Hoffentlich kommt Gideon bald.«

»Ich will versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen«, raunte Tamara ihr zu und trat ein paar Schritte vor. »Alexis, bitte nimm Vernunft an«, bat sie ihn in versöhnlichem Ton. »Du weißt, dass ich mit Nigel fünf, fast sechs Jahre verheiratet bin. Du und ich, wir sind schon lange geschieden. Zwischen uns ist es aus. Es war schon lange aus, ehe ich Nigel begegnete.«

»Du bist mein! Du wirst immer mein sein!«, schrie er, wobei sein hübsches Gesicht sich zu einer hässlichen Fratze verzerrte. »Und ich bin dein. Du weißt, dass du ihn nicht liebst. Ich bin der Einzige, den du liebst.«

»Nein, nein, das stimmt nicht«, rief Tamara. »Du irrt dich, Alexis. Bitte, lass mich in Frieden und geh nach Paris zurück. Bitte, Alexis.«

»Wenn du mitkommst, ja, dann werde ich gehen«, sagte er in völlig vernünftigem Ton, um sie im nächsten Moment mit irrem Lächeln anzusehen.

»Nein, ich kann nicht. Ich liebe Nigel und gehöre hierher zu ihm.«

»Nein, nein, das tust du nicht. Ich werde nicht zulassen, dass du hierbleibst. Wo ist er? Ich werde ihn töten. Ich werde seine Kinder töten.«

Tamara fing unbeherrscht zu zittern an. Ihre Angst wuchs mit jeder Sekunde. Verzweifelt nach Chloes Hand fassend, flüsterte sie: »Er ist nicht bei Trost. Er muss den Verstand verloren haben. Wir müssen fort, raus aus dem Haus. Oder zu einem Telefon, das ist einfacher. Komm.« Chloe nickte, und beide bewegten sich langsam auf die lang gestreckte Küchentheke mit dem Telefon zu.

Alexis, der sie mit Argusaugen beobachtete, sagte schließlich in ruhigerem Ton: »Du hast wohl nicht verstanden, Tamara? Ohne dich gibt es für mich nichts mehr, kein Leben, kein Ziel. Ich werde mich töten.« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er auch schon eine Pistole aus einer Jackentasche zog und damit herumfuchtelte. »Siehst du, ich habe eine Waffe! Ich werde mich erschießen!«

»Bitte, Alexis, beruhige dich«, sagte Tamara leise und beschwichtigend, obwohl das Entsetzen ihr die Kehle zuschnürte. »Und leg das Ding aus der Hand, ehe etwas passiert.«

»Ich liebe dich«, war alles, was er sagte.

Gleich darauf tat er, was sie verlangte, und steckte die Waffe wieder ein.

Erleichtert aufatmend bewegte Tamara sich weiter auf das Telefon zu, dicht gefolgt von Chloe. Doch als Tamara den Hörer abhob, schnellte Alexis auf sie zu, umschlang sie mit beiden Armen und riss sie mit sich zu Boden. Es entspann sich ein Kampf, bei dem er der Stärkere war.

Chloe stürzte herbei, um Tamara zu Hilfe zu kommen. Während ihre Schwägerin ihren Ex-Mann abzuschütteln versuchte, packte Chloe Dumachev, zerrte mit aller Kraft an ihm und schlug auf ihn ein. Endlich gelang es Tamara, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er ließ nicht locker und bekam ihren Rock zu fassen. Im nächsten Moment jedoch ließ er sie ganz überraschend los und sank schwer atmend zusammen.

Tamara stolperte, als sie sich aufrichtete, und stieß gegen das Tischbein. Sofort hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und rannte mit Chloe davon, um den Tisch herum, verzweifelt auf der Flucht.

Dumachev, der blitzschnell wieder auf den Beinen war, erreichte vor ihnen die Haustür. »Wenn ich dich nicht haben kann, soll er dich auch nicht haben!«, schrie er. Wieder zog er die Pistole, doch nun drückte er ab und feuerte, den Lauf auf Tamara und Chloe gerichtet. Er hatte ein gutes Ziel, und er traf.

Von mehreren Kugeln getroffen, sanken die beiden neben dem Sofa zu Boden, in Reichweite der Tür. Tamara blutete aus einer Brustwunde, Chloe war in den Kopf getroffen worden.

Dumachev blickte mit gefurchter Stirn auf sie hinunter. In seine glasigen Augen trat ein erstaunter Blick, als begriffe er nicht, was er angerichtet hatte. Als er niederkniete und sich über Tamara beugte, brach er laut schluchzend in Tränen aus. Im nächsten Moment legte er sich neben sie, steckte den Revolverlauf in den Mund und drückte ein letztes Mal ab.

Sein Hinterkopf wurde weggerissen, Blut spritzte auf die weißen Wände, auf die Arbeitsflächen und auf Tamara, mit deren Blut es sich mischte.

Jetzt herrschte Stille in der Küche.

Die einzigen Geräusche waren das Brutzeln des Fleisches in der Pfanne, Wassergeplätscher in der Spüle und das Knistern der Scheite im Kamin.

Im Hintergrund spielte leise das Radio ... ein Liebeslied.