Am Mittwochmorgen der folgenden Woche fuhr Stevie nach Heathrow und bestieg die Maschine nach Italien. Der Flug von London nach Mailand nahm wenig Zeit in Anspruch, nur eine Stunde und vierzig Minuten.
Als der Jet von British Airways den Linate Airport anflog, stellte Stevie ihre Uhr eine Stunde vor, der italienischen Zeit entsprechend. Es war Punkt zehn Uhr vierzig.
Nachdem sie von Bord gegangen war, ging alles sehr rasch. Binnen zwanzig Minuten saß sie in der Limousine, die sie am Flughafen gemietet hatte, und fuhr ins Stadtzentrum.
Sie lehnte sich zurück, entspannt und viel ruhiger als seit Langem.
Nach der vertraulichen Aussprache arbeitete Nigel seit fast einer Woche wieder in der Firma und war bereits in einer viel besseren Verfassung. Seine Arbeit hatte ihm immer sehr viel bedeutet und würde ihm auch jetzt helfen, sich mit der erlittenen Tragödie abzufinden. Bis er über Tamaras Tod völlig hinwegkommen würde, musste zwar noch viel Zeit vergehen, doch wusste Stevie, dass er auf dem besten Weg war, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Dass Arbeit noch immer das wirksamste Heilmittel gegen Kummer darstellte, wusste sie selbst am besten. Auch seine Kinder, die ihn dringend brauchten und seinem Leben einen Sinn und Zweck gaben, würden Nigel Kraft schenken.
Chloe, deren Genesung nach ihrem fünfwöchigen Aufenthalt im Northwick Park Hospital gute Fortschritte machte, wurde mit jedem Tag kräftiger. Dank der verordneten Therapie hatte sie ihren Normalzustand wieder erreicht, sodass Dr. Longdon Grund zur Zufriedenheit hatte. Erst letzte Woche hatte er Chloe untersucht und sie für gesund erklärt, Stevie aber dringend geraten, noch einen Monat in England zu bleiben. Danach stünde es ihnen frei, sich in die Staaten oder sonst wohin zu begeben.
Ich hatte großes Glück, dachte Stevie und starrte aus dem Fenster, in Gedanken bei ihrer Tochter. Chloe hätte sterben können, sie hätte für immer im Koma bleiben oder eine Lähmung zurückbehalten können. Gott hat mir ein Osterwunder beschert. Zumindest in Chloes Fall. Leider schloss das Wunder Tamara nicht ein. Jeder Gedanke an ihre Schwiegertochter war für sie mit tiefer Trauer verbunden. Sie würde Tam ihr Leben lang vermissen. Der Tod ihrer Schwiegertochter hatte in ihrem Herzen eine große Lücke hinterlassen.
Zwanzig Minuten nach der Abfahrt vom Linate Airport hatte der Wagen trotz des dichten Verkehrs das Zentrum Mailands und ihr Hotel erreicht und fuhr vor dem Quattro Stagioni in der Via Gesù unweit der Via Monte Napoleone vor. Das einstige, aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammende Kloster, das mit viel Geschmack restauriert worden war, präsentierte sich nun als luxuriöses, modernes Hotel mit großen Fenstern und sonnigen Räumen.
Auf dem Weg durch die Lobby zum Empfang sah Stevie mit einem Blick, dass ihr hier ein Ambiente geboten wurde, wie sie es liebte, geräumig und großzügig.
In ihrer Suite angelangt, packte sie den Koffer aus und hängte ihre Kleider in den Schrank. Dann ging sie an den Schreibtisch und wählte die Nummer von Jardine’s. Nachdem sie mit der Sekretärin ein paar Worte gewechselt hatte, sprach sie mit Nigel und Gideon, ehe sie die Nummer der Wohnung am Eaton Square wählte, um nach Chloes Befinden zu fragen und sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.
Sobald sie ihre Anrufe erledigt hatte, frischte Stevie ihr Make-up auf und zog sich um. Ein dunkelgraues Flanellkostüm mit weißer Hemdbluse schien ihr für ihre nachmittägliche Verabredung geeigneter als der schwarze Hosenanzug, den sie während des Fluges getragen hatte. Als einzigen Schmuck wählte sie ihre doppelreihige Perlenkette, Perlenohrringe und eine Uhr. Nach einem raschen Blick in den Spiegel griff sie nach ihrer Handtasche und verließ ihre Suite.
Den Weg zur Zentrale von Caracelli an der Via della Spiga legte sie zu Fuß zurück und genoss nach dem feuchten Londoner Wetter den herrlichen Maitag mit Sonnenschein und blauem Himmel als sehr angenehme Abwechslung.
Stevie nutzte den Weg auch zu einem kleinen Schaufensterbummel und bewunderte die Kleider und Accessoires in den zahlreichen schicken Boutiquen, die verrieten, dass Mailand zu Recht weltweit als Modezentrum galt. Falls ihr Zeit blieb, wollte sie für Chloe und für sich selbst ein paar hübsche Sachen besorgen.
Als sie das große Caracelli-Gebäude erreichte, sah Stevie auf die Uhr. Kurz vor zwei. Sie war überpünktlich.
Im eleganten Empfangsbereich sitzend, blätterte Stevie ein paar Modemagazine durch, um die Zeit totzuschlagen. Schließlich kam eine hübsche junge Frau, um sie zu holen, und führte sie mit ein paar höflichen Phrasen auf Englisch einen Korridor entlang. Im nächsten Moment betrat sie auch schon Signor Caracellis Büro.
Er saß hinter einem quer vor einer Ecke stehenden Schreibtisch der Tür gegenüber und stand sofort auf, um auf sie zuzugehen und sie mit breitem Lächeln zu begrüßen.
Stevie spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. Ihre Ruhe von vorhin, ihr Selbstvertrauen, war wie weggeblasen. In seiner Gegenwart war sie plötzlich angespannt und nervös und zitterte innerlich.
Noch immer lächelnd kam er auf sie zu, um vor ihr stehen zu bleiben, ihre Hand zu ergreifen und sie einen Moment festzuhalten. Auf sie hinunterblickend sagte er schließlich in seinem von einem leichten Akzent gefärbten Englisch: »Stephanie, wie schön, dich wiederzusehen. Dein Anruf am Montag war eine sehr angenehme Überraschung.«
»Ja, es ist schön, dich wiederzusehen«, erwiderte sie, erstaunt, dass ihre Stimme ganz normal klang. »Ich bin froh, dass ich dich erreicht habe und du mir so kurzfristig einen Termin geben konntest.«
Er nickte. Ohne ihre Hand loszulassen, führte er sie zu der Sitzgruppe am Fenster. »Darf ich dir etwas anbieten? Kaffee? Einen Drink? Vielleicht Tee?«
Sie schüttelte den Kopf. »Danke, nein, ich möchte nichts.«
Wieder lächelte er und zeigte seine ebenmäßigen Zähne, die sich blendend weiß von seiner gebräunten Haut abhoben. Er setzte sich ihr gegenüber hin, schlug die Beine übereinander, lehnte sich auf dem Sofa zurück und sah sie eindringlich an. Seine Neugierde und sein Interesse waren unverkennbar. Plötzlich rief er mit einer jähen Handbewegung: »Verzeih mir! Wie gedankenlos von mir. Ich hätte dich nach deinem Sohn fragen sollen. Wie geht es ihm?«
»Schon besser«, erwiderte Stevie.
»Ich las in der Londoner Times, dass deine Schwiegertochter erschossen wurde. Was für eine Tragödie.«
»Ja, es war sehr schlimm«, gestand Stevie. »Eine schmerzliche Zeit für ihn und für uns alle. Aber er ... nun, er macht sich gut. Er hat zwei kleine Kinder, und die halten ihn ... bei Verstand.«
»Ja, ich verstehe ...« Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Jemanden zu verlieren, der noch so jung ist ... schrecklich. Noch dazu unter so grauenhaften Umständen. Sehr tragisch. Es tut mir sehr leid, Stephanie.«
»Danke.« Stevie biss sich auf die Lippe und zögerte kurz, ehe sie so hastig hervorstieß, dass sich ihre Worte überstürzten: »Auch meine Tochter wurde bei der Schießerei verletzt. Sie hatte Glück, dass sie überlebte.«
Ein erstaunter Ausdruck glitt über sein Gesicht. »Deine Tochter?«
Stevie nickte. »Sie war bei Tamara, als es zur Schießerei kam ... in unserem Haus in Yorkshire. Eine Kugel traf sie in den Kopf. Sie lag eine Woche im Koma.«
»Allmächtiger! Ist alles wieder gut?« Aus seinem Blick sprach Mitleid, als er sich zurücklehnte.
»Ja. Das Geschoss wurde herausoperiert. Gottlob sind keine Schäden zurückgeblieben.«
»Das freut mich.« Von Neugierde geplagt, gab er dieser nun nach und sagte mit eigenartigem Gesichtsausdruck: »Ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast.« Sein Blick wanderte zu ihrer linken Hand, dann zu ihrem Gesicht. »Wie alt ist sie, Stephanie?«
»Achtzehn ...«
»Wie heißt sie?«
»Chloe.«
»Chloe.« Er wiederholte den Namen mit so großem Nachdruck, dass Stevie zusammenzuckte.
Sein Blick schien sie zu durchbohren, als er fortfuhr: »Sie ist achtzehn, fast neunzehn. Sie heißt Chloe. Ist sie ... sie ist von mir? Sie ist meine Tochter, Stephanie.«
»Ja, Gianni, sie ist deine Tochter.«
Vor den Kopf geschlagen, saß er da und starrte sie sprachlos an. »Warum hast du mir das damals nicht gesagt, als wir zusammen waren, damals vor vielen Jahren?«, fragte er schließlich.
»Du warst verheiratet ... ein verheirateter Mann mit Familie. Und du warst sehr prominent, ein Industrieller mit großem Namen. Ich wusste auch, dass für dich als Katholiken eine Scheidung nicht in Frage käme. Da hielt ich es für besser, die Sache zu beenden.«
»Ach ... Stephanie.« Sein vorwurfsvoller und enttäuschter Blick verriet, wie traurig und schmerzlich dies alles für ihn war.
Stevie, die ihm seine Gemütsbewegung ansah, erschrak und sagte: »Ja, ich habe Schluss gemacht, aber du hast dich nicht widersetzt.«
Da unterbrach er sie und sagte mit Nachdruck: »Aber nur, weil ich wusste, dass eine Fortsetzung unserer Beziehung für dich große Probleme geschaffen hätte. Und ich wollte dir keine Ungelegenheiten bereiten. Vor allem nicht bei den Jardines, da ich wusste, wie Bruce und Alfreda waren. Hart. Zäh. Schwierige Menschen. Herzlos. Ich akzeptierte deine Entscheidung, weil ...« Er ließ den Satz unvollendet, wandte aber den Blick nicht von ihrem Gesicht.
»Weil was?«
In ruhigerem Ton erwiderte er: »Weil ich dich sehr liebte, Stephanie. Ich konnte es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen. Dein Schmerz, weil wir nicht zusammenleben konnten, schnitt mir wie ein Messer ins Herz. Ich war wie in einer Falle gefangen – eine unglückliche Ehe, mein todkranker Vater, die Führung des Konzerns, meine zwei Kinder, die auf mich angewiesen waren. Ich wollte dich haben und konnte dich nicht bekommen. Also ließ ich dich gehen.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht, aus seinen dunklen Augen sprach Trauer.
Stevie sah es, und sie wusste, dass er in allem, was er sagte, aufrichtig war. Er war immer ehrlich und redlich gewesen und hatte sich nicht verändert.
Gianni sprach weiter. »Es war nicht richtig, dass du es mir verschwiegen hast.«
»Ich musste, Gianni.«
»Du hast für mich gedacht. Das war ein Fehler, Stephanie. Ich kann selbst denken.«
»Das weiß ich. Aber es war das Beste, was ich tun konnte. Zumindest glaubte ich das damals.«
»Wie hast du es deinem Kind, unserem Kind, erklärt?«
»Ich habe es ihr nie erklärt. Ich hab den Namen des Vaters nie preisgegeben.«
»Und die Jardines ... haben sie es akzeptiert?
»Ja. Alle haben es akzeptiert. Ich habe einfach weitergemacht wie immer.«
»Erstaunlich.«
»Gianni, niemand konnte etwas sagen oder tun. Den Jardines blieb auch nichts anderes übrig, da sie auf mich angewiesen waren, zumindest Bruce bei der Führung des Unternehmens.«
»Du hast in eurer Firma großartige Arbeit geleistet. Ich habe alles aus der Distanz beobachtet und war richtig stolz auf dich.« Sich vorbeugend fragte er mit eindringlicher Miene: »Warum bist du gekommen, um mir ... um mir von Chloe, von meiner Tochter zu erzählen? Jetzt, nach so langer Zeit. War die Schießerei das auslösende Moment?«
»Ja. Als Chloe im Koma lag, leistete ich ein Gelübde. Ich gelobte, ihr die Wahrheit über ihren Vater zu enthüllen, falls sie genesen sollte. Ich möchte es tun, Gianni, ich möchte ihr von dir erzählen. Und ich möchte, dass du nach London kommst und sie kennenlernst. Es wäre für mich sehr wichtig. Schon lange vor der Verletzung wollte sie unbedingt erfahren, wer der Mann ist, dem sie ihr Leben verdankt. Das ist nur natürlich, da sie jetzt erwachsen ist.«
»Ja, selbstverständlich. Das kann ich verstehen. Du hast ihr noch immer nichts von mir erzählt?«
»Nein, noch nicht. Ich weiß, dass es für dich ein Problem ist, und ich möchte nicht in dein Leben und in deine Familie eindringen. Ich möchte dir keine Probleme irgendwelcher Art bereiten oder ...«
»Ich bin Witwer«, unterbrach Gianni sie.
»Ach, das tut mir leid ...« Unter seinem ernsten Blick versagte ihr die Stimme.
Er reagierte mit einem Kopfschütteln. »Stephanie, Heuchelei liegt mir nicht. Du weißt, wie unglücklich meine Ehe war. Als sie starb, lebten wir schon lange getrennt. Renata hat mich vor zwölf Jahren wegen eines anderen verlassen. Bei ihrem Tod vor vier Jahren war sie noch mit ihm zusammen.«
»Ich verstehe. Wie geht es Carlo und Francesco?«
Sein Blick verdunkelte sich vor Kummer. »Francesco ist tot. Er kam vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Aber Carlo geht es gut.«
»Gianni, das tut mir schrecklich leid ... ehrlich. Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast also auch Tragödien erlebt und Schmerz erfahren.«
»So ist es. Aber das Leben ist für jeden hart, auf verschiedene Weise.« Nach kurzem Schweigen fragte er: »Und jetzt sag mir, wen Chloe für ihren Vater hält? Du musst doch auf der Geburtsurkunde einen Namen eingesetzt haben. Wie lautet er?«
»John Lane.« Ein Lächeln stahl sich in Stevies Züge. »Ich glaube, du kennst ihn.«
Gianni lachte, und seine leidenschaftlichen dunklen Augen waren plötzlich so fröhlich wie die Chloes. »Stimmt. John für Gianni – Giovanni. Und Lane, weil ich immer im Dorchester an der Park Lane abstieg. Mein Deckname, wenn ich dich bei Jardine’s anrief.«
Sie nickte.
»Wie ist sie denn, meine Tochter?«
Stevie griff nach ihrer Handtasche und öffnete sie. Während sie Chloes Foto heraussuchte, läutete das Telefon.
»Entschuldige mich, ich muss diesen Anruf entgegennehmen.« Er sprang auf, lief durch den Raum an seinen Schreibtisch, wo er den Hörer abnahm und leise zu sprechen anfing.
Stevies Blick folgte ihm. In den achtzehn Jahren, die vergangen waren, hatte er sich nicht viel verändert. Er war jetzt vierundfünfzig, sieben Jahre älter als sie, doch sah man ihm sein Alter nicht an. Er war zwar ein wenig stärker geworden, was ihn muskulöser aussehen ließ, sein Gesicht aber war relativ faltenlos geblieben und so sonnengebräunt wie damals auch. Sicher war er noch immer sehr sportlich und brachte viel Zeit in frischer Luft beim Tennis, Skifahren und Segeln zu. Sein dichtes, dunkles Haar war an den Schläfen kaum merklich ergraut. Er war noch immer ein sehr gut aussehender Mann, wahrscheinlich der am besten aussehende, dem sie je begegnet war. Groß und vital, strotzte er vor Energie, und diese Energie war es auch gewesen, die sie vor Jahren so anziehend gefunden hatte. Nein, er hatte sich nicht verändert, zumindest nicht äußerlich. Aber das Leben hatte ihm ebenfalls zugesetzt, mehr, als er eben eingestanden hatte. Sie sah es ihm an. In ihm waren tiefe Traurigkeit und großer Kummer.
Im Laufe der Jahre war er, der vor allem als Seidenfabrikant bekannt war, zu einem der mächtigsten Konzernherren Italiens aufgestiegen, zu dessen Imperium unter anderem Modehäuser, Fabriken, Einkaufszentren, Immobilien und Hotels gehörten. Sie wusste es, weil sie sein Schicksal und das seiner Unternehmen in der Presse verfolgt hatte. Sein Name gehörte zu jenen, die in der Financial Times und im Wall Street Journal regelmäßig genannt wurden.
Als Gianni auflegte und zur Sitzgruppe zurückging, sprang ihr geradezu ins Auge, wie perfekt er in seinem hellen Gabardineanzug aussah, der von einem blauen Hemd und einer gelb-blau gemusterten Seidenkrawatte ergänzt wurde. Vom gepflegten Haar bis zu den Spitzen seiner auf Hochglanz polierten, dunkelbraunen Slipper war er der Inbegriff dezenter männlicher Eleganz. »Ist das Foto für mich?«, fragte er und setzte sich. Stevie reichte es ihm und erklärte: »Es wurde letztes Jahr in Connecticut aufgenommen.«
Gianni starrte es lange an. »Sie sieht mir ähnlich.«
»Ja, sehr. Besonders Augen und Stirn. Und sie hat dein kräftiges Kinn, Gianni.«
»Darf ich das Bild behalten?«
»Ja. Aber möchtest du nicht kommen und sie sehen?«
»Du könntest mich nicht davon abhalten. Das könnte niemand.« Gianni stand auf und setzte sich neben Stevie aufs Sofa, um mit einem tiefen Blick in ihre Augen nach ihren Händen zu greifen und ganz leise zu sagen: »Stephanie, wenn du es mir damals nur gesagt hättest, so hätte ich vielleicht einen Weg gefunden.« Die Traurigkeit, die sie zuvor bereits bemerkt hatte, sprach nun wieder aus seinen dunklen Augen, so deutlich, dass ihr fast der Atem stockte.
»Vielleicht«, murmelte Stevie, die seinen langen Blick erwiderte. »Ich wünsche mir jetzt nichts mehr, als euch beide zusammenzubringen. Es war falsch, dass ich es nicht schon früher tat, und ich möchte es wiedergutmachen.«
Stevie fiel sofort auf, dass Gianni, der seine Autos immer bis ans Tempolimit gefahren hatte, am Steuer viel vorsichtiger geworden war. Als er mit seinem Ferrari aus Mailand in Richtung Comer See fuhr, tat er es mit mäßiger Geschwindigkeit.
Gianni redete ununterbrochen, besser gesagt, er hörte nicht auf, sie mit Fragen über Chloe zu bestürmen, sodass der Gesprächsfaden nie abriss. Und kein einziges Mal wandte er seinen Blick von der Straße ab.
»Ich bin nicht mehr der Raser, der ich seinerzeit war«, bemerkte er beiläufig. »Damals, als wir zusammen waren, Stephanie. Francescos Tod hat mich von dieser Sucht geheilt. Er raste mit Höchstgeschwindigkeit dahin, in ein Gespräch mit seiner Freundin vertieft, und hat den entgegenkommenden Laster übersehen. Es gab einen Frontalzusammenstoß. Francesco und Liliane waren auf der Stelle tot.«
»Das tut mir schrecklich leid«, murmelte Stevie leise. »Ich weiß noch, dass du ihn sehr ... dass du ihn sehr lieb gehabt hast.«
»Ja.«
Den Rest der Strecke zu seinem Haus am Comer See schwieg Gianni, und Stevie überließ sich ihren Gedanken, die um ihn kreisten. Bei ihrem Treffen in seinem Büro hatte er sie plötzlich gefragt, ob sie mit ihm zu Abend essen wolle, und sie hatte eingewilligt. Und jetzt fuhren sie dahin, als hätte es die achtzehn Jahre dauernde Trennung nie gegeben, als wären sie miteinander so vertraut wie damals. Unglaublich, dass diese Ungezwungenheit, diese Harmonie noch immer zwischen ihnen existierte. Wir haben uns nicht viel geändert, dachte sie plötzlich. Gewiss, wir sind älter, und das Leben hat uns in mancherlei Hinsicht verändert; aber im Grunde sind wir innerlich noch immer dieselben. Trotz der Lockerheit zwischen ihnen spürte Stevie eine innere Anspannung. Die Nervosität, die sie in seinem Büro erfasst hatte, war geblieben. Und sie war sich seiner Männlichkeit deutlich bewusst, seiner Vitalität und seiner Kraft. In jüngeren Jahren war sie von ihm wie elektrisiert gewesen; und er hatte seine geradezu charismatische Anziehungskraft für sie nicht eingebüßt, im Gegenteil, sie empfand sie womöglich noch stärker.
Wie hatte sie sich im Laufe der Jahre nach ihm gesehnt, nach seinem Gesicht, nach seiner Stimme. Nie hatte sie seine Stimme vergessen, die tief und sonor war. In England und Amerika erzogen, beherrschte er das Englische fehlerfrei.
Nachdem sie ihn vor vielen Jahren aufgegeben hatte, war sie dank ihrer Disziplin in ihrem Entschluss niemals wankend geworden. Sie hatte Gianni nicht wiedergesehen, doch die Sehnsucht war nie vergangen.
Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen Blick zu, sah sein festes Kinn, die feine, ausgeprägte Nase, den wohlgeformten Kopf. Ja, Chloe hatte seine Kopfform, seine Brauen, seine Augen mitbekommen.
Stevie konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie sein Leben verlaufen sein mochte, was für Frauen es im Laufe der Jahre für ihn gegeben hatte. Es mussten viele gewesen sein ... nun ja, einige. Er war als Mann zu attraktiv, als dass er keine romantischen Beziehungen gehabt hätte, da er zwölf Jahre von Renata getrennt lebte. Sie verdrängte diese Gedanken, verdrängte auch noch viel gefährlichere Gedanken, die ebenfalls ihm galten und ihr schon stundenlang zu schaffen machten. Sie war Chloe, ihrer gemeinsamen Tochter zuliebe nach Mailand gekommen und hatte ihn aufgesucht, weil sie die beiden zusammenbringen wollte. Und das war auch der einzige Grund, weshalb sie den Abend mit ihm verbrachte.
An den Ufern des Comer Sees angelangt, wo viele Mailänder ihr Domizil aufgeschlagen hatten, war Stevie von der Größe und Schönheit seines Hauses nicht im Mindesten überrascht. Nachdem er im Hof geparkt hatte, führte er sie in die große, weiße Eingangshalle, einen eleganten, wenn auch etwas streng wirkenden Raum, der seine Wirkung vor allem seinen Proportionen und seiner Schlichtheit verdankte. Ein flüchtiger Blick zeigte ihr eine herrliche Tapisserie an der einen Wand sowie einen großen goldgerahmten Spiegel an der anderen. Von der hohen Decke hing ein riesiger Kronleuchter, und eine breite Treppe schwang sich ins obere Geschoss. Und überall sah man Blumen.
Sie wurden von einem Diener im weißen Jackett empfangen, mit dem Gianni in schnellem Italienisch ein paar Worte wechselte, ehe er sie in den großen Salon führte, von dem aus sie auf eine lang gestreckte Terrasse hinaustraten, die einen Blick über den See bot.
»Ein schönes Haus, Gianni«, sagte sie nach einer Weile, ehe sie sich wieder zu ihm umdrehte.
»Viel zu groß für einen einzigen Bewohner«, war seine Antwort.
»Ach ... lebt Carlo denn nicht hier bei dir?«
»Nein.«
»Ist er verheiratet?«
»Nein. Er lebt in seiner Wohnung in Rom. Carlo leitet mein dortiges Büro. Er und ich ...« Er sprach nicht weiter und zuckte die Schultern. »Carlo ... war immer schon eher der Sohn seiner Mutter. Merkwürdig, wie ein Kind mehr an dem einen Elternteil hängt als an dem anderen. Und dabei möchte man niemanden bevorzugen.« Er lächelte ihr mit einem Anflug von Wehmut zu. »Du bist selbst Mutter, Stephanie, du weißt sicher, wie es ist«, sagte er, eine Braue hochziehend.
»Ja, ich weiß es, Gianni. Von meinen Söhnen war Miles immer mein Herzenskind, so wie Chloe auch.«
»Und Francesco, mein Herzenskind, ist nun tot. Ach, dieses Leben ... manchmal ist es schon sehr schwer.« Er wies auf einen Stuhl. »Bitte, nimm Platz.«
Der Diener kam mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern, trat an einen kleinen Tisch hinter ihnen und öffnete die Flasche.
Gianni lächelte ihr zu. »Veuve Clicquot für dich, Steffie. Wie du siehst, habe ich es nicht vergessen.«
Im nächsten Moment klangen ihre Gläser. »Und jetzt erzähl mir mehr von ihr. Erzähl mir von Chloe.« Er lachte unerwartet. »Wäre meine Großmutter noch am Leben, sie würde sich sehr freuen, dass meine Tochter nach ihr benannt wurde. Ich danke dir dafür.«
Sie sprach nun von Chloe, erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Beziehung zu den Brüdern und dem Rest der Familie.
Als eine Pause eintrat, da sie an ihrem eiskalten Champagner nippte, fragte er: »Wann fliegst du nach London zurück?
»Morgen.«
»Donnerstag ... hm.« Er sah sie über den Rand seines Glases hinweg nachdenklich an. »Ich glaube, ich werde auch fliegen. Ich möchte sie sehen.«
»Aber das wäre zu überstürzt!«, rief Stevie. »Ich muss sie darauf vorbereiten. Ihr alles erklären.« Sie hielt inne, als sie seine Enttäuschung sah.
»Wie lange wird das dauern? Höchstens eine Viertelstunde. Wenn überhaupt, Steffie.«
Wieder nannte er sie bei dem Namen, den nur er benutzt hatte. Stevie sah ihn an und fand ihn plötzlich so unwiderstehlich, dass sie seinem Blick auswich. Sie nagte an ihrer Unterlippe und sagte nichts.
Nun trat Schweigen ein.
Gianni ließ es nicht lange andauern. »Das stimmt doch, oder nicht?«, fragte er. »Du wirst nicht lange brauchen, um ihr von mir zu erzählen ... von ihrem Vater.«
»Vermutlich hast du recht«, gab sie zu, ohne ihn anzusehen.
Gianni Caracelli lehnte sich zurück und studierte sie, während ihr Blick auf den See gerichtet war. Sie hatte sich nicht im Mindesten verändert. Sie war dieselbe wie vor zwanzig Jahren bei ihrer ersten Begegnung in London, anlässlich einer Juwelenausstellung. Ein einziger Blick, und er hatte sich bis über beide Ohren in sie verliebt. Und sie sich in ihn. Es war ein coup de foudre, wie die Franzosen es nannten, die Liebe hatte sie wie ein Blitzschlag getroffen. Es war die wichtigste und leidenschaftlichste Beziehung seines ganzen Lebens geblieben. Gianni kniff im schwächer werdenden Licht die Augen zusammen. Ihr schönes Gesicht zeigte keine einzige Falte, keine Linie. Er lächelte insgeheim über sich. Natürlich lagen winzige Fältchen um Stephanies Augen und Mund. Vorhin im Büro waren sie ihm aufgefallen und sofort wieder verschwunden, weil er Stephanie so sah, wie sie damals gewesen war, und nicht, wie sie jetzt war. Für ihn war sie nicht gealtert.
Er räusperte sich. »Stephanie, wir wollen zusammen nach London fliegen. Morgen. Mit meiner Privatmaschine.«
Stevie sagte noch immer nichts. Sie hatte Angst vor dem Eingeständnis der Wahrheit, Angst vor ihm, vor seiner Männlichkeit, vor der Anziehungskraft, die er auf sie ausübte.
»Ich möchte Chloe sehen«, beharrte er. »Sobald wie möglich. Warum soll ich noch warten?«
Sie drehte sich um und blickte ihn an.
Seine dunklen Augen hielten eindringlich ihren Blick fest. »Steffie, so viele Jahre wurden einfach vergeudet. Wir wollen keine Zeit mehr verlieren.«