Kapitel 3

D as Büro von Dekan Peterson gleicht einem Dschungel. Überall stehen und hängen Zimmerpflanzen. Eine der Grünlilien hat zehn neue Ableger, die sicher bald von ihm umgetopft und in der Uni verteilt werden. Wenn man ihn mal außerhalb seines Büros sieht, dann eigentlich meistens zur Begutachtung seiner Pflanzenkinder. Doch gerade gilt sein prüfender Blick Jasper, Hazel, Corey und mir. Er sitzt an seinem Schreibtisch aus Nussbaumholz, wir vier davor. Hazel knetet nervös ihre Hände. Da sie erst seit einigen Monaten Stipendiatin ist, hatte sie erst eine Handvoll Treffen mit ihm. Es ist das erste, zu dem wir alle eingeladen wurden.

»Meine Elite«, sagt Mr Peterson erschöpft, lächelt aber dennoch, wie immer, wenn er uns so nennt. Die Uni hat einige Stipendiaten, aber wir von Red, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit und Akquise von Spenden, sind für ihn am wichtigsten. Immerhin wird die LBU größtenteils durch Spenden finanziert.

Sein müdes Lächeln erlischt, dann schüttelt er den Kopf und verschränkt die Arme. »Wo soll ich nur anfangen? Bei den negativen Schlagzeilen nach der desaströsen Wintergala?« Jasper neben mir rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, doch wir alle vermeiden es, ihn anzusehen. »Oder bei der aktuellen finanziellen Lage? Ich bin ehrlich: Nach der Neuausstattung der Forschungslabore ist der Geldbeutel leer. Auch wenn wir das Spendenziel auf der letzten Gala gerade noch erreichen konnten, sind zwei wichtige Unterstützer abgesprungen, die uns monatliche Beiträge gezahlt haben. Es ist nun umso wichtiger, dass wir uns wieder gut aufstellen.«

Kurz bin ich versucht aufzuatmen, dass es in diesem Gespräch nicht um Jasper geht, aber die Erleichterung will sich nicht richtig einstellen. Die LBU hat Geldsorgen?

»Was sollen wir tun?«, frage ich. Sicher sind wir hier, weil der Dekan bereits Pläne für uns hat.

»Die Vorbereitungen auf unsere Sommergala laufen, die ersten Einladungen wurden bereits ausgesprochen«, sagt Mr Peterson. »Es gibt viele große Unternehmen, die sich hinsichtlich der Klimakrise positionieren wollen, und wir sind bereits dran, diese Interessenten auf Herz und Nieren zu prüfen.« Immerhin ebbt das Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Uni nicht ab. Das macht Hoffnung. »Es wird vermutlich so sein, dass die Spendengala diesen Sommer größer ausfällt als sonst, und ich möchte, dass Sie sich dort besonders engagieren. Wir brauchen einen Plan, wie wir die Spendensumme dieses Jahr in die Höhe schrauben können, und dafür bitte ich Sie, gemeinsam Ideen zu entwickeln und ein Konzept zu erarbeiten.«

Wir vier nicken synchron, das Lächeln von Dekan Peterson wird direkt ein wenig aufrichtiger.

»Sehr schön. Dann sehen wir uns, wenn Sie mir die Ideen präsentieren.«

Er greift nach seiner Kaffeetasse und wendet sich seinem Rechner zu. Sein Zeichen, dass wir gehen können. Es folgen Stühlerücken und betretenes Schweigen. Wir sind gerade an der Tür, als er noch mal die Stimme erhebt.

»Ms Simson«, spricht er mich an, während die anderen bereits das Büro verlassen. »Ich habe heute Morgen den Entwurf Ihres Interviews mit respite gelesen«, spielt er auf das Interview mit einer Wirtschaftszeitung an, das ich vor dem Auftrag mit Forest.Gardening hatte. »Ich war sehr angetan, wirklich inspirierende Antworten.«

»Vielen Dank, Sir«, erwidere ich und hoffe, nicht rot anzulaufen. Irgendwie weiß ich nie, wie ich mit Komplimenten umgehen soll.

»Es freut mich immer zu sehen, wenn ich mit meiner Auswahl für Red goldrichtig liege. Machen Sie weiter so.« Er nickt mir zu, ehe er nach einer Kladde auf seinem Tisch greift. Ich bedanke mich noch einmal, dann folge ich den anderen auf das Außengelände.

Schweigend kämpfen wir gegen die Windböen, die heute Lullaby durchpeitschen, gehen vorbei an den sich biegenden Kiefern und leeren Holztischen, bis hin zu unserem Wohnhaus. Erst am Küchentisch und mit ein paar meiner Cookies vor der Nase sehen wir uns nachdenklich an.

»Also«, wirft Hazel als Erste ein. »Meint ihr, wir müssen uns Sorgen um die LBU machen? Ich dachte immer, wir würden finanziell sehr gut dastehen.«

Jasper zuckt mit den Schultern. Er hält ein Knie umklammert und sitzt mit dunklen Augenringen bei uns. Es ist ein Fortschritt, dass er nicht sofort in seinem Zimmer verschwindet, auch wenn er schweigsamer als sonst ist.

»Mr Peterson übertreibt sicher ein wenig«, meint Corey. »Es wird immer genug Unternehmen geben, die mit uns kooperieren wollen. Macht euch keine Sorgen.«

»Du bist ab dem Sommer weg«, entgegnet Hazel. »Dich betrifft es dann nicht mehr.«

»Nur weil ich dann mit der Uni fertig bin, heißt das doch nicht, dass mir die LBU egal ist.«

Hazel will gerade etwas erwidern, als Jasper laut schluckt und damit unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

»Es ist meine Schuld«, sagt er leise, seinen Blick starr auf die Tischplatte gerichtet.

Bei dem leisen Schmerz in seiner Stimme schnürt es mir die Kehle zu. Hazel wirft ihm einen sorgenvollen Blick zu.

»Ist es nicht«, sage ich etwas spitzer als beabsichtigt. »Wir haben das Spendenziel an diesem Abend erreicht. Mr Peterson ist nur noch sauer wegen der Prügelei, deswegen hat er den Vorfall erwähnt.«

»Zu Recht«, murmelt Jasper.

Seine Selbstzweifel berühren mich mehr, als ich zugeben möchte. Immerhin kenne ich den Gedanken, etwas falsch gemacht zu haben, nur zu gut. Kurz denke ich an meinen Ex-Freund und all die dunklen Gedanken, die er in unserer dreijährigen Beziehung in meinem Kopf freigesetzt hat. Die Versuchung, mich darin zu verlieren, ist groß. Aber es reicht mir, dass er abends und nachts meine Gedanken dominiert. Jetzt, am Tag, lasse ich das nicht zu. Nicht, wenn es Dinge zu erledigen gibt. Aufgaben, Futter für den Kopf, um nicht dem Sog zu erliegen. Mr Petersons Auftrag kommt daher wie gerufen.

Ich öffne meine Tasche und hole mein Tablet heraus. »Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen«, verkünde ich entschlossen. »Zeit fürs Brainstorming.«

»Komm schon, Jasper«, sagt Corey und legt kumpelhaft seinen Arm um ihn. »Zeigen wir, wieso wir zwei das Dreamteam genannt werden, und hauen unsere besten Ideen raus. Wie in alten Zeiten.«

Sehe ich da ein minimales Zucken in Jaspers Mundwinkel?

»Niemand nennt euch Dreamteam «, steige ich mit ein, um diesen Anflug von Aufmunterung zu unterstützen. »Außer vielleicht ihr selbst.«

»Die anderen sollten schnellstens damit anfangen. Spätestens nach unserem gewonnen Wettessen letzten Sommer sollte allen klar sein, dass wir uns den Namen verdienen. Jasper und ich haben es diesen Wanderern aus Ohio schließlich gezeigt.«

»Stimmt«, sagt Jasper mit einem schwachen Grinsen. »Die hatten keine Chance gegen uns.«

»Ihr habt wirklich ein Wettessen veranstaltet?«, fragt Hazel belustigt. »Gegen zwei Touristen? Und ich habe es verpasst?«

»Das war noch vor deinem Studienbeginn. Aber danach haben die zwei Herren hier mit Bauchschmerzen auf dem Sofa gelegen und sich selbst bemitleidet. Das war nicht gerade ein Bild für die Götter.«

»Die Schmerzen waren es wert«, meint Corey. »Immerhin war der Sieg unser.«

»Und du hast dich danach sehr rührend um uns gekümmert«, meldet sich erneut Jasper zu Wort.

»Mich um euch zu kümmern war die einzige Möglichkeit, um euer Selbstmitleid irgendwie zu ertragen«, gebe ich zurück, um ihn ein bisschen aus der Reserve zu locken. »So wart ihr wenigstens mit Teetrinken beschäftigt und hattet nicht so viel Zeit für Gejammer.«

»Ladies and Gentleman«, sagt Corey, »Lou Simson, die glorreiche Retterin der Armen.«

»Dann sehen wir mal zu, dass wir die LBU auch gerettet bekommen«, erwidert Hazel mit einem etwas zu traurig geratenen Schmunzeln. »Los, Dreamteam: Was gibt’s für Ideen?«

Eine halbe Stunde lang sammeln wir ungefiltert Vorschläge. Verkaufstische, Essensstände, größere Interviews, ein Tag der offenen Tür. Meine Bananencookies leisten ihren Beitrag, um uns zu motivieren, bis die Dose fast leer ist. Insgeheim schreibe ich mir auf meine To-do-Liste, bald neue zu backen.

»Vielleicht gehen wir das Ganze falsch an«, überlegt Hazel, den Mund noch voller Kekskrümel. »Mr Peterson hat uns gefragt. Weil er denkt, dass nur wir dieses Problem lösen können. Verkaufsstände könnte jeder organisieren. Was also qualifiziert uns?«

»Wir sind diejenigen, die den Unternehmen einen authentischen Eindruck von unserer Arbeit bei der LBU vermitteln«, leiere ich roboterhaft runter, weil ich diesen Satz in meiner Unilaufbahn schon sehr oft von mir gegeben habe.

»Bei der Wintergala habe ich mich mit Mr Bishop von der Firma Prekstone unterhalten«, führt Hazel aus. »Er hat gesagt, dass wir alle ausgewählt wurden, weil wir einen gewissen Charme haben.«

»Charme? Wer, ich?« Corey grinst wichtigtuerisch.

»Wir geben dieser ganzen Spendensuche eine persönliche Note«, fährt Hazel fort, ohne sich von Coreys Humor stoppen zu lassen. Sie ist voll in ihrem Element. »Wieso sonst führen wir so oft Journalisten durch unsere WG und geben Einblicke in unseren Studienalltag und unser Privatleben?«

»Sympathie«, wirft Jasper ein, der in seinem Kaffee rührt. Tasse Nummer drei, seit wir hier sitzen. Noch kein persönlicher Rekord, aber für eine halbe Stunde nahe genug am Herzkasper.

»Richtig«, antwortet Hazel, die inzwischen auf Tee umgestiegen ist. »Damit sorgen wir dafür, dass die Unternehmen sich enger mit der LBU verbunden fühlen.«

»Also auch mehr spenden«, ergänzt Corey.

»Ihr habt recht«, sage ich. »Aber wie hilft uns das, diese Aufgabe zu lösen?«

»Indem wir uns so privat wie noch nie zuvor präsentieren«, schlägt Hazel stolz vor. »Ich finde, wir sollten eine Videopräsentation vorbereiten.«

Ich nehme mein Tablet und schreibe Hazels Idee auf. Sie gefällt mir.

Corey nickt nachdenklich. »Das ist nicht schlecht. Wir könnten das Video bei der Sommergala zeigen.«

»Finde ich gut«, meint Jasper. Trotz des Kaffees scheint sein Energieschub vorbei zu sein, seine Schultern sind wieder eingesackt. Er streicht sich etwas fahrig durch die Haare, als würde es ihn gerade all seine Willenskraft kosten, hier mit uns sitzen zu bleiben, anstatt wieder in seinem Zimmer zu verschwinden.

Ich schiebe ihm den letzten Cookie zu, den er dankend annimmt. Essen war schon immer ein Ventil für ihn. Etwas, das uns verbindet seit unserem ersten Aufeinandertreffen, als ich mit meinem Koffer und vielen Träumen bei Red aufgeschlagen bin. Ich erinnere mich noch gut an sein süffisantes Grinsen, weil mein Blick von den vielen Tattoos auf seinem halb nackten Körper angezogen wurde. Er hat mir daraufhin meinen ersten flirty Jasper-Branson-Spruch gedrückt, mit dem ich überhaupt nicht umgehen konnte. Denn Jasper war wow und viel und heiß, und ich gebrochen und total verwirrt. Die Dynamik zwischen uns war dann sehr seltsam, mein Start an der Uni ebenfalls. Bis ich am selben Abend für Jasper, Corey und unsere damalige Mitbewohnerin Veronica kochte. Mit Chili sin Carne und Maisbrot schaffte ich es, das Eis zu brechen. Der Beginn unserer Freundschaft, in der Jasper Branson es immer wieder nur durch Kleinigkeiten schaffte, mich durcheinanderzubringen. Damals wie heute.

»Sammeln wir Ideen dazu«, schlägt Corey vor.

Eifrig schreibe ich alles mit: Einfälle zu Filmaufnahmen, persönlichen Storys. Wir besprechen, woher wir das Equipment nehmen, wer die Videos filmt und schneidet, stellen einen Zeitplan auf und entwickeln ein Konzept.

»Dann steht der Plan«, schließt Corey und streckt sich. Inzwischen ist es draußen dunkel geworden, der Abend ist längst herangebrochen und somit die Zeit, vor der ich mich am meisten fürchte.

Leerlauf.

Corey klopft Jasper auf die Schulter. »Fühlst du dich etwas besser, mein Dreamteam-Partner?«

»Vorerst.« Doch in seinen Augen kommt diese Aussage nicht an.

»Das ruft nach einem Feierabendbierchen, findest du nicht?« Corey schlendert bereits zum Kühlschrank, um zwei Flaschen herauszuholen, doch Jasper schüttelt den Kopf. Er ist wieder dabei, sich innerlich in sein Schneckenhaus zu verkriechen.

»Ich glaube, ich gehe erst mal eine Runde trainieren.«

Ein kleiner Schatten der Enttäuschung huscht über Coreys Gesicht, auch wenn sein Lächeln nicht verrutscht.

»Vielleicht ja danach.«

»Genau«, meint Jasper und trinkt seinen kalten Kaffee.

Hazel beginnt, das Abendessen zu kochen. Sie hat bereits Teig vorbereitet, aus dem sie ihre berühmten philippinischen Brötchen formt, die mit Margarine bestrichen und im Ofen kross gebacken werden. Ein Rezept aus der Heimat ihrer Mutter. Inzwischen sind wir alle süchtig nach den Dingern. Warm, weich und wohltuend.

»Ich helfe dir«, sage ich, packe meine Notizen weg, wasche mir die Hände und beginne, die Brötchen zu formen, genau so, wie es Hazel mir vor ein paar Monaten gezeigt hat. Jasper geht nach oben in sein Zimmer, kurz darauf dröhnt leise Musik durch die Zimmerdecke. Nur wenige Sekunden später folgt das Geräusch seines Boxsacks. Manchmal denke ich, dass das Boxen für ihn die einzige Möglichkeit ist, seine Gefühle irgendwie zu kontrollieren. Vielleicht ist der Boxsack für ihn, was meine To-do-Listen für mich sind … Ohne sie würde im Kopf pures Chaos ausbrechen und die Gefühle überkochen.

Ich seufze leise, konzentriere mich wieder auf den Teig in meinen Händen. »Das war eine gute Idee mit dem Video«, sage ich zu Hazel, denn ich ertrage die Stille nicht.

»Hoffen wir, dass es hilft. Es so hinzubekommen, wie wir uns das vorstellen, wird eine ziemliche Mammutaufgabe.«

»Das kriegen wir hin«, wirft Corey ein. Er trinkt sein Bier und geht dabei noch mal unsere Ideenaufzeichnungen durch. »Wir teilen die Aufgaben auf. Ich habe meine Vorstellungsgespräche alle erledigt und damit auch wieder mehr Zeit.«

Ich sehe zu ihm. »Wie sieht es denn an der Jobfront aus? Hast du inzwischen einen Plan, zu wem du gehen möchtest?«

»Ich habe deinen Tipp mit der Prioritätenliste umgesetzt. Meine erste Wahl wäre Validity

Kurz krame ich in meinem überfüllten Kopf nach den Informationen dazu. »In Toronto? Der CEO war auf der Wintergala, richtig?«

»Ich habe mich lange mit ihm unterhalten, und er war sehr angetan von meiner letzten Veröffentlichung. Offenbar jemand mit Geschmack«, feixt Corey. »Er war es, der mir nahegelegt hat, mich bei ihnen als Umweltbeauftragter zu bewerben.«

»Ziemlich große Nummer«, pfeift Hazel, die die ersten Teigknoten mit Margarine bestreicht.

»Die ich mir nicht entgehen lassen kann. Jetzt müssen sie mich nur noch wollen.« Ich forme das letzte Brötchen, Hazel pinselt es ein. »Mein Plan B wäre das Forschungsstipendium an der Bratt University, Master oder PhD. Aber eigentlich will ich endlich loslegen. Wirklich was für die Welt tun.«

»Verstehe ich, bei allem, was da draußen so los ist«, antwortet Hazel. »Habt ihr gehört, was im Klamath National Forest passiert ist?«

»Drei tote Berglöwen«, bestätigt Corey traurig. »Sie haben noch nicht die Ursache gefunden.«

Hazel nickt betroffen. »Dr Wesley hat in der Vorlesung gestern Thesen aufgestellt. Der Einfluss des Menschen … vielleicht auch die Veränderung des Klimas.«

»Wenn es so ist, könnte das auch im Modoc National Forest passieren«, überlege ich.

Der Gedanke ist beängstigend, immerhin arbeiten wir alle mit Hochdruck daran, diesen Fleck Erde zu schützen. Mit den Forschungen, unseren Exkursionen und Untersuchungen. Wenn das alles nicht ausreichen würde, wäre es ein Schlag ins Gesicht.

»Man fühlt sich hilflos, oder?«, meint Hazel.

Corey nickt stumm.

»Ein Grund mehr, für diese Videopräsentation alles zu geben«, sage ich verbissen. »Damit die LBU erhalten bleibt und wir weiterhin helfen können.«

Nach dem Abendessen sitze ich in meinem Zimmer auf dem Bett. Die Lichterketten, die weichen Kissen, die ich um mich herum verteilt habe, und das leise Rauschen des Windes sorgen für eine gemütliche Atmosphäre. Aber sie kann gegen den Sturm in meinem Innern nichts ausrichten. Mit müden Augen starre ich an die Decke und versuche alles loszulassen – die Sorgen um die LBU , die Ideen für unsere Videopräsentation, die Berglöwen, meine To-dos für morgen, Jaspers Probleme. Und immer wieder komme ich zu meinen eigenen. Zu den Gedanken, die seit knapp drei Jahren in meinem Kopf Karussell fahren. Abend für Abend. Erst dachte ich, mit der Trennung von Mark würde es endlich aufhören und ich könnte in Ruhe weiterleben. Aber die Gedanken nahmen zu, wurden noch zerstörerischer, und ich hasse es, dass die Erinnerungen an damals sich nicht einfach abschütteln lassen. Ich hasse es, dass ich wegen ihnen immer noch nicht schlafen kann. Zu gerne würde ich das alles endlich hinter mir lassen, die Beziehung einfach als schlechte Erfahrung abtun und weitermachen. Aber ich kann es nicht. Weil die quälende Frage, wie ich es habe so weit kommen lassen und wie ich mich in meiner ersten Liebe so derart verlieren konnte, immer wieder Kreise in meinem Kopf zieht. Weil die Antworten darauf zu wichtig sind, um einfach weitermachen zu können. Um mich in Zukunft zu schützen. Vielleicht auch, um mich nicht so schuldig zu fühlen, dass ich die Beziehung nicht früher beendet habe. Und so drehen sich die Gedanken weiter und weiter und weiter. Das Karussell hält niemals an.

Liebes Tagebuch,

ich war fünf Jahre alt, als ich das erste Mal von einem Prinzen geträumt habe. Einem mit weißem Pferd und stolzer Haltung, der durchs Feuer laufen und mit bösen Hexen kämpfen würde, nur um mich zu retten. Jahrelang habe ich mich, verblendet von den vielen Filmen, die ich als Kind so geliebt habe, nach ihm umgesehen: dem Einen. Dem, der mein Herz höherschlagen lässt und alles hat, was ich mir immer erträumt habe.

In der Realität kam der Prinz nicht auf einem weißen Pferd daher. Er rannte auf dem Schulhof in mich hinein. Und auch wenn es nicht wie in meinen liebsten Disneyfilmen war, kam es mir magisch vor, als ob das Schicksal uns zusammengeführt hätte. Ich war fünfzehn, ich war unerfahren, und ich legte all meine Hoffnung in ihn. Mark Avery. Er war fast zwei Jahre älter als ich, ging auf dieselbe Highschool und war mir dennoch vorher nie aufgefallen. Als ich ihm an jenem Tag in die Augen blickte – in diese unglaublich braunen, treuen Augen, umrandet von dunklen Wimpern –, war ich mir sicher, meinen Prinzen gefunden zu haben. Erst recht, als er mich kurz darauf zu einem Date einlud. Es war wohl der Moment, in dem ich entschied, alles dafür zu geben, dass es klappen würde. Das mit ihm und mir und der großen Liebe.

Hätte ich doch nur gewusst, dass dieser Traum vom Prinzen immer nur eine Illusion war. Ich war keine Prinzessin, keine holde Maid, die gerettet werden musste, und er war ganz sicher nicht der Held, der mir die Welt zu Füßen legte. Er war derjenige, der sie auf den Kopf stellte. Nicht nur meine Welt. Auch mich. Meine Gefühle, Gedanken. Mein Lachen. Meine Unbeschwertheit. Alles, was mich ausmachte.

Hätte ich nur mit fünfzehn schon gewusst, was ich heute weiß. Mark Avery war in meinem persönlichen Disneyfilm nicht mein Retter … Vielmehr nahm ich einen vergifteten Apfel von ihm an, biss herzhaft hinein und fiel danach in eine Art Tiefschlaf. Für lange drei Jahre, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Als ich aufwachte, war ich nicht mehr dieselbe. Alles, was ich früher einmal geliebt hatte, stellte ich plötzlich infrage: das Nähen, meinen Körper, meine Ziele, alle Aspekte meiner Persönlichkeit. Bei allem, was ich tat, schaute ich plötzlich auf die Reaktionen anderer. Wurde leiser, nachdenklicher. Ich behielt meine Gefühle für mich, denn wie konnte ich schon ausdrücken, was mit mir in diesen drei Jahren passiert war, wenn ich es selbst nicht verstand? Wie sollte ich erklären, dass ich mich für einen Mann verändert hatte und mich nun selbst nicht wiederfand? Dass ich nicht mal mehr in den Spiegel blicken konnte, ohne mich klein, verletzlich und verdreht zu fühlen. Deswegen begann ich, alles durch Arbeit zu kompensieren. Weil nur das half, irgendwie Ordnung in dieses Chaos zu bringen und die Erinnerungen an Mark zu verbannen.

Und nun? Nun glaube ich nicht mehr an Prinzen. Oder an Märchen. An die große Liebe.

Oder an mich.