Kapitel 7

D as Außengelände der LBU , das sonst durch Weitläufigkeit und die Nähe zur Natur punktet, ist heute mit Tischen für die Tauschbörse zugestellt. Jasper, Lewis und Corey haben sie hierhergeschleppt und sitzen nun nach Luft ringend auf einer der Holzbänke, während Hazel und Reese Nummern an die Tische kleben und ich die Anmeldeliste durchgehe. Das Wetter spielt mit, Mr Peterson hat uns die Möbel organisiert, und ein Drittel aller Studierenden hat sich angemeldet. Die Tauschbörse kann eigentlich nur ein Erfolg werden!

Die ersten Leute kommen bereits an, beladen mit Sachen, die sie loswerden wollen. Ich weise ihnen ihre Plätze zu. Mein eigener ist längst bestückt mit allem, was ich ausrangiert habe: Ketten, Ohrringe, Broschen. Ein paar Stricknadeln, weil ich zwar das Nähen liebe, mir für das Stricken jedoch jegliche Geduld fehlt. Ein paar Liebesromane und Lehrbücher sowie ein paar graue Boots, die mir nicht mehr gefallen und die hoffentlich eine neue Besitzerin finden.

Eine Stunde später ist das Gelände brechend voll. Überall streifen Menschen zwischen den Tischen umher und betrachten die ausgestellten Gegenstände, probieren Kleider und Schmuck an.

»Stehen mir die?«, fragt eine Studentin, die ich möglicherweise schon einmal zusammen mit Hazel gesehen habe. Sie hält die kupferfarbenen Perlenohrringe in die Höhe, die ich mir letztes Jahr im Herbst auf einem Markt in Juniper mitgenommen habe, nur um dann festzustellen, dass Kupferrot nicht meine Farbe ist. Zu den dunkelbraunen Haaren der Studentin passen sie jedoch perfekt.

»Die sehen toll an dir aus«, sage ich lächelnd. »Guck mal, ich habe dahinten noch eine passende Kette.«

Reese kommt zu mir hinter den Stand, in der Hand bereits ein Buch, das sie von Lewis ergattert hat. »Sieht gut aus, Jeannie.«

»Danke. Dann würde ich sie gerne nehmen.«

»Gute Entscheidung.«

»Und du bist sicher, dass du nichts dafür haben willst?« Jeannie streichelt träumerisch über die Ohrringe, was mir das Herz geradezu erwärmt. Ich konnte es noch nie ertragen, wenn Accessoires vergessen in einer Schatulle liegen, anstatt ausgeführt und gesehen zu werden.

»Ich möchte nichts dafür, das ist ja Sinn und Zweck des Ganzen. Wenn du trotzdem etwas geben möchtest: Bei meinem Freund Corey an Tisch drei findest du eine Sparbüchse, und er verkauft dort Getränke. Sämtliche Einnahmen gehen an das Spendenkonto der LBU und kommen also direkt der Uni zugute.«

»Klasse.« Sie zieht die Ohrringe gleich an. Dann winkt sie uns zu und verschwindet wieder in der Menge.

»Du hast bisher nur ein Buch gefunden?«, frage ich Reese. Gerade bei ihr hatte ich mir eigentlich eine größere Ausbeute erhofft.

»Ich dachte, Hazel und du hätten vielleicht Lust mitzukommen und mir bei der Suche zu helfen? Zu dritt macht das doch irgendwie mehr Spaß.«

»Gerne. Hey, Jasper!«, rufe ich und drehe mich um. Er sitzt am Tisch von Lewis und Hazel. »Kannst du mal für eine halbe Stunde meinen Stand übernehmen? Wir wollen mal schauen, ob etwas für uns dabei ist.«

Jasper schlendert zu mir rüber. Einige Blicke folgen ihm. Früher hätte ich sie als Komplimente aufgefasst, weil es eine weitverbreitete Meinung ist, dass Jasper gut aussieht. Doch diesmal erkenne ich kein interessiertes Funkeln in den Augenpaaren. Nur Neugier und ein wenig … Schadenfreude? Vielleicht, weil es das erste Mal ist, dass Jasper wieder auf einer Veranstaltung der Uni ist – oder sich überhaupt mal wieder außerhalb der Vorlesungen in der Öffentlichkeit zeigt. Vielleicht ist es doch noch zu früh?

»Das ist doch okay, oder?«, frage ich zögerlich. »Sonst kann ich auch jemand anderen darum bitten.«

Jasper winkt ab. »Ich schaffe das schon. Ich wusste ja, was mich hier erwartet.«

Es klingt nicht wirklich überzeugend, aber sein Blick lässt keine Widerworte zu. Er hat sich bereits auf meinen Platz gesetzt, ein Bein über das andere gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt, als würde ihn das alles hier eher langweilen.

»Wenn’s dir doch zu viel wird, schreib mir einfach, und dann kommen wir zurück. Aber wir bleiben auch nicht lange weg.«

»Rohes Ei«, murrt Jasper, und ich weiß sofort, was er meint.

»Das nennt man Freundschaft«, erwidere ich. »Aber ich gehe ja schon.«

Wir sammeln noch Hazel ein, dann stürzen wir uns ins Getümmel. Ich probiere Hüte und Schals an, Reese geht auf die Suche nach Fachbüchern, und Hazel bummelt von Stand zu Stand und ist dabei die langsamste von uns dreien. Am Ende findet Reese tatsächlich ein paar Bücher von ihrer Liste und rote Sneakers, die perfekt zu dem Sweatshirt passen, das ich ihr genäht habe. Hazel hingegen nimmt einen kuschligen weißen Cardigan mit, während ich einige neue Ketten und eine Gürtelschnalle finde, die ich in Gedanken schon zu meinen Blusen kombiniere.

»Wie findest du den?«, fragt Hazel an Reese gewandt und hält einen dunkelblauen Kapuzenpullover hoch. »Den kann ich mir gut an dir vorstellen.«

Reese hält ihn sich an, wir nicken begeistert.

»Cool. Den nehme ich.«

»Hey, Lou.« Ein paar meiner Kommilitoninnen kommen auf mich zu, die Hände voller gebrauchter Bücher. »Diese Idee mit der Tauschbörse ist toll. Meinst du, dass wir das öfter machen könnten?«

»Wenn die Leute hiernach noch etwas zu tauschen haben«, scherze ich. »Mr Peterson war auch angetan von der Idee. Wenn dann noch eine kleine Spendensumme für die LBU herauskommt, ist er sicher bereit, das Ganze noch mal zu wiederholen. Vielleicht zweimal im Jahr.«

»Das wäre klasse«, sagt Reese, den Kapuzenpullover nun in der Tragetasche bei den anderen Sachen. Nur ein Ärmel guckt heraus.

»Gerade für die, die kein Stipendium haben, ist das hier Gold wert«, sagt eine Studentin, die ich nicht kenne.

»Ach, bei Red wird doch sicher bald ein Platz frei, oder?«, fragt jemand anderes.

Hazel, die gerade in einer Kiste mit Büchern stöbert, sieht auf. »Wegen Corey? Ja, er ist bald mit dem Studium fertig.«

»Nein. Wegen Jasper. Wenn das mit dieser Professorin wirklich stimmt, wird er doch sicher nicht mehr lange bei Red bleiben.«

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Hier, vor allen? Ich will etwas erwidern, doch eine andere Studentin ist schneller als ich.

»Schon krass. Ich wusste immer, dass Jasper nichts anbrennen lässt. Aber eine Professorin?«

»Er ist kein Womanizer«, sagt Hazel bissiger, als es sonst ihre Art ist. Ich kann es ihr nicht verübeln. Ich selbst muss mich gerade zusammenreißen.

»Er hatte doch etwas mit Quinn Stevens aus dem Hopes’ Inn . Und mit Savannah Brown.«

Hazel, Reese und ich tauschen Blicke. Wir alle wissen inzwischen, dass Jasper Maggie wirklich geliebt hat, aber es ist nicht unsere Aufgabe, die anderen darüber aufzuklären. Es geht sie auch nichts an. Was ich jedoch nicht stehen lassen kann, sind diese ewigen Lästereien über ihn.

»Ihr könnt so viele Gerüchte über Jaspers Liebesleben streuen, wie ihr wollt«, sage ich und versuche dabei, das leichte Zittern meiner Stimme zu kontrollieren. Das alles hier ist so frustrierend. Es macht mich wütend und müde, und das ist sicher nur ein Bruchteil dessen, was Jasper empfindet. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er sich seinen Platz bei Red auf ehrlichem Weg verdient hat und er diesen auch nicht so schnell räumen wird.«

»Genau«, bestätigt mich Hazel.

»Gibt es denn keine spannenderen Themen?«, fragt Reese genervt.

»Umweltschutz, zum Beispiel«, zischt Hazel. »Halb Australien verbrennt gerade in Buschfeuern. Und das ist nur der Anfang, und wir sind doch alle hier, weil wir diese Dinge aufhalten wollen. Können wir uns nicht darauf konzentrieren?«

Einige Umstehende nicken, eine der Studentinnen aus meinem Tutorenprogramm sieht schuldbewusst zu Boden.

»Sorry, Lou. Ich wollte mich da nicht einmischen.«

»Ich bin es nicht, die eure Entschuldigung hören sollte. Hört einfach auf mit diesem Gerede.«

Wieder ein Nicken.

»Gut. Dann suchen wir jetzt weiter nach Sachen für uns«, sage ich und hake mich bei Reese und Hazel unter.

»Viel Erfolg«, murmeln einige, noch etwas zerknirscht.

»Vergesst nicht, etwas in die Sparbüchse an Tisch drei zu werfen. Für Mr Petersons Motivation, so was noch mal zu genehmigen!«, ruft Reese ihnen hinterher, als wir bereits auf dem Weg zum nächsten Stand sind.

Wir wühlen uns weiter durch das Angebot und finden noch eine verwaschene Jeansjacke für Reese. Sie fällt ein wenig zu groß aus, aber mit ein paar Abnähern und versetzten Knöpfen sollte es ein Leichtes sein, die Jacke anzupassen.

Nachdem wir festgestellt haben, dass es bei den letzten beiden Tischen nichts gibt, was uns gefällt, gehen wir zurück zu meinem Stand. Ein Stand, der wesentlich leerer geworden ist. Nur ein paar Bücher und ein paar Strickutensilien sind noch da.

Schon vor meiner Ankunft spüre ich sie: die Blicke. Wie ein Verfolger sitzen sie mir im Nacken, und doch weiß ich, dass sie nicht mir gelten. Mich nur zufällig treffen. Das eigentliche Ziel sitzt hinter meinem Stand, ein wenig blasser als sonst, den Kiefer zusammengepresst, während er auf die Tischplatte starrt.

»Scheiße«, murmle ich den anderen zu. »Das lief für Jasper, glaube ich, nicht so gut.«

»Verdammte Hyänen«, kommentiert Reese und sieht zu den anderen, die offensichtlich über ihn reden. Immerhin ist keine der Studentinnen dabei, die wir eben darauf angesprochen haben.

»Da sind wir wieder«, sage ich, bemüht, Jasper nicht zu sorgenvoll anzusehen, was den anderen beiden nicht gelingt. »Wie ich sehe, waren meine Sachen recht beliebt.«

»Allerdings, hier war viel los.«

Lewis kommt zu uns. »Unser Stand ist schon leer gefegt.«

»Wahnsinn. Das ging schnell«, sagt Hazel.

»Wir haben wohl einfach einen guten Geschmack.«

»Ich habe was für dich.« Hazel holt das Lederarmband hervor, das sie an einem der Stände gefunden hat, und legt es Lewis um. Er betrachtet es, als wäre es das Kostbarste der Welt. Mein Herz wird gleichzeitig warm wie auch schwer, weil ich mich so sehr für die beiden freue, es mir jedoch auch vor Augen führt, dass ich selbst noch nie so angesehen wurde. Als wäre man alles für den anderen. Vollkommen richtig, so wie man ist.

Ich sehe weg und blicke direkt in Jaspers blaue Augen, die mich mustern, als wären mir meine Gedanken ins Gesicht geschrieben.

»Alles klar?«, fragt er.

Ich lasse mich neben ihm auf den Stuhl plumpsen und sehe ihn missmutig an. »Wenn ich nicht fragen darf, darfst du auch nicht.«

»Ich dachte, nachzufragen nennt sich Freundschaft?«

»Es nicht zu tun manchmal auch«, erinnere ich ihn. »Rohes Ei, schon vergessen? Und ich bin auch keins.«

Er lächelt schwach. »Es ist nicht fair, wenn du meine eigenen Sprüche gegen mich verwendest.«

»Das hier ist einfach nicht der Ort, um tiefgründige Gespräche über mein Innenleben zu führen«, flüstere ich mit Blick auf die Leute um uns herum.

Jasper nickt wissend. »Da gebe ich dir recht.«

Reese schnappt sich in diesem Moment eines meiner Bücher. »Darf ich das auch noch haben?«

»Nimm dir alles, was du gebrauchen kannst.«

»Ganz schöne Ausbeute hast du da«, meint Jasper und zeigt auf Reese’ prall gefüllten Beutel. Kurz darauf beginnen die beiden, über das Fachbuch in ihren Händen zu sprechen. Ich hingegen sitze auf meinem Stuhl, starre auf eine der Kiefern und frage mich, ob dieses Arrangement, das ich neuerdings mit Jasper habe, gut ist. Schwierige Themen nicht anzusprechen und dennoch die Stimmung des anderen zu spüren. Es ist verbindend und gleichsam entzweiend, weil wir beide um die Probleme des anderen wissen, ohne dass wir wirklich darüber reden. Schwere und Leichtigkeit direkt nebeneinander. Das Gefühl von Verdrängung, das mir so vertraut ist und mich gleichzeitig stört, weil ich es doch eigentlich besser wissen sollte.

Später stehe ich regungslos vor Jaspers Tür. Aus seinem Zimmer dringt leise Musik, die traurig und melancholisch klingt. Alles um uns herum ist still, der Flur liegt in Dunkelheit, weil es mitten in der Nacht ist. Wieder sind wir zwei Nachteulen übrig, die keine Ruhe finden. Die letzte halbe Stunde habe ich damit verbracht, eine neue Skizze anzufertigen, aber es war nicht genug Ablenkung, um meinen Kopf wirklich abzuschalten. Nun überlege ich, bei Jasper anzuklopfen und mit ihm zu reden. Meine Gedanken und die Gründe für meine schlaflosen Nächte einfach mal auszusprechen.

Aber das würde auch bedeuten, Mark und allem, was ich erlebt habe, allem, was ich mit mir herumschleppe, Raum zu geben. Es ist die Büchse der Pandora. Öffne ich sie einmal, bekomme ich sie vielleicht nie wieder zu.

Ich schüttle den Kopf, zwinge mich zum Weitergehen – runter in die Küche, um zu backen. Um mal wieder eine Nacht durchzumachen und zu verdrängen. Weil es einfacher ist. Weniger schmerzhaft. Ungefährlicher.

Doch als ich am Küchentisch sitze, hole ich nur mein Tablet hervor und starre auf Punkt fünf der Liste, inzwischen doppelt umkreist und dennoch nicht umgesetzt. Eine Ideenliste für mehr Leichtigkeit. Ich nehme meinen Stift, umkreise den Punkt ein drittes Mal, auch wenn es langsam lachhaft wird. Früher konnte ich es doch auch. Ich habe über den Tellerrand geschaut, habe Neues ausprobiert, war freier, offener, neugieriger. Ich bin ins Theater gegangen, habe sogar einen Kochkurs belegt. Aber das waren Aktivitäten, die ich mit Mark zusammen unternommen habe und die mich nun wie gelähmt zurücklassen würden. Als hätte er vor fünf Jahren einen Giftpfeil auf mich geschossen, dessen Wirkung ich noch immer spüren kann.

Ich brauche irgendetwas, das ich nicht mit ihm in Verbindung bringe. Irgendetwas Neues, etwas, das er mir nicht nehmen kann. Kurzerhand öffne ich Google und sehe nach, welchen Aktivitäten man in Lullaby und Umgebung nachgehen kann, um Punkt fünf meiner Liste endlich ernster zu nehmen und eine Liste mit Aktivitäten aufzustellen. Ich muss endlich etwas verändern. Auch wenn ich noch nicht weiß, ob meine Kraft dazu ausreicht, solange Marks Gift mir noch immer durch die Adern fließt.