Kapitel 8

I n der kommenden Woche ist von Leichtigkeit nichts zu spüren, denn ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Wir haben gleich zweimal ein Meeting beim Dekan, um unsere Idee von der Videopräsentation vorzustellen und uns anhand der eingereichten Drehpläne Instruktionen von ihm zu holen. Das alles geschieht neben den Prüfungsvorbereitungen für die Midterms, sodass wir bei Red kaum dazu kommen, zusammen zu Abend zu essen oder uns auch nur regelmäßig zu Gesicht zu bekommen. Ich bin selten zu Hause, weil ich zusätzlich auch noch meine Schützlinge aus dem Tutorenprogramm unterstützen muss. Auch jetzt sitze ich wieder mit ihnen zusammen und gehe mit einigen die Antworten aus ihrer ersten Prüfung durch. Für viele ist es, besonders im ersten Semester, beruhigend, die Prüfungen nachzubesprechen, um ihre Leistungen besser einschätzen zu können. Ich selbst tue das selten. Nicht, weil ich meine Leistung nicht einschätzen will, sondern weil ich ab dem Moment, in dem ich den Prüfungsbogen abgebe, gedanklich schon bei der nächsten Prüfung bin. Einen Schritt nach dem anderen.

Meine Prüfung in Umweltmanagement ist bereits geschafft. Die nächste Prüfung ist erst in vier Tagen, auch wenn ich bis dahin noch an einer Hausarbeit feilen muss. Der Grundstein ist bereits gelegt, entstanden in einer meiner letzten Nachtschichten. Aber es gibt immer Verbesserungspotenzial.

»In drei Tagen habt ihr die nächste Prüfung?«, frage ich meine Schützlinge.

Carlos, der nur selten bei meinen Tutorenstunden ist, nickt. »Aber ich muss auch noch an der Hausarbeit für Dr Wesley schreiben. Ich habe gehört, er ist streng.«

»Nur gründlich«, beruhige ich ihn. »Ihm ist ein ordentlicher Quellennachweis wichtig. Und ein persönliches Fazit. Wenn ihr da nicht schlampt, ist das die halbe Miete.«

Carlos und zwei andere notieren sich meine Anmerkungen.

»Wenn ihr unsicher seid, könnt ihr eure Entwürfe gerne zur nächsten Stunde mailen. Dann gehen wir alles durch.«

»Das wäre klasse.«

»Danke. Du bist die beste Tutorin hier. Wirklich.«

Ich lächle Penny an. Bei ihr weiß ich, dass das Kompliment wirklich ernst gemeint ist.

Ein paar Minuten widme ich mich noch den Fragen und Unsicherheiten, ehe ich schließlich die Sitzung beende. Meine To-do-Liste wartet, ganz oben darauf Reese’ Jeansjacke, die mein aktuelles Abend-Projekt ist.

Die anderen sind noch auf dem Campus, und so habe ich unser Wohnhaus für mich. Ich mache mir einen Kamillentee, gehe damit hoch in mein Zimmer und setze mich an den Nähtisch. Dort liegt die Jeansjacke, auf der ich gestern schon die geplanten Abnäher mit Schneiderkreide aufgemalt habe. Ich betrachte die trapezförmigen Linien, nicke zufrieden und mache mich an meiner Nähmaschine zu schaffen, löse die Schraube und lockere die Nähnadel, um sie durch eine Jeansnadel zu ersetzen. Aus meiner Schublade hole ich passendes Nähgarn. Ich will es gerade einfädeln, als ich Geräusche höre. Erst ein Poltern, dann einen Schrei. Gedämpft dringt er durch die Wände, und ich weiß sofort, zu wem dieser Schrei gehört. Ich lasse das Garn fallen und eile in die erste Etage, bis ich vor Jaspers Zimmer stehe. Ich weiß nicht, wann er wiedergekommen ist oder ob er doch schon die ganze Zeit hier war, aber aus seinem Zimmer dringt erneut ein Schrei. Dazu höre ich die Geräusche seiner Boxhandschuhe, die den Sandsack bearbeiten. Einmal, zweimal. Wieder ein Schrei. Verschluckt von Tränen, so wie es sich anhört.

Ich weiß, dass er von mir erwartet, einfach wieder nach oben zu gehen und so zu tun, als würde ich nichts mitbekommen. Aber diesmal schaffe ich es nicht.

»Jasper?« Zögerlich klopfe ich an und öffne die Tür. Es ist lange her, dass ich das letzte Mal hier drin war, und wesentlich unordentlicher als zuvor. Als hätte sich das Chaos in seinem Inneren auf das Äußere übertragen. Überall liegen Unterlagen für die Uni, Boxbandagen, benutzte Teller. Auf seiner Matratze liegen Zeitungsartikel und Papiere, Maggie Ganes und ihre einnehmenden Augen sehen mir entgegen und verknoten meinen Magen. Mir war nicht klar, dass Jasper diese Zeitungsartikel hat … er sie sich ansieht. Vermutlich ist es nur natürlich und ein wichtiger Umgang mit seinem Verlust, aber allein die Vorstellung, dass er allein in diesem Zimmer sitzt und diese Fotos anstarrt, schnürt mir die Kehle zu.

Jasper steht da, die Hände noch in den Boxhandschuhen, sein Shirt voller Schweißflecken. Als ich näher komme, ist es jedoch nicht nur Schweiß, den ich von seinen Wangen herunterlaufen sehe. Er mischt sich mit Tränen, seine Augen sind rot und geschwollen. Es lässt mich schwer schlucken, mich zehn Tonnen schwerer fühlen.

»Ich weiß«, sage ich vorsichtig, »wir haben eine Vereinbarung. Aber du machst dich kaputt.«

Jasper widerspricht mir nicht, sagt mir nicht, dass ich wieder gehen soll. Aber er sieht mich auch nicht an. Ich trete noch ein wenig weiter vor, stehe nun direkt hinter ihm. Sehe den dunklen Boxsack, an dem er tagein, tagaus seinen Kummer auslässt. Seine Gefühle, die er außerhalb dieses Zimmers nie richtig zulässt. Immer mit sich herumschleppt.

Seine Schultern beben, als ich meine Hand darauflege.

»Was ist passiert?«, flüstere ich.

Keine Antwort. Ich weiß nicht, ob ich weitersprechen oder gehen soll. Weiß nicht, was er will.

»Was immer es ist«, fahre ich fort. Ein letzter Versuch. »Du kannst mit mir reden …«

Jasper holt aus, seine Faust prallt gegen den Boxsack, der mit einem lauten Geräusch nach hinten schwankt. Ich erschrecke mich, als Jasper einen Schrei herauslässt. Laut. Herzzerreißend. Er dringt durch jede Faser meines Körpers, frisst sich in mein Gehirn, um für immer dort gespeichert und abgespult zu werden.

Ich gehe einen Schritt zurück. Jasper schlägt weiter auf den Boxsack ein. Eine Faust nach der anderen. Rechts, links, rechts, links. Immer lauter, immer fester. Trotzdem höre ich sein Schluchzen. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, deute seine Reaktion jedoch als Zeichen, mich wieder zurückzuziehen. Als wäre jeder Schlag von mir und meinen Worten ausgelöst und seine Antwort auf mich. Ich blinzle eine Träne weg, die sich den Weg in meinen Augenwinkel bahnt. Dann drehe ich mich um, gehe zur Tür. Qualvolle Schritte, aber ich werde mich nicht aufdrängen. Werde ihn nicht zwingen, sich mir zu öffnen.

Ich greife nach der Türklinke, als die Schläge verstummen. Jasper schnieft.

»Ich versaue gerade alles«, sagt er leise, mit brüchiger Stimme.

Als ich mich wieder umdrehe, sieht er mich an.

»Was versaust du?«, frage ich sanft.

»Mein ganzes Leben. Meine Zukunft.«

»Wieso sagst du das? Du versaust doch nichts …«

»Die Prüfung heute schon«, presst er hervor. »Die Gala. Das Ansehen von Mr Peterson und damit alle meine Pläne. Meinen Ruf an der Uni. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich’s mir mit euch versaue. Weil ich ständig so drauf bin. So … scheiße.«

»Das ist nicht wahr«, erwidere ich und gehe auf ihn zu. »Du machst es uns gerade nicht leicht, aber wir alle haben diese Momente. Momente, in denen wir Freundschaft nicht immer annehmen oder zurückgeben können. Wir verstehen das. Wir wissen doch, was du durchmachst.«

Jasper nickt vorsichtig, doch seine Tränen verebben nicht.

»Das mit Mr Peterson bekommst du auch wieder hin«, fahre ich fort. »Mit dieser Videopräsentation wirst du ihn wieder auf deine Seite ziehen und das mit der Wintergala endgültig wiedergutmachen können. Das, was wir planen, ist doch genau dein Ding. Charme ist deine Superkraft.« Mein Plan, ihn mit dem letzten Satz aus der Reserve zu locken und aufzumuntern, funktioniert nicht.

»Aber er verlangt jetzt mehr von mir«, sagt Jasper düster. »Mehr als sonst. Und diese Prüfungen …«

»Du hast sie verhauen, glaubst du? Aber es war doch nur die erste Prüfung. Es folgen noch so viele Fächer. Und die Hausarbeiten.«

»Aber ich kriege es, verdammt noch mal, nicht hin«, presst er hervor. »Diesmal nicht. Sonst konnte ich immer mühelos lernen, es mir ein, zwei Mal durchlesen, und schon saß der Stoff. Aber mit allem, was geschehen ist, mit den schlaflosen Nächten, diesen Erinnerungen an Maggie und allem … da ist irgendwie kein Platz in meinem Hirn. Ich bekomm’s nicht rein«, stößt er aus, seine Faust trifft auf den Boxsack. »Egal, wie viel ich lerne, egal, was ich tue. Sie ist in meinem Kopf!« Vielleicht sollte mir die Intensität seiner Stimme Angst machen, doch in Wahrheit lässt sie mich nur ohnmächtig zurück, weil ich genau weiß, dass er Maggie meint, und es mir für ihn so leidtut, was er durchmacht. »Sie ist immer da, immer präsent. Egal ob ich mich damit aktiv beschäftige, um zu verarbeiten, oder ob ich versuche zu vergessen. Ich werde es nicht los und ich ertrage es nicht. Ich ertrage es nicht, diese ständigen Fragen in meinem Kopf zu haben. Diese Ungewissheit, dieses bleierne Gefühl von Verrat!«

»Was meinst du damit?«, frage ich irritiert.

Von welchem Verrat spricht er?

Doch Jasper geht nicht darauf ein, schlägt nur wieder zu, sackt noch ein wenig mehr in sich zusammen. »Ich kann mich nicht konzentrieren, und deswegen war diese eine Prüfung nur der Anfang. Die anderen werde ich genauso verkacken, und wenn meine Noten einmal abfallen, ist das nur der letzte Tropfen in ein Fass, das für Mr Peterson ohnehin schon überläuft. Das wird er mir nicht durchgehen lassen.«

Jedes von Jaspers Worten wirkt ernst. So ernst, dass ich schlucke, obwohl sich längst ein Kloß in meinem Hals gebildet hat. Auch wenn ich seine Worte über Maggie noch nicht greifen kann, ist das Fazit durchaus bei mir angekommen. Das hier ist keiner dieser Momente, in denen ein Student sagt, er habe eine Prüfung verhauen, und dann doch eine gute Note erhält. Es ist keine Versagensangst, sondern pure Verzweiflung. Verzweiflung, die sich vermutlich schon seit Wochen aufgestaut hat und nun überläuft wie das Fass, das Jasper eben beschrieben hat.

Ich richte mich etwas auf. »Dann lerne ich mit dir«, schlage ich vor, ebenso ernst.

Jasper schüttelt den Kopf, kaum dass ich es ausgesprochen habe. »Das kann ich nicht von dir verlangen.«

»Du verlangst gar nichts von mir. Ich biete es dir an.«

»Du hast genug zu tun. Du musst dich auch auf deine eigenen Prüfungen vorbereiten. Und dann deine ganzen Extraaufgaben. Du hast keine Zeit dafür.«

»Darf ich das vielleicht selbst entscheiden? Du redest hier mit der Königin der Organisation. Ich weiß sehr wohl, was ich mir noch zutrauen kann und was nicht.«

Jasper schüttelt erneut den Kopf. »Ich schaffe das schon. Danke für dein Angebot, aber es ist echt nicht dein Problem.«

»Wieso kannst du nicht einfach meine Hilfe annehmen?«, frage ich resigniert.

»Weil ich kein rohes Ei bin.«

»Jetzt hör doch endlich mit diesen Eiern auf!«

»Ich will für keinen ein Pflegefall sein!«, schreit er förmlich.

Ich möchte ihn am liebsten schütteln, weil er so dermaßen stur ist. Gleichzeitig will ich gehen, will ihn einfach stehen lassen, weil seine Abfuhr tatsächlich schmerzt. Weil wir doch Freunde sind und Freunde sich gegenseitig unterstützen. Aber genau das ist der Grund, wieso ich es nicht ertrage, den Raum zu verlassen. Es nicht ertrage, ihn im Stich zu lassen.

»Was, wenn du nicht der einzige Pflegefall bist?«, bricht es aus mir heraus. »Was, wenn ich genauso deine Hilfe brauche wie du meine?«

Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Irritiert sieht er zu mir. »Wie meinst du das?«

»Ich will lernen, abzuschalten«, gebe ich zu und bekomme damit seine volle Aufmerksamkeit, obwohl meine Worte ein schwaches Flüstern sind. Ich fühle mich plötzlich sehr verletzlich. Auf einmal kommt mir der Vergleich mit dem rohen Ei gar nicht so abwegig vor. Eine falsche Reaktion von Jasper, und meine Schale wird unwiderruflich zerstört.

»Abschalten?«, wiederholt Jasper verwirrt. »Das verstehe ich nicht … du weißt doch, wie das geht.«

»Weiß ich das? Alles, was ich tue, ist geplant. Routiniert. Immer dieselben Aktivitäten in einer vorgefertigten Reihenfolge, immer meine To-dos im Kopf. Ich bin gefangen in meinem Alltag und meinen Routinen, und selbst bei Dingen, die mir eigentlich Spaß machen sollten, denke ich darüber nach, was ich noch alles zu erledigen habe. Ich kann mich nicht entspannen. Nie.«

»Okay, das ist traurig.«

»Sag ich ja. Ich muss raus aus meiner Komfortzone, und dabei musst du mir helfen.«

»Aber wieso gerade ich?«

»Weil wir offenbar im selben Boot sitzen. Sei mir nicht böse, aber du wirkst zurzeit auch nicht gerade so, als würdest du wirklich Spaß haben. Wir beide haben ein Problem, das wir allein nicht bewältigen können. Sag jetzt nicht wieder, dass du es hinbekommst, denn danach sieht es nicht aus.«

Jasper blickt auf seine Boxhandschuhe. »Da hast du vermutlich recht.«

»Also, haben wir einen Deal?«

Er zögert, mustert mich. Ich halte seinem Blick stand, sehe ihn ein wenig trotzig an, aber vor allem entschlossen. Meine Wangen fühlen sich heiß an vor Verlegenheit, weil ich meine Probleme das erste Mal offen ausgesprochen habe. Weil ich nicht einschätzen kann, was er wirklich darüber denkt. Aber es fühlt sich gut an, ihn eingeweiht zu haben. Diesem wochenlangen wortwörtlichen Eiertanz ein Ende zu bereiten und endlich Klartext zu reden.

»Okay«, sagt er nach einer gefühlten Ewigkeit. »Deal.«