N ervös ist kein Ausdruck für das, was ich empfinde, während ich mit Jasper im Bus sitze. Ich bin ein noch größeres Nervenbündel als bei unserem letzten Ausflug, denn da wusste ich immerhin, dass es sich um einen normalen Ausflug handeln würde. Mit ein paar meiner designten Klamotten im Gepäck, bin ich mir nun ganz und gar nicht sicher, was mich erwarten wird. Und Jaspers zufriedenes Lächeln hilft mir auch nicht weiter.
Wir steigen an der Haltestelle in Juniper aus, Jasper zieht den Koffer mit meinen Kleidungsstücken hinter sich her. In der größten Stadt in Lullabys Umgebung gibt es eine Shopping Mall, ein paar Restaurants und Bars sowie ein richtiges Nachtleben, das man in Lullaby vergeblich sucht.
Jasper steuert zielsicher die Mall an. Schon ragt sie mit dunkelblauem Anstrich vor uns auf und verspricht ein unvergessliches Shoppingerlebnis auf zwei Stockwerken. Hier finden sich Essensstände, Modeläden, eine Zoohandlung und sogar ein Geschäft für Stoffe und Nähzubehör, in dem ich ab und zu stöbere. Er hat doch nicht vor, meine Sachen Gina, der Verkäuferin, zu zeigen, oder? Gina ist nett, sie würde sie sicher wertschätzen, egal, was sie in Wahrheit von meiner Kollektion dächte.
»Warte kurz«, bittet mich Jasper und hält vor einem Donut-Stand inmitten der Mall an. »Ich bin gleich zurück.«
Ich habe es aufgegeben, ihn zu fragen, was er vorhat. Er will mich schließlich überraschen. Trotzdem wundere ich mich, als er mich einfach stehen lässt und samt Koffer aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich scanne mein Umfeld ab. Eine Frau mit Kinderwagen, ein Vater, der mit seiner kleinen Tochter ein Eis isst. Ein paar Leute in meinem Alter, die Smoothies trinken und sich gegenseitig aufziehen. Wie jedes Wochenende ist die Mall voller Menschen. Leise Musik dringt aus den Läden, dazu mischt sich die Geräuschkulisse der Unterhaltungen. Mir ist die Mall manchmal zu viel, aber heute lasse ich mich einfach darauf ein. Kurz entschlossen kaufe ich mir einen Donut mit dunkler Schokoglasur und Oreo-Krümeln, der nicht nur himmlisch duftet, sondern auch unglaublich gut schmeckt. So genieße ich die Wartezeit und halte immer wieder Ausschau nach Jasper, sehe ihn jedoch nicht. Dabei warte ich inzwischen sicher schon fünfzehn oder zwanzig Minuten.
Plötzlich wird die Hintergrundmusik lauter. Einige recken die Köpfe in Richtung der Boxen, runzeln die Stirn. Ich tue es ihnen gleich, beiße dann jedoch schulterzuckend von meinem Donut ab. Wobei ich mich fast verschlucke, als kurz darauf Jaspers Stimme durch ebendiese Boxen dringt.
»Hallo, Juniper, und herzlich willkommen zu einem ganz besonderen Event. Ich habe die große Ehre, euch eine Nachwuchsdesignerin vorzustellen, die nicht nur ein Händchen für tolle Stoffe hat, sondern nebenbei auch noch auf die Umwelt achtet. Ich möchte euch hier ein paar ausgewählte Kleidungsstücke präsentieren und hoffe auf ehrliches Feedback und etwas Stimmung. Kommt schon, jubelt für mich und vor allem für die Designerin: Lou Simson!«
Ich bin mir sicher, dass ich gerade dunkelrot anlaufe. Hitze schießt in meine Wangen, der Donut liegt mir plötzlich schwer im Magen, und ich habe das Gefühl, dass mich alle anstarren, obwohl niemand ahnen kann, dass ich diese Lou Simson bin. Die Musik wird noch lauter, wechselt von dudeliger Fahrstuhlmusik zu modernen Bässen. Eindeutig ausgewählt von Jasper, der nun auf mich zugeht, das Mikro in der Hand. Wo auch immer er das aufgetrieben hat. Und wieso hat er die Kontrolle über die Musik? Wie hat er das angestellt?
»Was tust du?«, zische ich.
Einige Leute haben sich um uns versammelt und scheinen nun zu verstehen, dass ich Lou bin, denn sie reden offenkundig über mich.
»Da kommt auch schon das erste Model«, sagt Jasper übers Mikro. Ich drehe meinen Kopf, und tatsächlich: Eine junge Frau trägt eines meiner Kleider. Es sitzt bei ihr nicht ganz so perfekt wie an mir, immerhin ist es für meine Sanduhrfigur maßgeschneidert, aber es betont dennoch ihre Kurven und schmiegt sich an ihren Körper an. Sie lässt ihre Afrolocken wippen, als sie mir einen Kussmund zuwirft und sich für ihr Publikum dreht, als hätte sie es jahrelang geübt und nun endlich die Chance, es zu zeigen. Dabei strahlt sie bis über beide Ohren, als wäre das hier ein ganz besonderer Moment für sie. Gut gelaunt winkt sie den Leuten zu, die sich inzwischen in Scharen um uns versammelt haben. Das Ganze ist surreal, und ich bin überfordert, aber es wächst auch so etwas wie Stolz in mir.
Die nächste Frau nähert sich, das nächste Kleidungsstück. Diesmal kenne ich die Trägerin vom Sehen, denn sie ist ebenfalls Studentin an der LBU , soweit ich weiß, in Jaspers Jahrgang. Hat er das also wirklich geplant? Hat er Studentinnen angeheuert, denen meine Kleidung passt, mit der Mall gesprochen, sich das Mikro besorgt? Ich bin noch ein wenig überfahren, aber auch sehr gerührt. Langsam entspanne ich mich ein bisschen, als alle klatschen, lächeln, Fotos machen.
Die Show dauert zwanzig Minuten, weil Jasper die Frauen immer und immer wieder eine Runde drehen lässt, bis sich alle von sämtlichen Seiten präsentiert haben.
»Und, was sagt ihr?«, fragt Jasper ins Mikrofon. »Wäre es nicht toll, genau so einen Style hier in Juniper kaufen zu können? Kollektionen, die nicht unter würdelosen Bedingungen, sondern mit fair gehandelten, nachhaltigen Stoffen in Handarbeit gefertigt werden? Sind die Designs nicht großartig?«
Die Leute klatschen erneut, und zustimmende Rufe werden laut.
»Dann lasst das die Designerin hören.« Er geht auf mich zu, weist mit einer großen Geste auf mich. »Zeigt ihr, wie toll ihre Mode ist!«
Die Menge wird noch lauter. Ich versuche zu lächeln, was einerseits leicht ist, weil dieser Moment unglaublich ist, und gleichzeitig anstrengend, weil ich viel zu überwältigt bin.
»Wohoo!«, ruft Jasper. »Danke, dass ihr bei unserer kleinen Show zugesehen habt. Lou präsentiert ihre Mode übrigens auf ihrem Instagram-Account simsonatty . Schaut doch mal vorbei!«
Schnell schnappe ich mir das Mikro: »Ähm … die Seite ist etwas eingestaubt. Hab schon lange nichts mehr gepostet.«
»Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das zu ändern«, entgegnet Jasper grinsend. »Vielen Dank und einen schönen restlichen Shoppingtag.«
Er gibt ein Handzeichen an jemanden, den ich nicht sehen kann, woraufhin die Musik herunterfährt und nun nur noch im Hintergrund läuft. Langsam löst sich die Menschentraube auf. Einige der Frauen, noch immer in meinen Klamotten, umarmen sich schwungvoll und kommen auf mich zu, um mich ebenfalls zu drücken.
»Das war so cool«, jubelt eine von Ihnen. »Danke, dass ich mitmachen durfte.«
»Kann man die Sachen irgendwo kaufen?«, erkundigt sich die Studentin, die ich erkannt habe. »Es ist selten, dass für uns kurvige Frauen so schöne Sachen produziert werden.«
»Ich würde so was auch tragen.«
Ein paar Zuschauer gesellen sich dazu und fragen ebenfalls nach der Kleidung. Ich kann es nicht fassen. Mit so einer Resonanz hätte ich nie gerechnet.
»Aktuell verkaufe ich leider noch nichts. Das lässt die Zeit neben meinem Studium einfach nicht zu.«
»Schade. Aber wenn sich das ändert, wirst du das doch bei Instagram ankündigen?«
»Ja. Das lässt sich einrichten.«
»Klasse. Ich folge dir.« Tatsächlich holt sie direkt ihr Handy heraus, um mein Profil zu suchen. Ein paar andere tun es ihr nach. Ich stehe da, sehe ihnen zu, höre ihre Komplimente und genieße die Wärme, die durch meine Adern fließt.
Wir plaudern noch eine halbe Stunde, danach geben mir die Models die Kleidungsstücke zurück. Ich umarme jede von ihnen, weil sie mitgemacht und mir diesen Moment ermöglicht haben.
Jasper schnappt sich den Koffer mit der Kleidung, dann sieht er mich grinsend an. »Wenn das kein Abenteuer war …«
»Das war eher so was wie Cinderella, die endlich zum Ball durfte«, erwidere ich. »Wie hast du das so schnell auf die Beine gestellt?«
»Das erzähle ich dir bei einem Eis. Hast du Lust?«
»Auf Eis immer«, antworte ich, zumal die Eisdiele in der Mall hausgemachte vegane Sorten herstellt. Jedes Mal ein Genuss. Wir bestellen uns beide Haselnusseis, dann setzen wir uns auf eine der Bänke. Um uns herum hat wieder der Shopping-Alltag eingesetzt, als hätte es diese kleine Modenschau nicht gegeben, auch wenn der Stolz, den ich tief in mir spüre, der Beweis dafür ist, dass ich das alles nicht nur geträumt habe. Den Leuten hier meine Mode zu präsentieren, einfach so, das war ein unbeschreibliches Gefühl.
»Also?«, will ich wissen. »Wie hast du das angestellt?«
»Ein paar Anrufe, ein paar Bitten«, sagt er, als wäre das eine Kleinigkeit gewesen. »Die meisten waren sofort begeistert. Ich habe Nancy angehauen, weil ich wusste, dass sie so was schon immer mal machen wollte. Sie hat dann Freundinnen Bescheid gesagt, und schon hatten wir genug Models zusammen.«
»Und die Mall? Wie hast du die Verantwortlichen überzeugt?«
»Ach, das war auch nicht so schwer. Ich habe nur ein paar Leuten versprochen, ihre Kinder in der LBU rumzuführen.«
»Das hättest du nicht tun müssen«, sage ich verlegen.
»Aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Das war es wert.«
»Ich bin auch froh«, murmle ich, schlucke schwer. »So was hat noch nie jemand für mich gemacht.«
»Dein Traum von diesem Modelabel hat es verdient. Und … du auch.«
Mit einem Augenaufschlag sehe ich Jasper an. Betrachte die Haare, die heute etwas unordentlich zusammengebunden sind. Die Lippen, die zu einem sanften Lächeln geformt sind und die ich so verdammt anziehend finde.
»Du hast gefragt, wieso ich nicht beim Wettbewerb mitmache«, sage ich leise. »Wieso ich daran zweifle, es zu tun.«
Er entgegnet nichts, als wüsste er genau, dass er meine unerwartete Entschlossenheit, mit ihm darüber zu sprechen, damit niederschmettern könnte. Und doch, nach allem, was Jasper für mich getan hat, schulde ich ihm Ehrlichkeit. Ohne Scham, ohne mich verletzlich zu fühlen. Einfach nur die Wahrheit.
»Ich habe einen Ex-Freund … Mark. Irgendwie ist es so wie mit dir und Maggie: Ich rede nicht gerne über ihn. Eigentlich tue ich es nie, obwohl es schwer ist, ihn aus meinem Kopf zu verbannen.«
»Weil du ihn noch liebst?«, fragt Jasper.
»Nein«, erwidere ich wahrheitsgemäß. »Weil er mich fast zerstört hat. Mich und meine Träume.« Ich seufze leise. Dieses ganze Chaos in Worte zu pressen erscheint mir unmöglich. »Er war für drei Jahre meine wohl wichtigste Bezugsperson, und er hat nicht an meinen Traum vom Modedesign geglaubt«, erkläre ich. »Er hat mir immer das Gefühl gegeben, dass es nie mehr sein kann als ein Hobby, und irgendwann habe ich angefangen, ihm zu glauben.« Jasper setzt zum Sprechen an, aber ich bin schneller. »Ich weiß, dass ich nicht darauf hätte hören sollen«, presse ich hervor. »Rational gesehen weiß ich das. Aber immer wieder seine Meinung dazu zu hören hat Spuren in mir hinterlassen, die ich nicht so schnell verwischen kann.«
»Und deswegen willst du nicht an dem Wettbewerb teilnehmen?«
»Vielleicht«, sage ich nachdenklich. »Ich weiß, dass ihr mich alle für ziemlich unbesiegbar haltet. Die Powerfrau, die alles hinbekommt. Aber ich habe Angst davor, herauszufinden, dass mein Ex recht hatte und ich es nicht schaffe.«
»Du hast Angst zu scheitern. Das verstehe ich … aber du lässt zu, dass diese Angst – dass die Meinung deines Ex-Freunds – dir eine Chance vermasselt und sich zwischen dich und deinen Traum stellt.«
Er trifft damit ins Schwarze. Ich spüre es mit einem Stich im Herzen. »Wenn du das so sagst, klingt es ziemlich unklug.«
»Es klingt falsch«, meint Jasper. Er beißt nachdenklich in seine Eiswaffel. Ich tue es ihm gleich, kaue, schweige. Lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen.
»Du hast gesagt, dass du aus der Komfortzone willst. Also, worauf wartest du? Nimm das Abenteuer an, das sich dir bietet. Im schlimmsten Fall kommst du nicht weiter, aber das bedeutet nicht, dass aus deinem Traum nichts wird. Es bedeutet nur, dass du ernsthaft versucht hast, ihn zu erfüllen.«
Ich starre auf das Schaufenster gegenüber, in dem die neuste Mode ausgestellt wird. Kurz flackert ein Bild vor meinem inneren Auge auf: meine eigenen Designs dort an Schaufensterpuppen. An welchen, die nicht aus Kunststoff oder Polyethylen, sondern aus nachhaltigen Stoffen wie Holz oder Altmetall sind. Und an welchen, die sämtliche weiblichen Formen – kurvig, klein, groß und schlank – zeigen, nicht nur die eine Figur. In einem Laden, der genaue Infos über die Produktion und die verwendeten Stoffe offenlegt. Einem, der erklärt, wieso diese im Vergleich zur Fast Fashion der Umwelt dienen, anstatt sie zu zerstören. Aufklärung, Umweltschutz und Mode. Meine Leidenschaften vereint. Ich sehe es genau vor mir. Ich will loslaufen und nicht mehr nachdenken. Nicht mehr auf Mark hören.
Was, wenn ich mich einfach trauen muss?
»Ich will da mitmachen«, sage ich leise.
»Das solltest du auch. Wirklich.«
Ich sehe Jasper an, suche nach den Zweifeln in seiner Miene, die ich einst bei Mark gesehen habe. Aber da ist nur dieselbe Aufregung, die in mir heranwächst. Dieselbe Entschlossenheit.
»Ich mache mit«, sage ich nun so bestimmt, wie ich nur kann.
Das Grinsen, das Jasper mir zuwirft, ist so strahlend, wie ich es von früher kenne. Einnehmend, jungenhaft, selbstbewusst.
»Verdammt«, stößt er aus. »Ja, das machst du auf jeden Fall, Lou! Wenn nicht du, wer dann?«
Liebes Tagebuch,
als Kind habe ich mir oft die Frage gestellt, ob ich Talent besitze. Irgendetwas, das ich außergewöhnlich gut kann, irgendetwas, für das ich vielleicht sogar Anerkennung bekommen könnte. Die Wahrheit ist, dass ich mich schon seit meiner frühsten Kindheit danach gesehnt habe, in irgendetwas so gut zu sein, dass ich mich damit identifizieren kann. Vielleicht lag es daran, dass mein Dad sein Hobby zum Beruf gemacht hat und Bildhauer geworden ist. Vielleicht lag es daran, dass ich meine Mutter im Vergleich immer eher als langweilig empfunden habe – nicht sie, vielmehr ihr Leben. Ein normaler Bürojob, ein normaler Haushalt, keine wirklichen Hobbys. Da kam mir das Leben meines Vaters wesentlich spannender vor, wenn er beim Abendessen mit leuchtenden Augen von seinen neuen Aufträgen erzählt hat. Es waren die Momente, in denen ich wusste, dass ich mir nicht nur ein besonderes Talent wünsche, sondern auch eine Leidenschaft, und es hat lange gebraucht herauszufinden, was zum Teufel es sein könnte. Fürs Cheerleading war ich nie der Typ, ebenso wenig für Akrobatik oder Tanzen. Baseball? Bereits in der ersten Stunde hatte ich ein Trauma, nachdem ich einen der Bälle gegen mein Brustbein bekommen hatte. Danach waren Football, Fußball und Volleyball ebenfalls ausgeschieden.
Als ich zehn Jahre alt war, fand ich dann heraus, was ich machen wollte. Mehr durch Zufall, während meine Grandma auf mich aufpasste und vor dem Fernseher eingeschlafen war. Ich nutzte die Gelegenheit und zappte mich durch die Programme. Schließlich blieb ich an einem Shoppingkanal hängen, der gerade die neuste Nähmaschine präsentierte. Meine Augen mussten in diesem Moment denen meines Vaters geglichen haben, wenn er über sein neustes Projekt sprach. Es war wie in diesen Filmen, wenn das Objekt der Begierde von oben angestrahlt wird und ein engelsgleicher Gesang ertönt. Eine Offenbarung.
Eine Woche später schrieb ich meinen Geburtstagswunsch auf: eine Nähmaschine. Meine Mutter glaubte zunächst nicht wirklich daran, dass ich sie auch nutzen würde. Doch nach langem Betteln und Flehen bekam ich schließlich eine. Nicht die überteuerte vom Shoppingkanal, nur eine gebrauchte vom Flohmarkt, die etwas schwerfällig in der Bedienung war, aber es hinderte mich nicht daran, ab da jeden Tag zu nähen. Erst waren es nur halbgare Versuche, dann irgendwann wurde es zielgerichteter. Je älter ich wurde, umso intensiver übte ich. Stundenlang, bis die Finger krampften und sämtliche Stoffe, die ich im Haus hatte auftreiben können, vernäht waren. Meine Mutter schimpfte lautstark, nachdem ich einen der Tischläufer zu einem Rock umfunktioniert hatte, ohne vorher zu fragen. Aber nichts hielt mich auf, denn ich spürte sie: die Leidenschaft. Und auch ein gewisses Talent. Die nötige Fingerfertigkeit, ein Händchen für die richtigen Formen und Stoffe. Irgendwann meisterte ich auch das Zeichnen und Umsetzen von Designs. Der Wunsch, irgendwann ein eigenes Modelabel zu gründen, wuchs. Damals noch nicht mit dem Gedanken, den Fokus auf Umweltschutz zu legen, sondern einfach nur aus dem Wunsch heraus, mein eigenes Ding zu machen.
In der Schule behielt ich diesen Wunsch für mich, nachdem einige meiner Mitschüler sich über meine Skizzen lustig gemacht hatten. Also werkelte ich meist vor mich hin und träumte nur von meinem Modelabel, teilte meinen Traum aber mit niemandem. Zu groß war die Angst, es vielleicht nicht hinzubekommen oder doch nicht gut genug für solche Schritte zu sein.
Bis zu meinem siebzehnten Geburtstag erzählte ich außerhalb meiner Familie niemandem von meinen geheimen Plänen. Ich war zu diesem Zeitpunkt fast zwei Jahre mit Mark zusammen, glücklich und doch auch nicht. Schon in viele kleine Teile zerrissen, aber noch nicht vollends zerbrochen, weil ich die Risse noch kaschierte.
An diesem Tag fasste ich all meinen Mut zusammen und erzählte ihm von meinen Plänen. Er wusste natürlich, dass ich nähte und meine eigenen Kleidungsstücke designte, ich hatte ihm aber nie die geheimen Zeichnungen gezeigt, die ich anfertigte, um mich damit nach der Highschool zu bewerben. Längst lag eine Liste mit Unis in der Schublade meines Nachttischs, bei denen ich mich bewerben wollte. Ich nahm meine Mappe, breitete die Blätter vor uns aus und beobachtete genau, wie er jede meiner Zeichnungen begutachtete. Mit laut pochendem Herzen und viel Angst in meiner Brust. Es war so privat wie ein Blick in mein tiefstes Innerstes, und ich fühlte mich in diesem Moment nackter als bei unserem ersten Mal, viel verletzlicher als bei all unseren kleinen Streitigkeiten.
Ich musterte ihn genau, während er die Designs durchsah, aber er blinzelte nicht mal. Marks Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos.
Noch heute erinnere ich mich genau an das brennende Gefühl in meinem Magen, als mir klar wurde, dass sie ihm nicht gefielen. Dass er die Idee von einem Modedesignstudium nicht ernst nahm.
Mark kam auf mich zu und legte seine Hand sanft auf meine Schultern. Sein Blick wirkte vorsichtig, genau wie die Worte, die er daraufhin wählte und die ich seitdem pausenlos in meinem Kopf durchspiele. »Lou, du weißt, dass ich es toll finde, dass du diesem Hobby nachgehst und dir deine Kleidung nähst. Du weißt doch, wie sehr ich diese blaue Bluse liebe. Oder dein weißes Kleid. Die sind wunderschön. Aber daraus einen Beruf zu machen und sich an solch renommierten Unis zu bewerben, ist eine ganz andere Hausnummer. Da bewerben sich doch die Besten der Besten. Und ich habe gehört, dass es an solchen Unis richtig hart zugehen soll. Ich glaube, du stellst dir das zu einfach vor.« Sein Daumen streichelte über meine Wange, aber es hinterließ nur eine Kältespur. »Ich will nicht, dass du enttäuscht wirst und die Freude an deinem Hobby verlierst.«
Mein Hobby . Da war es, was am meisten wehtat. Dass es für Mark nur ein Hobby war. Ein lächerlicher kleiner Zeitvertreib, keine Berufung.
»Stell dir vor, wie demotiviert du sein wirst, wenn es nicht klappt. Du würdest doch deine Liebe zum Nähen damit zunichtemachen. Und ich weiß doch, was es dir bedeutet.«
Ich erinnere mich noch, dass ich auf seine Worte hin nickte, immerhin waren die Befürchtungen, vielleicht nicht gut genug zu sein und damit meine Leidenschaft aufs Spiel zu setzen, nicht neu. Auch ich hatte sie schon ein paarmal gedacht. Oft im Zusammenhang mit diesen Unibewerbungen.
Seine Hände tätschelten mich mitfühlend.
»Vielleicht solltest du doch eher zu mir aufs Community College gehen. Dort kannst du dich weiter ausprobieren. Und wir könnten noch ein Jahr zusammen studieren. Das ist es doch, was wir uns die ganze Zeit gewünscht haben, nicht wahr?«
Wieder nickte ich. Keine Ahnung, wieso ich ihm recht gab, denn eigentlich wusste ich, dass sich jedes Wort aus seinem Mund falsch anfühlte. Und doch klangen sie gleichzeitig so richtig. Mark liebte mich, er wollte nur das Beste für mich und mir Enttäuschungen ersparen, also war es nur ratsam, auf ihn zu hören. Immerhin kannte er mich besser als jeder andere. Deswegen hatte ich ihn ja erst nach seiner Meinung gefragt: Er hatte Geschmack, ein gutes Urteilsvermögen. Wusste immer, was zu tun war. Wenn er glaubte, dass ich keine Chance in den Designprogrammen hatte, dann war es vermutlich so. Ein Glaubenssatz, den ich viel zu sehr verinnerlicht hatte. Was Mark behauptete, war gesetzt. Was er für richtig hielt, wurde getan. Und er befeuerte damit alles, was ich zuvor schon Hunderte Male gedacht hatte, weil es stimmte, dass die Konkurrenz an den Unis groß war. Die Anforderungen hoch. Und ich noch ganz am Anfang stand mit meinen Designs. Es waren nur Skizzen, ein paar Spielereien mit Farben und Schnittmustern.
Beides lag danach vergessen auf dem Tisch, während Mark die Broschüren seines Colleges herausholte und meine Zukunft mit mir plante. Schritt für Schritt gingen wir mögliche Studienfächer durch, die alle nichts mit Modedesign zu tun hatten. Nichts mit meinem Traum. Trotzdem nickte ich erneut und erneut, ließ es zu, dass wir ein Studium planten, das nichts als Traurigkeit in mir auslöste. Das mich dazu brachte, meine Designs danach in eine Mappe zu schnüren und sie in meine Stofftruhe zu verbannen, weil ich den Anblick meiner erloschenen Träume nicht ertragen konnte. Weil es zu sehr schmerzte, Marks Gegenargumente in meinem Kopf zu hören, die darin so viel Sinn ergaben. Dabei brach tief in mir ein weiterer Splitter meiner Seele heraus. Diesmal wohl einer der größten, denn damit war mein Traum begraben. Wie ich heute weiß, nicht für immer. Aber in diesem Moment fühlte es sich an wie ein endgültiger Verlust. Der Verlust eines Herzenswunsches, einer beruflichen Perspektive, meines Talents. Der Höhepunkt meiner Selbstzweifel.