J aspers Zimmer ist in schummriges Licht getaucht. Um uns herum liegen ein paar Kissen und Decken verteilt, unsere Rücken sind an sein Bett gelehnt, und die noch warmen Cookies stehen in einer Dose auf dem Boden zwischen unseren Füßen. Viele Cookies sind es nicht geworden, zu viel Teig ist durch mein Missgeschick verloren gegangen, aber sie schmecken fantastisch.
Dafür, dass wir reden wollten, füllt beachtliches Schweigen den Raum, aber es stört mich nicht. Es ist keine unangenehme Stille. Viel mehr fühlt es sich heilsam an. Als würden wir beide in Gedanken diesen Kuss wiederholen und so das eben Geschehene verarbeiten.
»Wie fühlst du dich?«, fragt Jasper schließlich.
»Ein wenig benebelt?«
Nun lacht er heiser. »Das trifft es tatsächlich ganz gut. Aber mal im Ernst: Was denkst du über den Kuss?«
»Er war toll. Aber er verwirrt mich auch.«
»Was verwirrt dich daran?«
»Ganz ehrlich? Ich fand dich schon bei meinem Einzug toll, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass du mehr in mir siehst als eine Mitbewohnerin.«
Er sieht mich an, ein Gänsehaut verursachender Blick. »Ich habe immer mehr in dir gesehen.« Seine Stimme lässt keine Zweifel an diesen Worten.
»Ich verstehe nicht. Du hast nie etwas gesagt oder auch nur angedeutet.«
»Als du eingezogen bist, war die Trennung von Maggie noch viel zu frisch. Sie hat die LBU und mich verlassen, und ich war nicht empfänglich für Gefühle.«
»Du weißt schon, dass ich gesehen habe, wie viele Frauen du mit hierhergebracht hast?«, frage ich. Hoffentlich wirkt es nicht zu verbittert. »Es waren einige.«
Sein Mundwinkel zuckt. »Ich sagte, dass ich nicht empfänglich für Gefühle war. Alles andere war mir recht, um mich zu betäuben.«
»Was betäuben?«, frage ich vorsichtig.
»Schmerz. Verlust. Versagen. Ich dachte, es wäre leichter, einfach mit anderen Frauen weiterzumachen … mich abzulenken.«
»Verstehe. Aber auch dafür hast du mich nie in Betracht gezogen. Weil ich deine Mitbewohnerin bin?«
»Weil du du bist«, sagt er leise und setzt damit ein Kribbeln auf meiner Haut frei. »Ich wusste immer, dass du etwas anderes in mir auslösen würdest … Dinge, die ich nicht mehr fühlen wollte. Der Gedanke, jemand anderen außer Maggie an mich heranzulassen, war schmerzhaft. Ist er in gewisser Weise immer noch.«
Er beißt sich auf die Lippe. Ich erkenne genau den Moment, in dem ihn das schlechte Gewissen überkommt. Er sich fragt, ob es okay ist, eine andere Frau zu küssen, wo er doch eigentlich noch um seine erste Liebe trauert. Es sollte mich vielleicht verunsichern, aber es löst nichts als Zuneigung für ihn aus, dass er ihr gegenüber noch immer so loyal ist. Auch nach allem, was er über sie herausgefunden hat. Nach all der Zeit.
Ich lehne mich zu ihm, umfasse mit beiden Händen sein Gesicht. »Sie würde bestimmt wollen, dass du wieder glücklich wirst.«
»Das versuche ich mir auch immer wieder zu sagen. Glaub bitte nicht, dass das gerade in der Küche nur ein schwacher Moment von mir war. Oder dass es mir nur ums Bett ginge.«
Eigentlich brauche ich diese Bestätigung gar nicht, weil ich es weiß. Seit der Wintergala, seit er von Maggies Tod erfahren hat, hatte er keines dieser Dates mehr. Keine Flirts. Keine Frauen. Er würde mich nie für ein schnelles Abenteuer benutzen. Dafür sind meine Freundschaft und ich ihm zu wichtig. Dafür vertrauen wir einander zu sehr.
»Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich darüber nachgedacht habe, dich zu küssen. Ein paarmal war ich wirklich kurz davor.«
»Wann?«, hauche ich. Keine Ahnung, ob es überhaupt eine Rolle spielt, und doch brenne ich darauf, es zu wissen.
»Zum Beispiel bei unserem Tanz im Regen«, sagt Jasper. Also hatte ich mir das Flirren in der Luft nicht eingebildet.
»Und nach dem Töpferkurs.«
»Ja … spätestens ab da ging es mir auch nicht mehr aus dem Kopf.«
»Ich will das hier, das mit dir«, sagt Jasper plötzlich. »Trotz der Schuldgefühle, trotz Trauer. So sehr, dass es mir wirklich Angst macht.«
»Ich habe auch ein bisschen Angst. Meine Erfahrungen mit Beziehungen sind nicht gerade rosig.« Milde ausgedrückt.
»Ich weiß.«
»Aber ich will das hier auch.« Ich dränge die Angst in den Hintergrund – mit aller Kraft, die ich aufbringen kann.
In meinen Adern pulsiert pures Verlangen. Gerade weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, meine Gefühle für ihn über eineinhalb Jahre zurückzuhalten. Wie habe ich mir nur jemals einreden können, dass das, was ich für Jasper empfinde, nicht mehr als Freundschaft ist? Wie habe ich es geschafft, in diese blauen Augen zu sehen und ihn nicht zu küssen wollen? Jetzt könnte ich diese Gefühle niemals verdrängen. Sie liegen vor mir, nackt und roh, und übermannen mich. Bringen mich zum Zittern.
Ich streichle Jasper eine Haarsträhne zur Seite. Sehe ihn an und versuche, all diese berauschenden Erkenntnisse in meinen Blick zu legen. Ihm genau zu zeigen, wie ernst ich das hier meine. Sein Adamsapfel hüpft, als würde er verstehen. Er sieht zu meinen Lippen und öffnet seine ein wenig, als er näher kommt.
Sein Atem kitzelt auf meiner Haut, mein Herz drängt sich gegen meine Brust, scheint gleich zu explodieren.
»Dann laufen wir einfach los, okay?«, flüstere ich. »Nicht zu viel nachdenken.«
»Meine Spezialität«, erwidert er grinsend, ehe er seine Lippen auf meine legt, dieses Versprechen besiegelt und uns ein Stück der Angst nimmt.
Diesmal ist der Kuss anders. Weniger impulsiv, weniger leidenschaftlich. Er ist reines Gefühl. Und trotz unserer Ängste ist es geradezu erdend, sich darauf einzulassen. Jaspers Lippen auf meinen zu spüren, wie sie sich im selben Takt wie meine bewegen. Er hält mich, während er mich küsst, als wäre dies hier ein Schatz, den er bewahren muss. Als müsse er sich daran erinnern, dass diese Gefühle, die er spürt, echt sind. Dass es okay ist, sie zu haben und sich endlich wieder dafür zu öffnen.
Ich tue es ebenfalls. Ich bin bereit.