D er verdammte Hering geht nicht rein!«, ruft Reese.
Ich würde ihr gerne helfen, doch ich bin schon dabei, die Zeltstange am Umkippen zu hindern. Eine falsche Bewegung, und alles stürzt wieder in sich zusammen, als wäre es ein Kartenhaus. Wie bei den ersten beiden Versuchen.
»Braucht ihr Hilfe?«, fragt Hazel. Das Zelt, das sie sich mit Lewis teilen wird, ist längst aufgebaut.
»Ja, bitte. Sonst müssen Lou und Jasper noch hier draußen schlafen.«
»Zumindest hätten wir dann etwas vom Sternenhimmel«, murmle ich, denn von dieser Lichtung aus hat man sicher einen wunderbar freien Blick auf den Himmel, wenn die Wolken uns gnädig sind. Bisher sieht es gut aus.
»Wegen der Pumas würde ich das Zelt bevorzugen«, sagt Hazel. Seit Lewis ihr von den Berglöwen erzählt hat, die im Modoc leben und meist nachts herauskommen, hat sie immerzu Sorge, sie könnte gleich angefallen werden.
»Wir sind hier in einem offiziellen Campingbereich«, erwidert Jasper, der mit Corey und Lewis rüberkommt, um mit anzupacken. Wie es aussieht, ist Jaspers und mein Zelt das letzte, das noch nicht steht. »Das Risiko, dass sich ein Tier hierher verirrt, ist gering. Hier sind zu viele Leute, die Krach machen.«
Tatsächlich dringen leiser Gesang und Gitarrenklänge zu uns herüber. Wahrscheinlich stammen sie von Touristen, die ebenso Campingluft schnuppern wollen wie wir.
Mit vereinten Kräften schaffen wir es, das Zelt aufzubauen.
»Wir sollten hier alles startklar machen, bevor der Spaß beginnt«, sagt Jasper, der weiterhin die Planung für unser Wochenende übernommen hat. »Das heißt Feuerholz sammeln, damit wir das nicht im Dunkeln machen müssen. Und die Nachtlager in den Zelten sollten auch schon bereit sein.«
Corey salutiert. »Aye, aye, Käpt'n.«
»Lass den Blödsinn«, sagt Jasper und gibt ihm einen Klaps auf den Oberarm.
»Hazel und ich können schon mal die Feuerstelle vorbereiten.« Lewis dreht sich zu seiner Freundin. »Am besten da vorne. Wir heben einen Teil des Bodens aus, da kommt dann das Feuerholz rein. Und drum herum brauchen wir noch Steine.«
»Die können Corey und ich holen«, schlägt Reese vor.
»Okay«, erwidere ich. »Jasper und ich suchen dann Feuerholz.«
»Treffen hier in zwanzig Minuten?«, fragt Lewis. »Denkt dran: Immer zu zweit.«
»Keine Sorge, ich habe nicht vergessen, was letztes Jahr mit Hazel war«, sage ich. Lewis hat ihr immer schon eingetrichtert, dass man den Forest nur zu zweit begehen sollte, da er weitläufig ist und ein Handyempfang quasi nicht existent. Trotzdem ist Hazel vor einigen Monaten nach einem Streit mit ihm alleine los und hatte einen Unfall – nur mit viel Glück hat Lewis sie rechtzeitig gefunden.
Jasper und ich stapfen los, während Hazel und Lewis sich mit Spaten daranmachen, das Loch für die Feuerstelle auszugraben. Direkt hinter der Lichtung wird der Wald wieder dichter. Torf- und Kiefernduft mischen sich und lösen pure Glücksgefühle in mir aus. Als könnte ich wieder richtig durchatmen, wie es nur der Fall ist, wenn man von unberührter Natur umgeben ist. Die Aussicht auf das Wochenende mit unserer Clique, fern des Alltags, verstärkt dieses Gefühl umso mehr. Genau wie Jaspers gute Laune, die seit dem gemeinsamen Abendessen anhält.
»Denk dran, wir wollen keinen Baum beschädigen«, sagt Jasper nun, als er die ersten Äste aufsammelt. »Wir nehmen nur mit, was auf dem Boden liegt.«
»Ist klar.«
Überall liegen Äste, es wird nicht schwer sein, einen kleinen Vorrat zu sammeln. Die ersten stapeln sich schon innerhalb weniger Minuten auf Jaspers Arm.
»Warst du schon oft campen? Lewis und du wirken recht routiniert. Ihr scheint Ahnung zu haben.«
»Es ist schon eine Weile her, aber als Kinder waren wir oft zusammen zelten. Weil wir Dad bei seinen Forschungen begleitet haben oder um mit unserem Großvater Tiere zu beobachten.«
Er lächelt sanft. Im Vergleich zu den Kindheitserinnerungen mit seinem Vater sind die Gefühle für seinen Großvater anscheinend ungetrübt. Hazel hat mir gegenüber mal erwähnt, dass die beiden Brüder sehr an ihm gehangen haben und er zeitweise sogar mit der Familie in einem Haus gelebt hat, ehe er irgendwann verstorben ist.
»Was für Tiere habt ihr denn gesehen?«, frage ich, während ich weiter Äste einsammle. Es ist schön, ein wenig mehr von Jaspers Kindheit zu erfahren. Von den schönen Aspekten – nicht den dunklen Familiengeheimnissen.
»Hauptsächlich Wild. Rehe, Hirsche, Hasen. Manchmal auch Bären. Am liebsten mochte Grandpa aber die Vogelkunde. Er konnte die meisten Vögel schon am Gesang erkennen.«
»Kannst du das auch?«
Jasper lacht leise. »Ich habe es versucht, aber ich war nie besonders gut darin. Im Gegensatz zu Lewis.«
Es wundert mich nicht, bei der Zeit, die Lewis im Modoc verbringt. Hazel und er sind ständig hier, sofern es die eng getakteten Stundenpläne zulassen.
»Dann kann ich mich wohl glücklich schätzen, dass ich auf meinem ersten Campingausflug so erfahrene Jungs an meiner Seite habe.«
Jasper kommt näher, die Hände nun schon voller Holz. »Na, ich hoffe doch, dass es nicht nur wegen meiner Campingerfahrung gut ist, dass ich hier bin«, raunt er.
»Du hast recht.« Unwillkürlich lade ich meine Zweige in seine Arme. Der Berg schwankt augenblicklich, Jasper muss ihn ausbalancieren. »Es ist auch wirklich vom Vorteil, jemand zu haben, der die niederen Arbeiten macht«, ziehe ich ihn auf.
»Na warte.« Schneller, als ich es ihm zugetraut hätte, lässt er das Holz fallen und greift stattdessen nach mir. Er wirft mich über die Schulter, als würde ich kaum etwas wiegen. Ich schreie auf, als die Welt plötzlich kopfsteht.
»Lass mich runter«, protestiere ich, kann mir jedoch mein Lachen nicht verkneifen.
»Erst, wenn ich dich in den Blue Lake geschmissen habe.«
»Geht nicht«, erwidere ich etwas atemlos. »Schwimmen steht erst später auf dem Plan. Schon vergessen? Erst die Feuerstelle, dann die Nachtlager … dann der Spaß.«
»Welcher Spielverderber hat denn das beschlossen?«, fragt Jasper lachend, dann setzt er mich ab. Die Welt rückt wieder in die richtige Perspektive.
»Je schneller wir mit dem Holz zurück sind, umso eher kannst du das mit dem Blue Lake doch noch in die Tat umsetzen.«
Wir sammeln die Äste wieder auf, bis das Holz sich in meinen Armen türmt und die Kiefernnadeln mich kratzen. Dann gesellen wir uns wieder zu den anderen, die bereits die Steine um das ausgegrabene Loch drapieren. Etwas von dem Feuerholz kommt in das Loch hinein, den Rest stapeln wir als Vorrat neben einem der Zelte.
Nachdem auch die Schlafsäcke ausgerollt und die Zelte somit eingerichtet sind, finden wir uns am Blue Lake wieder. Knapp fünfzehn Minuten Fußmarsch sind es von unserm Zeltplatz aus, und es ist die perfekte Zeit: Die Mittagssonne ist so intensiv, dass wir uns inzwischen alle eine Abkühlung wünschen. In der Nähe des Ufers pellen wir uns aus unserer Kleidung, unter der wir Badeklamotten tragen. Mein Blick fällt sofort auf Jasper, dessen dunkelrote Badeshorts direkt auf der Hüfte sitzen und den Blick auf seine definierten Bauchmuskeln freigeben. Definitiv sieht man ihm das intensive Training der letzten Wochen an. Gerne würde ich den Anblick ein wenig genießen, doch Reese läuft bereits mit vollem Karacho an mir vorbei und fordert damit meine Aufmerksamkeit.
»Wer als Letztes drin ist, muss nachher das Essen vorbereiten!«, ruft sie.
»Hey!« Corey ist ihr dicht auf den Fersen. »Das ist unfair. Du hast uns keine Chance gegeben!«
Wir anderen rennen ebenfalls los. Das Wasser vom Blue Lake glitzert in der Sonne. Es ist wohl der schönste See hier im Modoc, das Kiefernpanorama direkt am Ufer ist atemberaubend.
Und das Wasser noch verflucht kalt.
Hazel und ich quietschen gleichzeitig, als das eisige Wasser auf unsere überhitzte Haut trifft. Reese hingegen ist längst schultertief im Wasser und liefert sich mit Corey ein Wettschwimmen zu einem im Wasser treibenden Baumstamm.
»Kommt schon«, sagt Lewis lachend. Er macht bereits seinen ersten Schwimmzug. »Wenn man einmal drin ist, merkt man die Kälte gar nicht mehr.«
»Das sagen immer alle.« Hazel zieht eine Grimasse.
»Damit ist es amtlich!«, ruft Reese, die den Baumstamm erreicht hat und sich nun daran klammert. »Hazel und Lou kümmern sich um das Essen.«
»Damit kann ich leben!«, rufe ich zurück.
»Mit den Eisfüßen hingegen nicht«, murmelt Hazel und zittert leicht. Dann seufzt sie schwer. »Okay, vom Rumstehen wird es definitiv nicht besser. Vielmehr habe ich gerade das Gefühl, meine Zehen könnten gleich abfrieren. Also entweder gebe ich auf und wärme mich stattdessen am Ufer, oder ich entscheide mich dazu, mich zu bewegen.«
Lewis kommt auf sie zu und reicht ihr die Hand. »Ich bin fürs Bewegen.«
Sie nimmt seine Hand und lässt sich weiter ins Wasser ziehen. Sie keucht leise auf, als es ihren Bauch und ihre Hüfte berührt. Dann ist sie drin und macht ein paar Schwimmzüge.
»Fehlst nur noch du«, sagt Jasper. »Du wartest doch nicht etwa darauf, dass ich mein Versprechen wahr mache, und dich reinwerfe, oder?«
»Das nicht gerade. Aber du könntest mir trotzdem ein bisschen bei der Überwindung helfen.«
Japser kommt näher, Wasser tropft ihm von den Haaren und perlt auf seinem Körper. Genüsslich lasse ich meinen Blick darüber wandern, nehme jeden Wassertropfen und das Muskelspiel darunter in mir auf. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich ihn immer so verstohlen angesehen, dass es jetzt etwas Befreiendes hat, mich nicht mehr zurücknehmen zu müssen und ihm offen zu zeigen, dass ich diesen Anblick mag. Sehr sogar.
Er dreht mir den Rücken zu. »Das Jasper-Taxi ist stets zu Diensten.« Ich rücke an ihn heran, halte mich an seinen Schultern fest und presse mich an seinen Rücken. Es beschert mir augenblicklich eine Gänsehaut, denn es ist, als hätte Jaspers Körper die Kälte des Sees absorbiert. Es kann mich dennoch nicht auf den Moment vorbereiten, in dem er ins Wasser gleitet. Das kalte Wasser umspielt meinen Körper, tränkt meinen Bikini und lässt mich zittern. Die Kälte ist wie Nadelstiche, meine Zehen fühlen sich direkt taub ab.
»Kalt«, bringe ich hervor.
»Du meinst wohl heiß«, murmelt Jasper. »Glaub nicht, dass mir entgangen ist, wie du mich eben angesehen hast.«
»Das Feuer ist jetzt nur leider erloschen und für immer zu Eis gefroren«, sage ich bibbernd. »Wann noch mal gewöhnt man sich an die Kälte?«
Jasper lacht.
Ich löse mich von ihm und gleite noch weiter ins Wasser. Im ersten Moment eine denkbar schlechte Idee, weil es noch kälter wird, doch das Schwimmen hilft tatsächlich, mich ein wenig an die Temperatur zu gewöhnen, also ziehe ich meine Kreise um den Baumstamm. Hazel und Lewis folgen mir. Reese, Corey und Jasper hingegen planen irgendeinen Wettkampf. Hazel und ich schließen uns diesem Wettkampf nicht an, sondern schwimmen zurück ans Ufer, um unsere eisigen Körper in der Sonne aufzutauen und das Spektakel von dort aus zu beobachten. Der Anblick, der sich uns bietet, ist ein Bild für die Götter: Corey, Jasper und Reese versuchen, auf dem Baumstamm zu stehen und sich herunterzuschubsen, doch der Plan geht nicht auf. Der Baumstamm dreht sich immerzu, weswegen sie mehr damit beschäftigt sind, das Gleichgewicht auf dem Baumstamm zu halten. Nur um jedes Mal aufs Neue ins Wasser zu fallen. Irgendwann sind sie erschöpft und frustriert, dafür amüsieren sich Hazel und ich köstlich.
Nachdem wir den Blue Lake unsicher gemacht und uns abgetrocknet haben, gehen wir zurück zu unseren Zelten. Die Jungs entzünden das Lagerfeuer, anschließend kümmern Hazel und ich uns um die Gemüsesuppe, die wir bereits vorgekocht haben. Eingehüllt in Decken, damit die Kälte des Sees vertrieben wird, essen wir unsere Suppe und rösten über dem Feuer ein paar der philippinischen Brötchen, die Hazel immer für uns macht und die sie extra mitgebracht hat. Wir spießen sie auf Stöcke, halten sie in die Flammen und essen sie warm und knusprig. S’Mores gibt es zum Nachtisch.
Um uns herum ist es längst dunkel geworden. So dunkel, wie ich es selbst in Lullaby noch nie erlebt habe. Ich hätte nie gedacht, dass die solarbetriebenen Laternen auf dem Campus so viel ausrichten würden, doch sobald wir den Lagerfeuerplatz verlassen, herrscht Finsternis, bei der man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sieht. Blickt man jedoch nach oben, sieht man Hunderte funkelnde Sterne.
Eine Weile genießen wir den Anblick, während Lewis uns die Sternbilder erklärt. Außer dem Großen Wagen hätte ich wohl keines davon erkannt. Am meisten gefällt mir Kassiopeia, auch wenn die Legende, die Lewis dazu erzählt, ein wenig zu düster klingt. Für seine Eitelkeit bestraft und in den Himmel verbannt zu werden klingt nicht so romantisch, wie es der Name vermuten lässt.
»Okay, wer kennt gute Gruselgeschichten?«, fragt Reese irgendwann. »Die gehören zu einem Campingausflug mit Lagerfeuer doch dazu.«
»Ich kenne die vom Mann mit der Hakenhand«, sagt Corey.
Jasper und ich stöhnen gleichzeitig.
»Nicht schon wieder die«, sagt Jasper. »Die servierst du uns jedes Halloween, und sie wird nicht gerade besser, wenn man sie jedes Jahr hört.«
»Vor allem, weil sie von Anfang an eher lauwarm ist«, ziehe ich Corey auf.
»Ich liefere euch wenigstens etwas. Jasper, deine Erzählkünste sind ja auch nicht gerade preisverdächtig.«
»Ach nein?« Jasper grinst beinahe diabolisch. »Dann pass mal auf.«
Die Geschichte von der weißen Frau, die am Straßenrand der kalifornischen Wälder nach Männern Ausschau hält und diese tötet, ist spätestens nach Supernatural nicht neu, aber die Art, wie Jasper sie erzählt – mit verstellten Stimmen und einer Taschenlampe zur Beleuchtung seines Gesichts –, hat dennoch Unterhaltungswert. Allerdings nicht genug, als dass Corey danach nicht doch die Geschichte des Hakenmannes zum Besten gibt, damit Hazel, Lewis und Reese danach abstimmen können, wer die bessere Geschichte in petto hatte.
»Ganz ehrlich?«, sagt Reese, die inzwischen etwas verschlafen dreinblickt. »Die waren beide lahm. Aber zehn Sympathiepunkte für den Versuch.«
Jasper und Corey werfen Marshmallows auf sie. Den von Jasper fängt sie lässig mit dem Mund auf.
Die Gespräche plätschern schließlich vor sich hin, Lewis erzählt von seinen neusten Forschungen, Corey von seiner Jobsuche. Reese hingegen schläft irgendwann ein, und man hört nur noch ein leises Schnarchen von ihr.
Mein Kopf ruht auf Jaspers Brust, während er mich von hinten am Bauch streichelt. Ich bin müde und gleichzeitig hellwach, weil es einer dieser Augenblicke ist, die man hinauszögern möchte, solange es nur geht. Es ist Lichtjahre her, dass mein Kopf sich so frei angefühlt hat.
Einen ganzen Tag lang habe ich keine To-dos bearbeitet, nicht an Arbeit, Sorgen oder den Alltag gedacht. Nichts. Nur das Lachen mit meinen Freunden genossen, die Abenteuer und die Natur, die der National Forest uns bietet. Und Jasper, der mir in diesem Moment einen Kuss auf den Hals drückt und damit Glücksgefühle der ganz anderen Art in mir freisetzt.
Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich solche Auszeiten wirklich brauche. Für meinen Kopf, vor allem aber für meine Seele.