Kapitel 28

T ränen laufen über meine Wangen, tropfen auf die Arbeitsfläche vor mir und hinterlassen Spuren im Mehl. Backen hilft heute nicht. Schon in dem Moment, in dem ich die Zutaten herausgeholt und hysterisch zusammengerührt habe, wusste ich, dass die meditative Wirkung heute ausbleiben würde. Mein Handy auf dem Küchentisch vibriert ununterbrochen. Immer und immer wieder ruft Jasper an oder schreibt Nachrichten, in denen er zunehmend panisch fragt, was los ist und wo ich bin.

Ich habe keine Antworten darauf.

Ironisch. So viele Monate habe ich hier in der Küche gestanden, um die Erinnerungen an Mark zu vertreiben – und nur Jasper konnte sie zum Verstummen bringen. Und nun ist es der Gedanke an Jasper, der mich wieder in der Küche stehen lässt. Und es ist schlimmer als je zuvor. Es lässt mich frieren, entzieht mir jegliche Wärme, jegliche Kraft.

»Lou?« Plötzlich steht Jasper in der Tür. Seine Stimme durchdringt die Stille des Hauses und findet direkt einen Weg in mein Herz.

Sein Gesicht ist fleckig, die Augen von Tränen gerötet, und mir bleibt die Luft weg. So verletzt, so verzweifelt sieht er aus. Er geht einen Schritt auf mich zu, seine Lippen sind zu einer dünnen Linie geformt.

»Was ist passiert? Warum bist du so plötzlich abgehauen?«

Mein Herz krampft sich zusammen und lässt mich aufschluchzen. Er ist da. Umarmt mich, legt tröstend eine Hand auf meinen Rücken, während die andere in meinen Haaren versinkt. Sein Duft umhüllt mich, und seine Wärme vertreibt einen Teil dieser Kälte. Ich wünschte, sagen zu können, dass seine Nähe wirklich hilft. Etwas verändert. Stattdessen löst sie nur wieder diese Angst aus. Angst, mich wirklich darauf einzulassen, auf ihn, auf uns.

»Ich kann das nicht.«

Gequält sieht er mich an, als ich einen Schritt zurück gehe und mich aus seiner Umarmung löse.

»Was kannst du nicht?«

»Das mit uns … ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.«

»Ich verstehe nicht, wo das auf einmal herkommt.« Jasper fährt sich durch die Haare. Er wirkt so unendlich verloren. »Bitte rede mit mir. Wenn ich heute irgendetwas falsch gemacht habe, dann …«

Energisch schüttle ich den Kopf. »Es liegt nicht an dir. Du hast nichts Falsches getan. Es ist mehr ein Gefühl.«

»Was für ein Gefühl?«

»Angst«, presse ich hervor. »Ich kann kaum atmen.«

Jasper sieht mich so verzweifelt an, dass mir die Distanz, die jetzt zwischen uns liegt, überwältigend groß vorkommt. Ich will ihn in den Arm nehmen und ihm zuflüstern, dass alles gut wird. Aber ich kann nicht. Ich kann ihm dieses Gefühl, als würde mich etwas am Atmen hindern, nicht erklären. Dieses Gefühl, als würde ich gleich wieder in tausend Teile zerbrechen, wo ich doch so lange gebraucht habe, um mich wieder zusammenzuflicken.

»Sag mir einfach, was passiert ist«, flüstert er. »Eben war doch noch alles gut.«

»Ich kann mich nicht noch einmal für eine Beziehung verbiegen«, versuche ich meine wirren Gedanken in Worte zu fassen.

»Reden wir … reden wir gerade von Mark? Denn ich würde doch nie wollen, dass du dich wegen mir änderst. Das weißt du, oder?«

»Ja.« Ich weiß, dass er nicht wie Mark ist. Dass er mich sein lässt, wie ich bin. Dass er mich nicht beeinflusst, nicht manipuliert. Aber das bedeutet nicht, dass er keine Macht hat. Macht darüber, ob er mich verletzt oder nicht. Liebe bedeutet immer Macht. Abhängigkeit. Verlust.

»Es lag aber nicht nur an Mark«, erkläre ich. »Sondern daran, dass ich ihn so sehr geliebt habe, dass ich mich ändern wollte, verstehst du? Ich wollte zu ihm passen und habe alles dafür aufgegeben.«

»Aber du hast dich von ihm gelöst. Du hast deine Stärke wiedererlangt. Und du passt perfekt zu mir … auch ohne Anstrengung.« Er nimmt meine Hand, streichelt darüber. Verzweiflung spricht aus seinen Augen. Verzweiflung und ein stummes Flehen. »Das ist doch das, was uns ausmacht. Wir haben beide so viel durchgemacht, und wir verstehen es. Wir verstehen, dass wir beide noch im Heilungsprozess sind. Meinst du, ich bin über alles hinweg? Über Maggie? Es gibt immer noch Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass alles über mir zusammenbricht und mich begräbt. Ich kann es nicht immer kontrollieren. Aber wenn wir zusammen sind, weiß ich, dass ich es nicht kontrollieren muss. Wir können uns gegenseitig Halt geben und uns gegenseitig die Angst nehmen. Das war doch der Plan!«

Jedes seiner Worte trifft mich mitten ins Herz. In jede Faser meines Körpers. In diesem Moment weiß ich, dass ich wirklich Gefühle für Jasper Branson habe. Ich will jedes dieser Worte abspeichern, möchte sie verinnerlichen, daran glauben. Ich will ihn halten und küssen, will alle Mauern zwischen uns einreißen. Ich möchte jede Nähe, die er mir zu geben bereit ist, zulassen. Ich will alles. Das ganze Paket. Und genau das ist es, was mir Angst macht. Diese Gefühle, die so viel stärker sind, als sie es bei Mark je gewesen sind. Gefühle, die sich so viel reiner und wahrer anfühlen. Intensiv. Intensiver als die Liebe zu mir selbst?

»Ich weiß nicht, ob ich wirklich stärker bin als damals.« Ich schlucke schwer. »Du hast gesagt, dass es kein Zurück mehr gibt.«

Er sieht mich geradezu panisch an. »Wenn diese Worte der Grund sind, wieso du jetzt so zweifelst, dann vergiss sie, okay? Ich nehme sie zurück!«

»Aber du hast recht damit. Du hast verdammt noch mal recht. Ich liebe dich, Jasper«, schluchze ich. Jaspers Griff wird kurz stärker, als würde ihn die Wucht dieser Worte treffen, als müsste er nun bei mir Halt finden. Vielleicht auch, weil er ahnt, dass sich gleich alles verflüchtigen wird. »Ich liebe dich«, wiederhole ich, nun deutlicher.

»Und als du vorgeschlagen hast, dass wir zusammen nach Washington gehen könnten, habe ich es sofort in Betracht gezogen. Ich , die solche weitreichenden Entscheidungen nie wieder von jemand anderem abhängig machen wollte.«

»Es war doch nur ein Gedanke«, sagt Jasper gequält. »Nur eine Idee. Ich verlange ganz sicher nicht, dass du mir einfach dorthin folgst, wenn diese Uni nicht deinen Wünschen entspricht.« Energisch wischt er sich über die Augen. »War es vorschnell? Ja, vielleicht. Ich bin es nun mal nicht gewöhnt, eine Beziehung zu führen, in der eine gemeinsame Zukunft wirklich denkbar wäre. Und vielleicht habe ich mich von all den Möglichkeiten ein wenig hinreißen lassen, aber ich würde nie wollen, dass du meinetwegen etwas tust, das dir nicht entspricht. Ich will doch nur, dass du glücklich bist, Lou. Siehst du das denn nicht?«

»Ich weiß«, sage ich. Und ich weiß auch, dass er es nicht nachvollziehen kann. Er versteht nicht, dass es nicht darum geht, dass er mich zu irgendetwas überreden will … sondern dass ich es für ihn – für diese Beziehung – in Erwägung ziehen würde. Dabei sollte es bei diesen Dingen doch allein um mich gehen, oder? Woher soll ich wissen, wann der Wunsch, ihm nah zu sein, zu groß wird? Wann ich meine eigenen Bedürfnisse unterordne?

»Ich muss sichergehen, dass meine Liebe zu dir nicht stärker ist als die Liebe zu mir selbst«, spreche ich es aus. Und ich spüre es: spüre, dass diese Worte der Wahrheit entsprechen. »Und solange … solange geht das mit uns nicht. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Ich gehe einen Schritt zurück. »Es tut mir leid, Jasper.«

Sein Schluchzen zerreißt mir das Herz. Aber es ändert nichts an dieser tief verwurzelten Angst, mich noch einmal zu verlieren. Wunden, die nie richtig verheilt waren, sind wieder aufgerissen, und ich kann nicht riskieren, mich erneut zu verletzen, solange die Blutung nicht gestoppt ist. So intensiv meine Gefühle für Jasper auch sein mögen, so gefährlich sind sie für mich. Für meine Seele, mein Herz.

Jasper zittert, als er mich ansieht. Ich erkenne, dass er es versteht und doch nicht verstehen kann. Akzeptiert und doch mit sich ringt.

»Wenn du Zeit brauchst, dann nimm sie dir.« Er kämpft mit den Tränen. »Aber das ändert nichts daran, dass ich dich will, Lou. Ich bin bereit, meine Ängste wegzuschieben und das mit uns zuzulassen. Ich bleibe dabei. Es ist deine Entscheidung.«

Jasper dreht sich um und geht. Er geht nicht einfach hoch in sein Zimmer, sondern verlässt das Haus, als könne er die Nähe zu mir gerade nicht ertragen.

»Okay«, flüstere ich, mehr zu mir selbst.

Niemand antwortet mir, ich bin allein.