I ch habe Kopfschmerzen. Die Party ist nun zwei Tage her, und ich habe seitdem kaum geschlafen, dafür viel gearbeitet. Was früher kein Problem dargestellt hat, ist angesichts des regelmäßigeren Schlafs, den ich in den Wochen zuvor bekommen habe, anstrengend. Mein Körper ist diesen Rückfall in alte, ungesunde Muster nicht mehr gewöhnt, aber es ist das Einzige, das mir dabei hilft, irgendwie klarzukommen. Und Jasper aus dem Weg zu gehen.
Auch jetzt sitze ich bereits seit Stunden auf dem Campus, weil ich mich noch vor Sonnenaufgang aus dem Haus geschlichen habe. Auf meinem Tablet sind zwei To-do-Listen geöffnet. Die Vorbereitungen für die Sommergala laufen langsam an und bieten die perfekte Ablenkung. Bereits heute Morgen habe ich einen Zeitplan für die Gala aufgestellt und sie dem restlichen Festkomitee per E-Mail geschickt. Fast habe ich mir gewünscht, es hätte mehr Zeit in Anspruch genommen, den Ablauf zu erstellen, doch in Wahrheit waren es höchstens vierzig Minuten, in denen ich den Plan vom letzten Jahr überarbeitet und an das neue Abendprogramm angepasst habe. Der Aufhänger soll das Video sein, das bereits von Mr Peterson abgesegnet wurde. Hinzu kommt das Essen von Wade, das in möglichst sommerlich-festlicher Atmosphäre serviert werden soll. Nur die Dekoration für die Gala steht noch nicht.
Kurzerhand vervollständige ich meine Liste mit weiteren Punkten:
Instagram-Posts für die nächsten sieben Tage vorbereiten (Livestream mit Nähsession planen?)
Nachricht an Mom und Dad (wann besuche ich sie in den Sommerferien?)
Überprüfung Beamer (kann das Video abgespielt werden?)
Mit Wade über das Essen für die Sommergala sprechen (Budget klären)
Zweite E-Mail an Festkomitee: Dekovorschläge?
Ich nehme einen Schluck Kaffee, der hoffentlich nicht nur die Müdigkeit, sondern auch meine Kopfschmerzen bekämpft. Keine Ahnung, wann ich nach einer kurzen Nacht das letzte Mal so gerädert war. Alles in mir schreit nach einer Pause, aber schon der Gedanke daran versetzt mich in Panik, weil ich nur wieder über Jasper nachdenken würde. Jasper, Mark, Jasper, Mark, Gegenwart und Vergangenheit. Das Karussell ist so lange langsamer gefahren, dass es mich nun, wo es sich wieder schneller dreht, vollkommen aus der Bahn wirft und mich orientierungslos und mit Übelkeit zurücklässt. Und ich fühle mich dem nicht gewappnet. Fühle mich nicht stark genug, um das auszuhalten. Oder an Jasper zu denken. Zu überlegen, wie es weitergehen soll, weil ich darauf ohnehin keine Antwort habe.
Also arbeite ich weiter, als hätte es die entspanntere Lou der letzten Wochen, mit den Abenteuern im Kopf und der Sehnsucht im Herzen, nie gegeben.
Ich gehe Punkt eins meiner To-do-Liste an, sammle Fotoideen für Instagram und schreibe mögliche Captions. Ich erstelle sogar einen kleinen Übersichtsplan, wann ich welchen Beitrag posten könnte, um das Ganze möglichst professionell anzugehen, auch wenn alles an diesem Profil mich wieder an Jasper erinnert. An ihn und die Modenschau, die all das hier erst ins Rollen gebracht hat. All den Menschen, die mir inzwischen folgen und meine Beiträge liken und kommentieren, verdanke ich diesem Moment. Das Interesse auf Social Media und die Kommentare wegen des Wettbewerbs sind das Einzige, das mich noch am Laufen hält. Kurzerhand nehme ich mein Handy und poste direkt ein Foto von gestern Abend, als ich meine nächtliche Nähsession fotografiert habe. Die Verzierungen meiner Weste per Hand anzunähen war mühselige Kleinarbeit, aber es war auch herrlich befriedigend. Wohltuend für den überspannten Geist, auch wenn mir die Rückschritte, die ich in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht habe, durchaus bewusst sind. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich mich in den letzten Wochen besser gefühlt habe als in diesen letzten zwei Tagen. Nicht wegen meines Kummers, nicht wegen Jasper.
Nicht nur.
Vor allem auch wegen eines entspannteren Tagesablaufs und Auszeiten und wegen Nächten, in denen ich wirklich geschlafen habe, anstatt mich zwanghaft wach zu halten.
Ich vermisse diese Unbeschwertheit jetzt schon. Es schmerzt zuzugeben, dass ich wieder an demselben Punkt bin wie zu Beginn des Jahres. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich nun noch verdrehter fühle. In meine alten Routinen und Bewältigungsmechanismen zu fallen, hat etwas von einem Sicherheitsnetz, in dem ich mich geborgen fühle, und gleichzeitig ist es das erste Mal, dass ich mir seiner Begrenztheit bewusst bin. Als wäre es nicht nur ein Netz, das mich auffängt, wenn ich falle, sondern mich gleichsam auch gefangen nimmt, sodass ich mich nicht richtig bewegen kann.
Nur lösen kann ich mich davon nicht.
Der Campus um mich herum wird voller. Ich bleibe, wo ich bin, winke nur ein paar Leuten zu, die an meinem Tisch vorbeigehen, und mache weiter. Bearbeite meine Listen, hake Punkt für Punkt ab. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wohltuend und einengend zugleich.
Der einzige Grund, wieso ich mich frei im Haus bewege, ist die Tatsache, dass Jasper mit den anderen ins Kino gegangen ist. Ich kann endlich wieder die Küche nutzen, ohne darauf achten zu müssen, jemandem aus dem Weg zu gehen. Oder oben in meinem Zimmer zu hocken, mit dem Wissen, dass Jasper nur eine Etage tiefer ist.
Ich hole meine Backutensilien hervor, vermenge Leinsamen und Wasser und lasse sie ziehen. Dann zermatsche ich drei Bananen in einer Schüssel, verrühre Margarine und Rohrzucker und gebe die Leinsamen-Mischung hinzu. Jetzt noch die Bananen reinrühren, bis keine Mehlnester mehr zu sehen sind, und Zartbitterschokolade klein hacken, um sie dem Teig unterzuheben.
Ich greife gerade nach der rechten Schublade, in der wir die Schokolade aufbewahren, als ich ein Geräusch auf der Treppe wahrnehme. Ein Geräusch, das mich hochschrecken und einen Satz zur Seite machen lässt, weil ich der felsenfesten Überzeugung war, vollkommen allein im Haus zu sein. Meine Gedanken sind schnell bei einem Einbrecher, aber die dunkle Silhouette, die auf der Treppe auftaucht, gehört eindeutig nicht zu einem Fremden.
»Was machst du hier?« Ich schaffe es nicht, meinen Blick von ihm zu wenden. »Ich dachte, du wärst mit den anderen im Kino.«
»Ich hatte keine Lust«, sagt er dunkel und kommt näher. Stellt sich vor mich, sieht mich an. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, als hätte er die letzten Tage ebenso wenig Schlaf gefunden wie ich.
»Du warst gestern Abend vor meinem Zimmer.«
Erschrocken sehe ich auf. Woher weiß er, dass ich dort war? Zehn Minuten lang hatte ich vor seiner verschlossenen Tür gestanden und war hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Zweifeln. Zwischen Herz und Verstand. Habe alles durchgespielt: den Abend der Party, meine Argumente für uns, gegen uns. Getrieben von dem Wunsch, ihn zu sehen und mit ihm zu reden.
Das vermisse ich vielleicht am meisten: mit ihm zu reden. Ihn als Freund um mich zu haben.
Aber es wäre auch nicht fair gewesen, in sein Schlafzimmer zu platzen und es ihm damit nur noch schwerer zu machen. Nicht, solange sich an meinem Gefühlswirrwarr nichts geändert hat. Solange meine Ängste noch zu groß und meine Zweifel zu tief verankert sind. Also stand ich da, vor der verschlossenen Tür, die Klinke in der Hand … und habe nichts getan, außer dort zu stehen. Zu versuchen, weiterzuatmen, obwohl sich alles in mir verkrampft hat. Und schließlich ohne ein Wort in mein Zimmer zu gehen, um die Näharbeiten an meiner Weste zu beginnen.
Jasper sollte eigentlich nie etwas davon erfahren.
»Ich hatte nur etwas gehört und war auf dem Weg in die Küche.« Ausgerechnet Jasper zu belügen, ist wie ein schwerer Stein, der sich in meinem Magen absetzt.
Jasper hebt eine Augenbraue. Er kommt noch einen Schritt näher, und ich vergesse zu atmen. Instinktiv will ich einen Schritt nach hinten ausweichen, doch die Arbeitsfläche in meinem Rücken hindert mich daran.
Jasper schüttelt den Kopf. »Wieso warst du wirklich da?«
Weil ich dich vermisse.
Das ist die Wahrheit, und ich bin mir sicher, dass Jasper sie kennt. Dass er sie in meinen Augen sieht und an der Reaktion meines Körpers ablesen kann. Jasper plötzlich wieder derart nah zu sein, zerreißt mich fast. In seine Augen zu blicken, die mich sehnsüchtig ansehen. Seinen Duft zu riechen, der auf mich einströmt. Mein Körper bebt, als ich darüber nachdenke, ihn zu küssen. Das Verlangen ist unverkennbar da, lodert in meinem Innersten. Doch die Ängste, meine Argumente, wieso das hier keine gute Idee ist, prasseln unaufhaltsam auf mich ein. Sind noch genauso stark wie vor zwei Tagen.
Jaspers Hand legt sich auf meine Wange. Er streichelt darüber. »Es ist okay. Ich weiß, dass sich noch nichts geändert hat. Als ich dich vor meinem Zimmer gehört habe, dachte ich wohl nur für einen kurzen Augenblick …« Er schluckt. »Ich dachte, du wolltest reden. Vielleicht dachte ich auch, du würdest mich vermissen.«
Ich schließe kurz die Augen, atme durch und nicke schließlich. Stimme ihm zu. Obwohl mein Zustand eigentlich über das Wort vermissen hinausgeht.
Jasper seufzt schwer, seine Stirn sinkt für einige Sekunden gegen meine, während er die Augen schließt. Fast wirkt es so, als würde er meinen Duft ebenfalls in sich aufnehmen. Ihn so dicht bei mir zu haben hat etwas Berauschendes. Es nimmt mich ein, umhüllt mich wie eine Decke. Wärmend und weich. Aber auch ein wenig quälend.
Zu dem Entschluss gelangt Jasper wohl auch, als er sich wieder von mir löst, wieder mehr Abstand zwischen uns bringt. Aber er geht nicht wieder nach oben, stattdessen setzt er sich auf den Esstisch.
»Ich vermisse uns, Lou«, sagt er und macht es mir damit noch schwerer. »Aber ich meine nicht nur unsere Beziehung … sondern unsere Gespräche. Es fehlt mir, mit dir zu reden.« Traurig verzieht er die Mundwinkel. »Wir sind schon so lange befreundet … und ich will dich nicht verlieren.«
»Du verlierst mich nicht«, sage ich und meine es auch so. Mein Herz mag ängstlich und verwirrt und mein Gemütszustand momentan nicht der beste sein, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Jasper und ich schon immer füreinander da waren. Und das darf sich auch in all der Verwirrung nicht ändern.
»Ach nein?«, fragt Jasper. »Du hältst es ja nicht mal mehr in einem Raum mit mir aus.«
»Weil ich durcheinander bin«, gebe ich zu und sehe ihn demonstrativ an, anstatt seinen Blicken auszuweichen. Er soll ruhig sehen, was für ein Sturm in mir tobt. »Und weil mich alles wieder einholt. Alles, was mit Mark passiert ist. Alle Vorwürfe, die ich mir wegen ihm mache, sind mit voller Wucht zurück, und das verunsichert mich. Das ist wohl der Grund, wieso ich dir aus dem Weg gehe. Und weil meine Gefühle für dich so gewaltig sind. Sie sind da: zwischen all diesen schmerzhaften Erinnerungen und meinen Ängsten. Aber ich kann mich nicht mit diesen Gefühlen auseinandersetzen. Zumindest jetzt nicht.« Ich schlucke, es schmeckt ein wenig bitter. Es schmeckt, als würde ich Jasper und mich enttäuschen, weil ich nicht genug Kraft habe, den ganzen Schutt wegzuräumen und da weiterzumachen, wo wir aufgehört haben.
Er sitzt mit etwas gequältem, aber nicht vorwurfsvollem Blick auf dem Küchentisch und beobachtet mich. Wartet einfach ab.
»Das ändert aber nichts daran, dass wir Mitbewohner und Freunde sind und dass du immer mit mir reden kannst«, stelle ich klar. Das ist es doch auch, was ich will: uns nicht zu verlieren. Nicht so.
»Ich wollte doch den Baum für Maggie pflanzen«, sagt er zu meiner Überraschung. »Weißt du noch?«
Ich nicke perplex, damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Seit drei Wochen habe ich von dieser Idee nichts mehr gehört. Jasper wollte einige Dinge dafür abklären und mit den Rangern sprechen, aber mir war nicht klar, dass er es schon in die Tat umgesetzt hat.
»Es ist alles fix: der Standort, die Erlaubnis für die Pflanzung. Am Sonntag möchte ich es machen.« Er fährt sich durchs Haar. »Ich wusste nicht, ob ich dich fragen soll. Vermutlich ist es ein blöder Zeitpunkt, und vielleicht ist es auch schräg, dass ich das jetzt tue. Aber wenn du das mit der Freundschaft wirklich ernst meinst … würdest du dann vielleicht mitkommen? Mich begleiten?«
Allein die Tatsache, dass er darüber nachdenkt, mich dabeihaben zu wollen, bedeutet mir alles.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, frage ich dennoch. Sich von Maggie zu verabschieden ist so privat, dass ich nicht stören will. Ich für meinen Teil wäre an seiner Stelle wohl lieber allein mit mir und meinen Gedanken.
»Ja. Ich schaffe das nicht allein, ich brauche jemanden an meiner Seite.« Er sieht zu mir. »Dich.«
Mein Herz krampft sich zusammen.
»Ohne dich wäre ich doch nie an diesem Punkt. Ich wäre ohne dich nie aus meinem Zimmer gekommen und vielleicht schon gar nicht mehr an der Uni, weil ich meine Prüfungen versaut hätte. Dieser Deal zwischen uns war auf so vielen Ebenen die Rettung für mich. Wie sehr, ist dir glaube ich gar nicht klar.« Mein Mund steht offen, während Wärme meinen Körper flutet. Zuneigung. »Und ganz sicher wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich auf diese Weise von Maggie zu verabschieden, wenn dieser Deal nicht gewesen wäre.«
»Dabei war das doch allein deine Idee.«
Er steht vom Tisch auf, geht auf mich zu.
»Aber ich frage dich vor allem, weil ich eine Freundin brauche, um das durchzuziehen.« Er nimmt meine Hand, sieht mir in die Augen, in denen sich Tränen gesammelt haben. »Ich weiß nicht, ob es mir wirklich helfen oder nicht doch den Boden unter den Füßen wegreißen wird. Und ehrlich gesagt habe ich ein wenig Angst davor, die Trauer noch mal so zuzulassen. So zu durchleben. Ich habe Angst, dass sie alte Wunden aufreißt und ich dann in diesem Moment allein bin. Aber ich weiß tief in meinem Herzen auch, dass mich keiner der anderen begleiten kann, weil ich mich vor ihnen viel zu sehr zurückhalten würde, um dieses Verabschiedungsritual wirklich zu nutzen. Nur du schaffst es, dass ich zu meinen Gefühlen stehen kann. Wenn ich das mache und dann niemanden habe, der mir beisteht, weiß ich nicht …«
Er muss nicht weiterreden. Muss nichts mehr sagen. Ich bin bereits einen Schritt auf ihn zugegangen, stehe nun direkt vor ihm. Kann seine Körperwärme spüren. Wohltuend und quälend zugleich, alles in mir sehnt sich danach, ihn in die Arme zu nehmen. Stattdessen drücke ich seine Hand, halte unsere Nähe und den Blickkontakt aus.
»Ich komme mit«, entscheide ich.
Nach den zwei Tagen, in denen ich Jasper aus dem Weg gegangen bin, ist es beinahe schon paradox, zuzusagen. Ein Teil von mir möchte noch immer zurückweichen und meinem Kopf und meinem Herzen mehr Raum lassen, um mein Innenleben in Ruhe zu sortieren. Um mit Abstand zu überlegen, was ich tun möchte. Wie es weitergehen soll. Aber der andere Teil, der, der Jasper liebt – nicht nur als Mann, sondern auch als Freund –, kann ihn nicht im Stich lassen. Nicht, nachdem ich so lange dafür gekämpft habe, dass sich Jasper wegen Maggie öffnet. Dass er zu seinen Gefühlen steht. Wie könnte ich ihm diese Bitte abschlagen, wenn er meine Unterstützung so sehr braucht? Was für eine Freundin wäre ich dann?
»Ich bin für dich da«, sage ich, drücke noch mal seine Hand. Besiegle diese Abmachung, dieses Versprechen. Ganz gleich, ob sich mein Herz bei unserer Berührung sofort wieder zusammenzieht. Es ist das einzig Richtige.