Kapitel 34

N ach der Sommergala wieder mit Prüfungsvorbereitungen und schließlich mit den Final Exams konfrontiert zu werden, fühlt sich ungefähr so an, wie in den kalten Blue Lake zu springen. Die Glücksgefühle verpuffen ein wenig und arbeiten eher im Hintergrund. Der Campus verwandelt sich wieder in den unentspannten, hibbeligen Haufen Studierender, die für ungefähr zwei Wochen nichts anderes als Noten und Prüfungsergebnisse im Kopf haben. Bei Jasper und mir ist es ähnlich, auch wir verschanzen uns wieder häufiger in unseren Zimmern, um gemeinsam unseren Lernplänen zu folgen. Nur mit dem Unterschied, dass es das erste Mal Lernpläne sind, in denen ich richtige Pausen eingeplant habe. Nicht die Art von Pausen, die ich früher hineingeschrieben habe und die für die elementarsten Grundbedürfnisse genutzt wurden. Sondern richtige Auszeiten vom Lernen, die Jasper und ich meist zusammen im Bett verbringen. Manchmal kochen wir zusammen mit den anderen oder leisten Reese im Diner Gesellschaft. Besonders Corey ist häufig mit dabei, obwohl gerade er wegen seiner allerletzten Prüfungen im Studium gestresst sein sollte. Doch der Gedanke, schon bald die LBU und damit unsere Clique zu verlassen, wiegt wohl schwerer.

Seine Sprüche werden mir auf jeden Fall fehlen.

Genau wie meine Schützlinge aus dem Tutorenprogramm, die ich gestern während meiner letzten Stunde verabschiedet habe. Es war einfach an der Zeit, kürzerzutreten und mich mehr auf andere Dinge zu besinnen.

Auf Jasper und meinen Deal zum Beispiel, den ich noch lange nicht vergessen habe und der mich neben der Prüfung beschäftigt. Weil ich, ehe das Semester zu Ende geht, unbedingt ein letztes Abenteuer mit ihm erleben will.

Er sitzt am Frühstückstisch, isst Toast mit Banane und Erdnussbutter und brütet über seinem Lernplan.

»Du und ich, nächstes Wochenende«, sage ich zu ihm, als ich von hinten meine Arme um ihn schlinge.

»Bin bei allem dabei. Was steht denn an?«

»Eine Überraschung«, erwidere ich grinsend.

Jasper dreht sich zu mir um. »Gemeinheit. Du kannst mich doch nicht so zappeln lassen.«

»Nennen wir es eine Revanche für deine ganzen Überraschungen.« Ich setze mich neben ihn und klaue mir einen Bissen von seinem Toast. »Aber du musst ein ganzes Wochenende einplanen. Du brauchst Badesachen und Übernachtungszeug.«

»Das wird ja immer kryptischer.«

»Ich bin eben geheimnisvoller, als du denkst«, ziehe ich ihn auf und gebe ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. Wenn alles so klappt, wie ich es schon seit zwei Tagen in meinem Kopf plane, wird es genau das Richtige nach dem ganzen Prüfungsstress sein. Zumal wir die anstehenden Sommerferien größtenteils getrennt verbringen werden. Definitiv einer der Hauptgründe, wieso mir der Sinn nach so viel Zweisamkeit wie möglich steht.

»Also, bist du dabei? Kann ich auf dich zählen?«

»Na klar!«

Zufrieden stehe ich auf und schnappe mir mein Tablet, um gleich alles zu buchen. »Das wird klasse«, sage ich, um ihn noch ein wenig auf die Folter zu spannen. »Du wirst schon sehen.«

Unser Gepäck ist bereits in einem wunderschönen kleinen Hotel in der Nähe von Roseburg. Jasper war verwirrt, als wir in Oregon angekommen sind. Er hat mehrfach gefragt, wieso wir eigentlich hier sind, und doch habe ich ihm keine Antwort darauf gegeben. Auch jetzt, mit den Rucksäcken auf den Schultern und nach einer einstündigen Busfahrt in die Natur, scheint er noch immer keine Ahnung zu haben, was ziemlich amüsant ist. Genau in diesem Moment kratzt er sich etwas ratlos am Hinterkopf, während er sich umsieht. In Oregon ist das Wetter fast genauso warm wie in Kalifornien und bietet die beste Voraussetzung für eine kleine Abkühlung. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten.

Vor uns liegt der Rogue River in all seiner Schönheit. Glitzerndes Wasser, sprudelnde Felsläufe, umrahmt von einem Tannenpanorama, das zum Träumen einlädt. Und nach Abenteuer riecht.

»Was hast du nur vor?«

»Komm, gleich sind wir da«, sage ich mit Blick auf mein Handy, wo unser Zielort markiert ist. Eigentlich müsste er gleich hinter der Biegung kommen. Die Wegbeschreibung von der Bushaltestelle aus war recht präzise.

Wir biegen um die Ecke und sehen tatsächlich den Wagen: einen Jeep mit Anhänger, auf den verschiedene Kajaks geladen sind. Davor sind schon einige unserer Mitstreiter.

Jasper bleibt abrupt stehen. »Eine Kajaktour?«

»Eine Wildwasser-Raftingtour, um genau zu sein.«

»Was? Seit wann steht das auf deiner Liste?«

»Vielleicht habe ich heimlich ein paar neue Punkte hinzugefügt«, sage ich zufrieden. Jaspers Augen blitzen auf, als er die Kajaks mustert. Dann hebt er mich plötzlich hoch und dreht mich voller Vorfreude.

»Das wird der Wahnsinn«, murmelt er und gibt mir einen Kuss.

Wir gehen zu den zwei Guides, die bereits die Kajaks ausladen. Daneben warten drei Pärchen, zwei davon Touristen aus Deutschland, die den angrenzenden Umpqua National Forest besuchen. Es ist schön, dieses Erlebnis mit anderen zu teilen, die genauso aufgeregt wirken wie Jasper und ich. Keiner hat Erfahrungen mit Kajaktouren, und so sind sicher alle gespannt darauf, was uns wohl erwarten wird. Eins weiß ich aus dem Video der Veranstalter: So seicht wie an der Anlegestelle bleibt der Rogue River nicht. Auch wenn die Tour für Einsteiger geeignet ist, sah es auf dem Video nicht gerade nach einer Kaffeefahrt aus.

Wir bekommen pärchenweise Kajaks zugeteilt und erhalten eine Einweisung. Wir besprechen, wie wir uns verhalten, wenn das Kajak umkippen sollte, und legen eine Reihenfolge fest, in der wir die Tour bestreiten. Jasper und mein Kajak folgt direkt dem anführenden Guide Jarell, was mir ein wenig hilft, mich zu entspannen.

Für den Fall der Fälle bekommen wir Schwimmwesten und Helme. Unsere Wertsachen verstauen wir in wasserdichten Behältern, und dann gleiten Jasper und ich auch schon mit unserem blauen Kajak ins Wasser. Gleichzeitig beginnen wir zu paddeln. Sofort werden wir von der Strömung des Flusses mitgerissen, jedoch ohne dabei die Kontrolle zu verlieren.

Wir folgen einfach Jarell, der die Spitze einnimmt. Der zweite Guide übernimmt den Endpunkt unserer kleinen Kolonne.

Die ersten Meter sind Entspannung pur, einfach nur wir, das Plätschern des Flusses und der leichte Fahrtwind, der meine überhitzte Haut abkühlt. Dazu die wunderschöne Natur, die ruhig an uns vorbeizieht.

Jarell lässt sich schließlich von uns einholen. »Da vorne kommt die erste Schlüsselszene.« Vor uns rauscht ein Wasserlauf, der mir sofort einen Adrenalinschub verpasst. Der Fluss sprudelt regelrecht über die Felsen. »Haltet euch rechts«, weist Jarell an. Hinter uns kommen die Nächsten, die dieselbe Anweisung erhalten.

»Bereit?«, frage ich Jasper über das Rauschen des Wassers hinweg.

»Immer.«

»Dann los!«

Wir paddeln etwas kraftvoller, halten uns rechts und wagen uns in die Strömung. Es ist eine ruckelige Angelegenheit, denn unser Kajak gleitet etwas wackelig durch den Fluss. Wasser spritzt hoch und durchnässt mich bis auf die Kopfhaut. So viel zu meiner gewünschten Abkühlung. Jasper hinter mir lacht rau, und auch ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen, während wir weiter mit dem Fluss kämpfen. Die Mischung aus der wunderschönen Natur, der Wildheit des Flusses und der Abkühlung durch das hochspritzende Wasser ist in diesem Moment alles.

»Beste. Idee. Aller. Zeiten«, stößt Jasper aus, als wir erneut von der Strömung mitgerissen werden und mit aller Kraft dagegen ankämpfen.

Vier Stunden und mehrere Wasserläufe später sitzen wir klitschnass am Ufer des Rogue River. Der Jeep mit den Kajaks fährt davon, und unsere Mitstreiter verabschieden sich überschwänglich, doch Jasper und ich denken noch nicht daran zu gehen. Zu sehr rauschen noch Adrenalin und Glücksgefühle in unseren Adern, und ich habe das Gefühl, dass beides anhält, solange wir nur am Fluss bleiben. An diesem wunderschönen Fleckchen Erde.

Jasper sitzt hinter mir, mein Kopf ist an seine Brust gelehnt. Ich bin sicher, dass meine nassen Haare ihn volltropfen, aber es scheint ihn nicht zu stören.

»Das war klasse«, sagt er und gibt mir einen Kuss auf den Kopf. »Danke für die tolle Überraschung.«

»So was könnte ich wirklich jeden Tag machen. Auch wenn mir jetzt jeder Muskel im Körper wehtut. Ich hätte nie gedacht, dass Paddeln so anstrengend ist.«

»Jeder Muskel, hm?«, brummt Jasper mir ins Ohr.

»Keine Sorge. Bis wir wieder im Hotelzimmer sind, haben sich die Muskeln sicher ein wenig erholt«, erwidere ich grinsend und genieße es, die Reaktion auf meine Worte genau zu spüren. Dieser Moment, als Jasper sachte die Luft einzieht, sein Becken sich ein wenig anspannt. Meine Finger umkreisen seinen Oberschenkel, bis ich sehe, wie sich eine Gänsehaut darauf bildet. »Ich dachte, wir könnten uns Essen aufs Zimmer bestellen«, sage ich. »Und dann machen wir so einen richtigen Hotelabend, mit schummrigem Licht, Essen im Bett und ein wenig Zeit für uns.«

»Ist sie also doch nur nach Oregon gefahren, um mich zu verführen?«, zieht Jasper mich auf. »Ich wusste, diese Kajaktour war nur eine Masche.«

»Hast mich erwischt.«

»Und morgen frühstücken wir dann auch im Bett?«

Ich löse mich aus seinen Armen und drehe mich um, sehe ihn vorsichtig an. Die Idee, die mir schon seit Tagen durch den Kopf spukt, will nun endlich ausgesprochen werden, aber ich habe auch Sorge, damit etwas falsch zu machen.

»Ich hätte da noch eine Idee.«

»Bungeespringen? Fallschirmsprünge?«, rät Jasper.

»Nicht ganz«, sage ich lachend, werde dann aber sofort wieder ein wenig ernster. »Es gab wirklich viele Anbieter für die Raftingtour, und ich habe lange überlegt, wo wir es machen sollen. Oregon war naheliegend, schon allein, weil wir hier die kürzeste Anreise hatten. Aber es gab auch etwas anderes, was mich dazu gebracht hat, den Rogue River zu wählen. Ich dachte … jetzt, wo wir schon mal in Oregon sind und morgen noch einen ganzen Tag Zeit haben …«

Jasper mustert mich, auf seinen Lippen ein zaghaftes Lächeln. Als würde er noch in seinem Kopf abwägen, ob er die Informationen, die aus meinem Mund kommen, richtig deutet.

»Wenn du jetzt vorschlagen willst, dass wir meine Mom besuchen fahren könnten …« Er wartet darauf, dass ich ihm widerspreche. Ich tue es nicht. »Dann muss ich dich auf der Stelle küssen«, fährt Jasper fort. In seinen Augen blitzt pure Zuneigung auf.

»Wieso zwei Wochen warten, wenn Lewis und du ihr beim Umzug in ihre neue Wohnung helft? Sie sitzt doch gerade in diesem Hotel fest und ist sicher einsam, meinst du nicht? Von Roseburg aus fährt man nur eine Stunde bis zu ihrem Hotel. Wir sind also in der Nähe. Vielleicht willst du ja mit ihr Frühstücken gehen?«

»Du bist unglaublich.« Er neigt den Kopf, legt seine Nasenspitze auf meine. Seine Finger fahren liebevoll durch meine nassen Haare. »Weißt du das?«

»Ja. Ich bin schon ziemlich klasse.«

»Dein Plan hat nur einen kleinen Fehler.« Sein Daumen streift meine Wange. »Ich fände es schön, wenn du mitkommen würdest. Meine Mom kennenlernst.«

»Bist du sicher?«

»Wenn es dir nicht zu schnell ist …«

Ich horche in mich hinein, suche nach Ängsten oder Zweifeln, aber ich kann keine finden. Da ist nur ein lautes Ja , das durch meinen Kopf hallt. Ein Ja, das mir in diesem Augenblick so viel bedeutet. So wichtig ist.

Mir ist klar, dass wir beide an unseren Problemen arbeiten müssen und es nicht immer leicht sein wird. Ich bin froh, im nächsten Semester meinen Therapieplatz antreten zu können, weil es bedeutet, dass ich richtig mit der Arbeit beginnen kann. Dass ich mich hoffentlich zukünftig davor schützen kann, noch mal so von der Vergangenheit beeinflusst zu werden, dass sie meiner Gegenwart und Zukunft im Weg steht. Ich möchte, dass Jasper und ich wachsen. Jeder für sich und auch wir zusammen.

Das hier ist nur der Beginn einer Heilung. Aber es ist ein Anfang.

Dass mich die Aussicht, Jaspers Mutter kennenzulernen, so angstfrei zurücklässt und meine Zweifel leise werden, zeigt, dass ich mich genau auf dem richtigen Weg befinde. Egal, wie lang er auch sein wird. Wie lange es auch dauert.

»Ich fände es wirklich schön, deine Mom zu treffen«, entscheide ich. Lasse los. Lasse mich drauf ein.

»Und wer weiß, ob es in den Sommerferien sonst eine Chance dazu gibt. Das steht und fällt wohl damit, wie gut mein Praktikum läuft.« Erst gestern habe ich mit Mr Shan die letzten Punkte besprochen und alles geklärt: Drei Wochen werde ich in Oakland verbringen und in seiner Firma arbeiten. Und hätte die Möglichkeit, auf fünf Wochen zu verlängern, sollte es gut laufen. Damit wäre ich zwar den Großteil meiner Ferien beschäftigt, aber die Türen, die sich damit öffnen könnten, sind zu groß, um es nicht zu tun. Allein der Gedanke, wie nahe ich meinem Traum die nächsten drei Monate kommen werde, ist aufregend und beglückend. Erst das Praktikum, dann die Preisverleihung in L.A. … dann meine immer größer werdende Followerschaft auf Instagram.

»Ich werde Mom sofort anrufen, sobald wir aus dem Funkloch raus sind«, sagt Jasper lächelnd. »Keine Ahnung, wann ich ihr das letzte Mal eine Frau vorgestellt habe. Irgendwann in der Highschoolzeit wahrscheinlich.«

»Hoffentlich mag sie mich dann auch.«

»Klar. Wie könnte sie nicht?« Sein Blick ist voller Liebe, ehe er mich küsst. Mich küsst, wie es nur Jasper kann: wenn er diese Sehnsucht in meinem Herzen freisetzt und diese Lust in mir pulsiert.

»Dann sollten wir gleich aufbrechen. Bevor die Sonne untergeht und uns mit den nassen Sachen zu kalt wird.«

»Noch fünf Minuten«, erwidert Jasper träumerisch und blickt wieder auf den Fluss, er lässt das Panorama noch mal auf sich wirken. »Es ist so friedlich hier.«

Ich kann nicht anders, als Jasper anzusehen. Seine Lippen sind ein wenig geöffnet, nasse Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht und verleihen ihm einen Surferboy-Look. Die hellblauen Augen wirken heute noch heller, als er lächelt. Und unfassbar glücklich wirkt.

Hätte ich noch auf der Wintergala jemals gedacht, hier mit Jasper zu sitzen? Ihm einmal so nah zu sein?

Sicher nicht.

Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass wir beide innerhalb von sechs Monaten so viele Veränderungen durchmachen würden. Aber es ist ein geradezu berauschendes Gefühl, zu sehen, wo es mich persönlich hingeführt hat. Zu diesem Mann, dessen Anblick sich wie ein Abenteuer und gleichzeitig wie Nach-Hause-Kommen anfühlt. Zu Träumen, die plötzlich zum Greifen nah sind. Karussells, die endlich anhalten.

Manchmal muss man wohl einfach loslaufen und den Absprung schaffen, ehe man die Welt aus neuen Perspektiven sehen und aus alten Mustern ausbrechen kann. Jetzt, wo ich einmal damit angefangen habe, kann ich sie erst sehen: die ganzen Abenteuer, die das Leben bietet. Und ich bin bereit für jedes Einzelne davon.