Kerstin Horner sah die Schlagzeilen am Zeitungskiosk, als sie zur Arbeit fuhr, müde und aufgewühlt nach der ereignisreichen Nacht. Wir sollten von hier fortziehen, war ihr erster Gedanke. Der zweite galt Klara: Ich muss Klara anrufen.
Sie versuchte es in der ersten Pause: Leider, Doktor Horner operiert gerade. Aber Kerstin konnte mit einer Krankenschwester sprechen, die ihr sagte, dass Klara Dienst hatte und sicher so gegen neun Uhr am Abend das Gespräch annehmen konnte. »Dann ist es normalerweise ruhig«, sagte die Schwester. »Von wem darf ich grüßen?«
»Das ist gleich, ich werde heute Abend anrufen.«
Sie war Viertel vor zwei zu Hause, Sofia war ruhiger, sie hatte mit Anders telefoniert: Er hatte nicht viel gesagt, aber jedenfalls nicht den Hörer aufgelegt.
»Um zwei Uhr ruft Hans an. Man kann ja nicht so viel übers Funktelefon sagen, aber ich möchte deine Erlaubnis, dass ich ihm alles erzählen darf, was passiert ist. Darf ich?«
»Natürlich.«
»Und das betrifft Mama auch. Ich werde Klara heute Abend im Krankenhaus in Uddevalla anrufen.«
»Ist schon in Ordnung.«
Sie nahm das Kind in den Arm, musste es aber loslassen, weil das Telefon klingelte. Hans natürlich, er war immer pünktlich. Sie sagte, dass es Sofia besser gehe, und wollte wissen, von welcher Idee er gesprochen hatte.
»Ich werde am neunzehnten in Rotterdam abgelöst«, sagte er. »Am einundzwanzigsten kann ich einen Flug zu den Kanarischen Inseln nehmen. Und dort möchte ich dich und Sofia treffen. Und Klara natürlich. Was haltet ihr von Weihnachten in der Sonne?«
»Davon halte ich sehr viel«, sagte Kerstin, und ihre Stimme jubelte.
»Und ich denke, es wäre gut, wenn du Anders und seine Mutter mitkriegen könntest. Für die beiden und auch für Sofia. Und du, fahr, sobald du kannst. Wenn du Schwierigkeiten mit den Tickets hast, kannst du mit Lövgren von der Reederei reden, der besorgt sie für dich. Sobald alles klar ist, telegraphier es mir.«
»Wird gemacht!«
»Gut. Und Kerstin – wir schaffen das.«
»Ja.«
Der ganze Nachmittag war wie ein Fest. Kerstin redete so schnell, dass Sofia Probleme hatte, etwas zu verstehen. Innerhalb von zehn Minuten war das Kind im Auto, gut eingemummelt auf dem Weg ins Reisebüro, wo Kerstin einen dicken, bunten Katalog holte. Danach in schneller Fahrt zu Berglunds:
»Und wenn die jetzt nein sagen.«
Sofia war ängstlich und verzagt, als Kerstin klingelte und sagte:
»Kaffee her, denn jetzt wollen wir unsere Flucht aus Östmora planen. Wir setzen uns in die Küche, Anders, du kommst auch her.«
»Es geht ihm besser«, flüsterte Katarina. »Runes Besuch scheint geholfen zu haben.«
Aber der Junge war elendig blass und bewegte sich unsicher in der Küche. Es gab Kerstin einen Stich ins Herz, ihn so zu sehen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Als alle saßen, erzählte sie von dem Gespräch, zitierte Hans. »Das war wie ein Befehl«, sagte sie.
Sofia lachte laut, riss Anders in ihrer Freude mit. Aber am schönsten war, wie Katarina strahlte und sagte, dass sie das Geld hätte, sie hatte gespart und wollte schon immer einmal auf die Kanarischen Inseln.
»Und Johan?«
»Nein, er will sicher nicht.«
»Aber lässt er euch reisen?«
»O ja, er tut alles, damit Anders wieder froh wird.«
Kerstin schoss der Gedanke durch den Kopf, dass diese sich aufopfernden Eltern eine schwere Bürde für Anders waren. Doch der Junge spürte diese Last nicht, nicht im Augenblick. Er sagte eifrig:
»Papa wird Weihnachten sicher bei Onkel und Tante auf dem Land feiern. Wie wir es sonst immer tun.«
Sie blätterten in den Katalogen. Sofia las laut vor und beschrieb die Fotos. Zum Schluss entschieden sie sich für ein Apartmenthotel an Gran Canarias Westküste.
»Das Meer ist so blau, dass es in den Augen wehtut«, sagte Sofia, und Kerstin bemerkte, dass Anders ängstlich aussah.
Im Auto auf dem Heimweg überlegte sie, ob sie zu Sofia sagen sollte, sie müsste vorsichtiger mit ihren Worten sein, wenn sie die Welt beschrieb, weil Anders so ängstlich war. Aber sie schwieg und dachte, dass Anders‹ Probleme, die verschiedenen Realitäten zusammenzubekommen, sicher mit dieser übertriebenen Rücksichtnahme zusammenhingen.
Vielleicht war es ganz gut für ihn, dass Sofia so war, wie sie war.
»Ich weiß, dass du an Leberhaschee denkst«, sagte Sofia vom Rücksitz. »Aber ich will feiern. Können wir zum Mittag nicht lieber Pfannkuchen essen?« Kerstin, die wirklich an Leber gedacht hatte, versuchte sie zu überreden.
»Seit du krank geworden bist, hast du nur Würstchen und Süßigkeiten gegessen. Du brauchst mal wieder was Vernünftiges!«
»Oma!«
»Na gut, dann machen wir Pfannkuchen.«
»Mit Erdbeermarmelade.«
»Aber nur, wenn du gleich nach dem Essen ins Bett gehst.«
»Okay. Aber ich nehme den Katalog dann mit.«
Kerstin seufzte und war sich klar darüber, dass sie das Telefon mit in die Küche nehmen musste, wenn sie mit Klara reden wollte.
Um neun Uhr hatte sie Sofia ins Bett gebracht, das Telefon in der Küche eingestöpselt und die Tür geschlossen.
»Meine kleine Klara, ich bin es, Mama.« Kerstin hörte selbst, wie entschuldigend ihre Stimme klang.
»Ist was passiert?«
»Hast du die Zeitungen gelesen?«
»Nein, dazu habe ich nie Zeit.«
Kerstin nahm sich zusammen, ruhig und ohne Untertöne erzählte sie von dem Wunder in der Östmora-Kirche, über das gemeinsame Träumen, über Anders‹ Verzweiflung und Sofias Schuldgefühle.
»Mein Gott«, sagte Klara.
Kerstin fuhr fort mit der Sensationshascherei, den Zeitungen, dem Klatsch und sagte:
»Wir müssen weg von hier. Ich habe mit Hans gesprochen, und er schlägt vor, dass wir Weihnachten auf den Kanarischen Inseln feiern. Wann kannst du wegkommen?«
»Ich habe vom 15. an frei und wollte dann nach Hause kommen.«
»Das ist gut, damit ist uns geholfen.«
»Mama, bist du beunruhigt?«
»Merkwürdigerweise, Klara, jetzt nicht mehr. Sofia ist so offen, so phantastisch. Wir kriegen das sicher in Ordnung.«
Dann sammelte sie all ihren Mut und sagte offen heraus:
»Am meisten Angst habe ich … um dich gehabt. Dich anzurufen. Meine liebe kleine Klara, sei mir nicht böse.«
Es blieb lange still, bis die dünne Stimme einzelne Worte hervorbrachte:
»Ich werde es versuchen, Mama.«
Kerstin sagte »Tschüs«, legte auf und ließ den Tränen ihren Lauf.