Ich brauche einen klaren Kopf.«
Jonas stand lange im Bad und betrachtete sein Spiegelbild. Das Gesicht eines unkomplizierten Menschen, rund mit Stupsnase, Kinn mit Grübchen, blaue Augen. Genau das – blauäugig.
Er hatte mehr Angst, als er zugeben wollte. Ich bräuchte eine Anleitung, dachte er, wusste aber gleichzeitig, dass Klara dabei nie mitmachen würde.
Es war nicht allein seine mangelnde Erfahrung, die das Gespräch zu einem Wagnis machte, es waren auch seine Gefühle. Er liebte Klara Horner seit dem ersten Tag an der medizinischen Fakultät, weil sie sich von allen anderen unterschied. Durch ihre spröde Art und ihre Ausstrahlung.
Er erinnerte sich an einen Kommilitonen, der gesagt hatte: »Natürlich ist sie hübsch, aber sie ist eher eine Waldnymphe als eine Frau.« Und etwas später, als alle im Kurs einander kannten: »Deine wunderbare Klara ist eine Streberin, eine kleine, blöde Streberin. Ein braves Mädchen, das alles kann und damit angibt.«
Sie war tüchtig, zeitweise geradezu überwältigend gut. Und sie strahlte auch auf den Festen, glücklich, offen und dabei dennoch rätselhaft.
Plötzlich fiel ihm eine Szene ein mit dem Professor vorn, einem Patienten mit einem ungewöhnlichen Symptombild und Klara, die plötzlich ihren Mund öffnete und die Diagnose stellte. Zur Überraschung aller, dann der Blick des Professors auf sie, verblüfft und misstrauisch. Schließlich sagte er: »Das war vortrefflich, Horner, wie sind Sie auf die Spur gekommen?«
Und Klara, die verschüchtert antwortete: »Ich weiß nicht, es war nur so ein Gefühl, das ich hatte …«
Der Professor hatte daraufhin eine kürzere Vorlesung darüber gehalten, wie wichtig sie sei, die Intuition in der ärztlichen Kunst. Wie das meiste, was der Mann sagte, waren es Floskeln, aber Klara hatte ausgesehen, als hätte die Weisheit selbst zu ihr gesprochen.
Mein Gott, wie wenig Jonas begriffen hatte, er, der das Mädchen liebte, aber sich nie traute, es ihr zu sagen. Und der sich von ihrer praktischen Art und ihrer absoluten Verweigerung, das Unfassbare anzuerkennen, abschrecken ließ.
Zum tausendsten Mal fiel ihm ihr Streit in Uddevalla ein, wo sie beide ihr praktisches Jahr machten.
»Warum willst du Psychiatrie studieren, Jonas? Du musst doch wissen, dass die meisten Wahnsinnigen unheilbar sind.«
»Mich interessiert das Unbewusste, das, was existiert, aber außerhalb von Raum und Zeit.«
»Wenn es denn existiert.«
»So dumm bist du nicht, wie du jetzt tust, Klara.«
»Entschuldige. Aber warum möchtest du etwas wissen, was man gar nicht wissen kann?«
»Weil ich glaube, dass wir ein Schicksal haben. Ich bilde mir ein, dass das Unbewusste erkannt werden will, um dadurch etwas zu offenbaren … Gott auf Erden.«
»O Scheiße, jetzt wirst du auch noch religiös. Und außerdem weißt du gar nicht, wovon du redest.«
Es war das letzte Mal gewesen, dass sie sich getroffen hatten, sie kam nicht zu seinem Abschiedsfest. Danach hatte er sie nur noch in seinen Träumen gesehen. Mein Gott, dachte er, schon damals war es ja ganz deutlich, da hatte er sie bereits wie eine Elfe über dem Boden schweben sehen. Sie hatte es ihm sogar einmal im Traum gesagt, dass sie ihre Schuhe verloren hatte, ihre schweren Schuhe, die sie auf dem Boden hielten.
Er wusch ab, räumte auf, öffnete eine Dose mit Pilzen und bereitete Butterbrote. Und genau wie er gehofft hatte, weckte der Pilzduft sie. Sie kam in die Küche geschlurft und schnüffelte.
»Ich habe Hunger«, sagte sie, »merkwürdigerweise habe ich Hunger.«
Kurz nach vier begannen sie wieder. Sie war sehr ernst, fast feierlich.
»Wie du inzwischen wohl verstanden hast, fühle ich mich fremd in der Wirklichkeit, wie ein Flüchtling, der immer aufpassen muss, nicht entlarvt zu werden. Aber meine Fremdheit ist größer als die der Einwanderer, denn ich habe mein Heimatland vergessen. Mir ist nur noch eine Art wortloser Sehnsucht geblieben und eine … Ehrfurcht gegenüber etwas Vergessenem, Wildem.«
Sie weinte.
»Es gibt ein Flötensolo von Karl-Erik Welin. Manchmal, wenn ich mich stark fühle, traue ich mich, es zu spielen. Vielleicht kennst du es sogar. Im Vordergrund gibt es eine Melodieschleife, schön und wehmütig. Aber was es so fast unerträglich schön macht, das ist das Echo, die Flöte antwortet mit einem Echo, wiederholt das Thema wie aus weiter Ferne. Ich habe es verloren, das Echo, das mir bei allem Tiefe und Inhalt gab. Ich bin nur noch zweidimensional.«
Er gab ihr ein Taschentuch, sie putzte sich die Nase, ihr Gesicht verhärtete sich vor Entschlossenheit.
»Die Flucht in die Wirklichkeit begann in dem Frühling nach der Vereinbarung mit Mama. Sie ließ uns beide für zwei Wochen krankschreiben, und wir fingen an zu pauken. Natürlich konnte ich in der kurzen Zeit nicht alle Lücken schließen, aber ich lernte, wie man es macht.
Mein Zeugnis sank auf einen Tiefpunkt, die anderen Lehrer in der Schule waren besorgt darüber, aber Mama nahm es ruhig hin, sie log und erklärte, dass ich eine schwere Infektion gehabt hätte und dass ich erst wieder zu Kräften kommen müsste. Sie kann gut lügen, meine Mutter.
Kurz vorm Ende des Schuljahrs kam Papa nach Hause und kaufte ein Segelboot, so ist er nun mal. Den ganzen Sommer habe ich mich wie im Gefängnis gefühlt, Jan und Papa segelten, Mama und ich lernten. Aber es war Papa, der mich durchhalten ließ. Er sagte, wenn man etwas verliert, dann bekommt man auch etwas dafür wieder. Und ich würde die Fähigkeit bekommen, selbst denken zu können.
Zu denken, nicht nur zu sein.
Er war unbarmherzig. Er sagte, dass ich mit meiner Art zu erinnern aufhören müsse. Stattdessen müsse ich eine neue Form der Erinnerung aufbauen, wie ein Lager, Regalfach für Regalfach. Das war ein mühevoller Job. Und ich fragte: Warum? Und er sagte, dass man nicht einfach in der Zeit herumreisen und alles vergleichen könne. Man brauche ein Kellerlager, um ein Erlebnis neben das andere zu packen, es zu beurteilen und seine Wahl zu treffen.
Er erzählte mir von Hellseherinnen und Medien. Sie hätten eine Gabe, sagte er, aber sie seien oftmals so ungebildet und verwirrt, dass man sie nicht ernst nehmen könne. Das sei tragisch, sagte er.
›Ich glaube nicht, dass sie dümmer sind als andere. Aber sie haben es wie du gemacht. Sie waren nie gezwungen, ihren Verstand und ihren Kopf zu trainieren.‹
Er sprach über Hexen, über all diese Frauen, die wegen ihrer Kenntnisse auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren. Ein ganzer Schatz alter Weisheiten verschwand mit ihnen, sagte er. Das war furchtbar, aber in gewisser Weise hatten sie selbst einen Teil Schuld daran, weil sie nie gelernt hatten, selbst zu denken. Sie konnten sich mit keiner Logik gegenüber den Pfarrern und deren heimtückischen Fragen verteidigen.
Ich weiß noch, dass ich weinte, denn ich wusste ja, wie erniedrigt und verzweifelt sie sich gefühlt haben mussten, genau wie ich, als Mama mit ihrem Verhör begann.
Er verurteilte mich zur Verbannung. Das sah ihm gar nicht ähnlich, und hinterher habe ich oft gedacht, dass er gar nicht begriffen hatte, wie groß der Verlust für mich war.
Es war so ein schöner Sommer, ich kann mich nicht daran erinnern, dass es auch nur einen Tag regnete. Auch die Abende waren heiß, wir saßen im Garten, und Papa erzählte von seiner Kindheit, von den Nazis und dem Krieg. Ich hatte einiges schon vorher gehört, aber jetzt verstand ich es. Wir sprachen über Ideologien, Politik, Bücher – das ständige Problem meines Vaters auf den langen Reisen ist, ausreichend viele Bücher bei sich zu haben. Bei jedem Flug muss er Übergewicht bezahlen.
Plötzlich war ich dreizehn, fast erwachsen, und konnte am Gespräch teilnehmen. Langsam ahnte ich, was er meinte, als er sagte, ich würde etwas als Ersatz bekommen.
Aber weiterhin war ich ja noch in vielen Bereichen schrecklich unwissend. Am schlimmsten war der Mangel an Einsicht in andere Menschen. Ich hatte nie einen Gedanken darauf verschwendet, wie andere wohl dachten oder fühlten. Eine einzige gute Sache hat diese schreckliche Wundergeschichte in Östmora. Sofia hat ihren kleinen blinden Freund erschreckt und verletzt und weiß es selbst. Sie hat Anders gegenüber starke Schuldgefühle, sagt Mama. Und die habe ich auch, ich muss, wir müssen ihm die Angst nehmen.
Im Mamas altem Bücherregal daheim bei Großvater fand mein Vater, was er suchte. Er kam mit ›Anne auf Grönkulla‹ zu mir und sagte, das solle ich lesen.
Das machte mir unglaublich viel Spaß. Und, mein Gott, Jonas, was habe ich nicht alles in dem Sommer gelesen, einfach alles. Außer Märchen, die bekam ich nicht.«
»Aber jemand hat dir doch sicher Märchen vorgelesen, als du noch kleiner warst.«
»Ja. Aber weißt du, mich hat nie die Handlung interessiert. Ich habe mich auf die Bilder konzentriert und bin in ihnen verschwunden. Und jetzt war es wieder so, monatelang reiste ich von Annes Heimat Grönkulla zu Charlotte Löwenskölds Pfarrhof in Värmland. Und dann weiter mit Mobergs Auswanderern nach Amerika, wo ich eine ganze Weile bei Scarlett O’Hara in den Südstaaten blieb. Auf eine ganz normale Art und Weise war ich unsterblich in Rhett Butler verliebt, bis ich ihn in dem alten Film im Fernsehen sah. Clark Gable war nicht mein Typ.
Sie waren sehr streng, was Filme betraf, meine Eltern. Und nicht nur mit mir, auch Jan durfte selten ins Kino gehen. Erst als sie ihre Bemühungen aufgaben, Jan dazu zu bewegen, etwas anderes als Serienhefte zu lesen, schafften sie sich einen Fernseher an. Und wie sie befürchtet hatten, sah er sich jeden erstbesten Actionfilm an und brachte einen fast um, falls man ihn bei irgendeiner blöden amerikanischen Detektivserie störte.
Als ich im Herbst in der Oberstufe anfing, wurde es für mich leichter, und ich bekam wieder normale Zensuren. Nur ab und zu, in äußerster Bedrängnis, griff ich auf meine alten Tricks zurück. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Freunde. Ich kicherte mit der Clique, hatte eine beste Freundin, die Karin hieß, und war sogar in einen langweiligen, pickligen Jungen verliebt. Und fast jeden Abend dachte ich, dass Papa Recht gehabt hatte mit seinen Worten, dass ich etwas für den Verlust bekommen würde.
Dennoch war ich traurig, im Grunde genommen war ich die ganze Zeit traurig. Mama wusste das, sie hat Habichtsaugen, und nichts entgeht ihr. Ich glaube, manchmal hört es sich an, als würde ich Mama hassen. Aber das stimmt nicht, man kann doch nicht einen ganzen Menschen hassen. Nur Teile. Was so schlimm ist, das ist ihre Gerechtigkeit.
Wie jetzt mit Sofia. Es wäre doch menschlich, nicht wahr, wenn es zwischen uns Eifersucht und Reibereien gäbe. Um das Kind. Aber dem ist nicht so, Mama weiß es besser. Denn sie hat eingesehen, dass sie die uneingeschränkte Macht hat, da das Kind ja bei ihr wohnt. Und Macht beinhaltet Verantwortung.
Deshalb war sie sehr darauf bedacht, mir meinen gerechten Platz in der Welt des Kindes zu geben. Deshalb spricht sie über mich, lässt den Phantasien über mich und der Sehnsucht nach mir breiten Raum. Das ist so falsch, weil die Grundvoraussetzungen ja nicht verändert werden können.«
»Und welche sind das?«
»Dass Kerstin Sofias Mutter ist mit allem, was das an Sicherheit und Erziehung bedeutet. Das Kind kann nicht zwei Mütter haben.«
»Da bin ich aber anderer Meinung, die kann es schon haben. Du bist Opfer einer Schablone unserer Kultur. Die Kernfamilie mit der einen, einzigen großen Mutter ist eine ziemlich neue Institution. Und meiner Meinung nach reichlich gefährlich.«
Er sah ihre Verwunderung und traute sich deshalb, weiterzusprechen: »Vielleicht habt ihr euch ja, deine Mutter und du, in ein Netz von Schuld verstrickt.«
»Gegenseitiger Schuld?«
»Es scheint so.«
Sie schwieg lange Zeit, weinte wieder und sagte: »Du hast wohl Recht. Es gibt noch etwas …«
»Neben dem Kampf um Sofia und um deinem Vater?«
»Was Papa betrifft, so habe ich nie eine Chance gehabt, das habe ich dir doch erklärt. Und was Sofia betrifft, so glaube ich, dass ich es bin, die sie auf Abstand hält. Ich gehe nicht auf das ein, was Sofia und Mama mir anbieten, weil ich Angst um das Kind habe. Sie kommt mir zu nahe, ich ziehe eine Grenze. Sie weiß zu viel, ich muss sie fern halten.«
»Hast du Angst vor dem, was das Mädchen bei dir sehen kann?«
Sie weinte hemmungslos und konnte nur nicken.
»Weil sie so ist wie ich, ist das gefährlich. Sie lockt mich zurück, und wenn ich ihr zu nahe käme, müsste ich ihre Besonderheiten bestätigen. Verstehst du?«
Wieder blieben sie lange schweigend sitzen. Aber dann putzte Klara sich die Nase und ging zurück in ihre Geschichte.
»Das Jahr in der Oberstufe«, sagte sie, »das hätte gut werden können, Jonas, das hätte mir ein Gefühl der Heimat in der Wirklichkeit geben können. Wenn nicht die Katastrophe eingetreten wäre.«