12

Es war ein später Frühling, mein letztes Halbjahr in der Oberstufe. Du weißt, wie das sein kann, ein fast unerträgliches Warten, das man mit dem Gras und den Bäumen teilt. April, aber neue Kältewellen, Neuschnee, der sich schwer auf die keimenden Leberblümchen legt. Und dann das Licht, das einen nachmittags irreführt, bevor der nächste Schneefall einsetzt.

Am schlimmsten ist die Dämmerung, nicht wahr? Wenn man fühlen kann, wie die Sehnsucht der kahlen Bäume in dieses blaue Licht gesogen wird.«

Sie hatten Kaffee getrunken, Klara hatte ihn gekocht, während er Kopenhagener gekauft hatte. Sie konnten ein wenig über seine unaufgeräumte Küche witzeln und hatten beschlossen, den Tag mit geräuchertem Lachs und einer Flasche Weißwein zu beschließen.

Jetzt saßen sie wieder im Wohnzimmer, sie war blass, aber fest entschlossen.

»Der einundzwanzigste April war ein Mittwoch, und schon beim Aufwachen wusste ich, dass dieser neue Tag etwas Gefährliches an sich hatte. Das war merkwürdig, war es doch ein klarer Tag. Und warm, endlich.

›Es kommt ein Gewitter‹, sagte ich am Frühstückstisch. Mama sah überrascht auf, und Jan lachte mich aus. ›Jetzt spinnst du aber, Schwesterchen, im April gibt es doch kein Gewitter.‹

›Ich fühle aber, dass ein Gewitter kommt‹, sagte ich, aber das stimmte nicht, und das war mir in dem Moment klar, als ich Jan ansah. Ich bekam solche Angst, dass ich zitterte, als ich auf seinen Blick traf, und Mama fragte: ›Klara, meine Kleine, ist dir nicht gut?‹

Ich konnte ihr nicht antworten. Aber wie üblich beschloss sie für sich, dass es mir nicht gut ging und dass das sicher daran lag, dass ich meine Regel bekommen sollte. Also steckte sie mich ins Bett und gab mir ein schmerzstillendes Mittel, das der Landarzt verschrieben hatte.

Ich hatte oft Probleme mit der Menstruation.

Nun wusste ich aber, dass sie sich irrte, es war nicht die Zeit für die Regel. Dennoch war es schön, um die Schule herumzukommen und schlafen zu können, von diesen Tabletten wurde man schrecklich müde. Ich wachte erst wieder auf, als Jan von der Schule heimkam, zehn Scheiben Brot aß und dann seine Schlittschuhe und Hockeyausrüstung nahm, um zur Kunsteisbahn der Gemeinde zu verschwinden.

Bevor er ging, sagte er: ›Vielleicht hattest du doch Recht mit dem Gewitter, es zieht ein ziemliches Unwetter auf.‹ Ich antwortete ihm nicht, ich fand ihn einfach doof.

Mama war auf irgendeinem Treffen und sollte erst nachmittags nach Hause kommen. Als mein Bruder weg war, ging ich in die Küche und holte ein Paket Dorsch aus dem Gefrierfach. Dann legte ich mich wieder ins Bett.

Aber ich konnte nicht einschlafen, ich spürte, wie die Tabletten das Hirn freigaben, das klar und kalt wie Eis wurde. Und je schärfer ich dachte, umso mehr Angst bekam ich. Ich zog die Gardinen auf und betrachtete das Unwetter, das vom Meer heraufzog. In wenigen Stunden würde der Sturm mit eisigen Schneeböen über uns sein. Ich weiß noch, dass ich dachte, wie gut, dass die Bäume noch nicht ausgeschlagen haben, dass sie noch kahl und bloß dastehen.

Ich ging in die Küche, stellte das Radio an und begann Kartoffeln zu schälen. Im Radio sprachen sie vom Wind, der über Ålands Gewässern Orkanstärke erreichte. Aber ich wusste, dass das, was geschehen würde, nichts mit dem Sturm zu tun hatte.

Mama kam genau in dem Moment zurück, als das Unwetter über uns war. Ich freute mich so, ihr Auto zu hören, dass ich auf den Hof lief, um ihr entgegenzugehen. Wir standen dort im Sturm, umarmten uns, und für einen Moment glaubte ich, ich könnte zu ihr vordringen: ›Mama, es wird etwas Schreckliches passieren.‹

Aber sie lachte nur und sagte, dass wir schon schlimmere Unwetter erlebt hätten, dass das Haus stabil sei und dass der Sturm in wenigen Stunden vorübergezogen wäre. Sie war die Tochter eines Lotsen, an der Küste geboren und wusste viel übers Wetter. Mit ihr sprechen zu wollen war sinnlos – wie üblich. Aber ich hielt mich dicht an sie in der Küche, wo wir das Mittagessen kochten, es aßen und eine Portion in den Wärmeofen stellten. Für Jan.

Von den folgenden Stunden erinnere ich nur noch, dass der Sturm vorüberzog und der Schnee in Regen überging. In strömenden Regen. Die Uhr zeigte zehn, Jan kam nicht. Sie rief auf dem Sportplatz an, aber niemand nahm ab: ›Sie sind wohl gegangen‹, sagte sie und sah mich dabei lange an, und endlich sah ich meine Angst in ihren Augen. Aber sie meinte, er sei sicher mit einem seiner Freunde nach Hause gegangen, wo er darauf wartete, dass der Regen aufhören würde.

Wir starrten einander an, denn wir wussten beide, dass sie log, um uns zu trösten. Jan, der Pflichtbewusste, hätte angerufen, wenn er sich verspäten würde. Eine Weile später sagte sie, dass wir ihn suchen müssten.

›Wir nehmen den Wagen und fahren langsam die Strecke ab.‹

Wir hatten gerade unsere Stiefel angezogen, als es an der Tür klingelte. Draußen standen zwei Männer, Polizisten, und ich dachte: Es ist vorbei. Sie sprachen sehr langsam, als müssten sie nach den richtigen Worten suchen. Es war ein Unfall passiert … betrunkene Jugendliche, die Fahrerflucht begangen hatten, Jan im Krankenhaus. Wir hörten nur einzelne Worte.

Dann schrie Mama: ›Ich muss zu ihm‹, und einer der Polizisten hielt sie zurück, und der andere sagte: ›Es ist zu spät, er ist auf der Stelle gestorben.‹

Alles wurde ein Chaos, ich kann mich nicht erinnern, was dann geschah, nur an Mamas Weinen. Sie schrie wie ein Tier. Es schien, als heule sie wie die Wölfe, die man im Fernsehen hört. Dann war der Arzt da und Tante Inger und andere, ich glaube, das ganze Haus war voller Leute. Aber niemand kam an Mama heran, sie schrie, hörte nicht auf zu schreien. Zum Schluss schüttelte der Arzt sie, einen Moment lang glaubte ich, er wollte sie schlagen, und sprang dazwischen, um sie zu beschützen.

Irgendwie kam ich auf ihren Schoß, groß wie ich war, und sie schlang ihre Arme um mich. Und verstummte. Der Arzt holte Tabletten heraus, aber ich schlug sie ihm aus der Hand.

Wir brauchten nichts zum Beruhigen, davon war ich überzeugt. Dann sah ich, dass sie etwas sagen wollte, es aber nicht konnte. Ich legte mein Ohr an ihren Mund, ich hörte nichts, aber ich wusste es dennoch:

›Hans. Papa.‹

Ein Funkruf hätte Stunden gebraucht, wir konnten nicht warten. Er war auf dem Weg heim, irgendwo im Ärmelkanal. Ich sagte dem Arzt, er sollte Lövgren anrufen, den Personalchef der Reederei. Aber er guckte auf die Uhr, der Idiot sah auf der Uhr, dass es schon nach Mitternacht war. Er ist dumm, darin gebe ich Mama Recht.

Der Polizist, der geblieben war, war sehr viel klüger: Als ich aufstehen wollte, um selbst nach Lövgrens Telefonnummer zu suchen, hielt er mich zurück. ›Du bleibst bei deiner Mutter. Wie hieß er?‹ Er brauchte keine Minute, dann hatte er die Nummer gefunden. ›Guten Tag, hier ist die Polizei … er muss nach Hause kommen, seine Frau befindet sich in einem kritischen Zustand, ein Telegramm … Ja, ja, gut, rufen Sie zurück, sobald Sie etwas wissen.‹

Als er den Hörer aufgelegt hatte, kam er zu uns, legte einen Arm um Mama und sagte so laut und deutlich, als rede er mit einem Kind, dass sie ein Telegramm schicken würden und dass sie damit rechneten, bald einen Hubschrauber aus Frankreich zu bekommen, dass Papa morgen in aller Frühe in Paris oder London wäre und die erste Maschine heim nehmen würde.

Mama bekam ein wenig Farbe und konnte flüstern, dass sie ihn nicht abholen konnte, sich nicht traute … mit dem Auto. Und der Polizist sagte, dass sie das schon organisieren würden, jemand würde in Arlanda sein.

Die Leute gingen, der Arzt auch. Aber er meinte, wir sollten lieber nicht allein bleiben, und Mamas Augen suchten die des Polizisten, der nickte und telefonierte. Ich nehme an, mit seinem Chef. Als er zurückkam, sagte er, dass er über Nacht bleiben würde – und mit einer Art wütender Befriedigung:

›Sie haben die Idioten geschnappt, die das Auto gefahren haben.‹

Ich erinnere mich nicht mehr, wie er Mama auf das Sofa im Wohnzimmer brachte. Er muss sie getragen haben. Sie schrie wieder los, als sie mich loslassen musste. Sobald er sie hingelegt hatte, nahm er mich und legte mich in ihre Arme. Er holte eine Decke aus dem ersten Stock und kochte Tee. Mama wollte nichts trinken, aber er nahm seinen Befehlston an: ›Es ist wichtig, dass ihr etwas trinkt, so ist gut, ja.‹

Später schlief er im Sessel neben uns. Als es ruhig geworden war, konnte ich fühlen, dass Mama auch in den Berg gegangen war. Wir hatten gemeinsam die Welt verlassen.

Ab und zu klingelte das Telefon, zuerst die Reederei, alles ging nach Plan. Großvater rief an, und der Polizist sagte, wir würden endlich schlafen und dürften nicht gestört werden. Schließlich war es Papa, um sechs Uhr morgens, vom Flughafen Heathrow in London, er würde um 12.20 Uhr in Arlanda sein. Ich hörte Teile des Gesprächs: ›Frau Horner hat einen schweren Schock, ja, ja, ich bin die Nacht über hier geblieben. Das Mädchen? Nein, sie ist unglaublich stark und gefasst.‹ Der Polizist, er hieß Åke, versuchte mich daran zu hindern, vom Sofa aufzuspringen und den Hörer zu greifen: ›Papa …‹

Seine Stimme war merkwürdig, aber er sagte das, was ich hören wollte: ›Wir schaffen das, mein Mädchen, versuche Mama dazu zu bringen, dass sie das begreift, wir werden das schaffen.‹

Mama heulte nicht mehr, wenn ich sie verließ. Sie wimmerte, das war fast noch schlimmer. Aber Åke sagte: »Jetzt müssen Sie sich zusammennehmen, Kerstin. Sie haben noch ein Kind, und die Arme hat in dieser Nacht so viel ertragen müssen, wie sie kaum ertragen kann.«

Das wurde ihr wohl irgendwie bewusst, denn sie hörte auf zu wimmern, und ich konnte auf die Toilette gehen, ich musste so dringend pinkeln. Während ich mir im Bad das Gesicht wusch und die Zähne putzte, kam ich aus dem Berg hervor und begann zu begreifen. Jan, ich würde Jan nie wieder sehen. Meinen kleinen Bruder.

Mir wurde ganz übel vor Trauer, ich war so traurig. Nicht versteinert. Und ich wusste mit einem Mal, was mich wieder in die Wirklichkeit geholt hatte. Papa, nicht das, was er gesagt hatte, sondern seine Stimme.

Mama hatte aufgehört zu wimmern, war aber immer noch im Berg. Sie saß in der Küche, und Åke machte Frühstück. Ich ging zu ihm und flüsterte:

›Papa …‹

Åke nahm mich auf den Schoß, hielt mich fest in seinen Armen und flüsterte:

›Natürlich habe ich auch daran gedacht, wie es ihm in dieser Nacht gegangen ist … seit das Telegramm ankam, im Hubschrauber und jetzt … während er wartet.‹ Er hatte Tränen in den Augen, der Polizist, und er fluchte: ›Verdammte Scheiße‹, sagte er. ›Verdammte Scheiße.‹

Das half mir, plötzlich konnte ich auch weinen, ich weinte und weinte. Beide suchten wir den Kontakt zu Mama, aber sie konnte uns nicht sehen.

›Du bist ein ungewöhnlich starkes Kind‹, sagte der Polizist. ›Vielleicht kommst du ja nach deinem Vater.‹ Das war eine Frage, ich hörte es und antwortete: ›Er ist mir ähnlich.‹«

 

»Als Åke ging, um wieder beim Polizeirevier anzurufen, setzte ich mich neben Mama auf das Küchensofa. Sie zog mich an sich heran, versuchte nach einer Weile etwas zu sagen, konnte es aber nicht. Mich störte das nicht, ich wusste ja, wo sie war. Aber der Polizist war beunruhigt, weil sie nicht reden konnte, fluchte über den Landarzt und sagte, wir bräuchten psychiatrische Hilfe.

Das war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich dieses Wort hörte, und ich bekam Angst. Ich flüsterte, es würde schon vorbeigehen, sie würde zurückkommen, sobald Papa zu Hause wäre. Ich trank Kaffee, zum ersten Mal verstand ich, warum die Erwachsenen gerne Kaffee tranken. Er tröstete, und die Kopfschmerzen, die ich von dem vielen Weinen bekommen hatte, verschwanden.

Um elf Uhr fuhr Åke nach Arlanda. ›Du schaffst es schon, es ist ja nur für zwei Stunden.‹ Ich hob die Hand, es war ein Versprechen. Er ging zum Auto, kam aber noch einmal zurück: ›Hast du ein Foto von deinem Papa? Damit ich ihn erkenne.‹

Er bekam das Foto von Mamas Nachttisch, mit Rahmen und Glas und allem, und warf es auf den Rücksitz. Als wir allein auf dem Küchensofa zurückblieben, tat mir der Bauch vor Trauer weh, und ich wollte zurück in den Berg zu Mama. Aber mir fiel mein Versprechen ein, und dann war da noch etwas anderes. Ich war an Jans Zimmer vorbeigegangen, als ich das Bild geholt hatte, an seinem unordentlichen, unaufgeräumten Zimmer. Das war so schrecklich, das war so schlimm, dass mir der Weg in den Berg versperrt war.

Wir saßen da wie zusammengeleimt, als das Auto kam und Papa da war. Sofort kam Leben in sie, wie ich es dem Polizisten gesagt hatte. Die beiden standen nur da, und plötzlich konnte sie sprechen: ›Hans, mein Geliebter, du siehst so müde aus.‹

›Wir sind alle müde‹, erwiderte er. ›Vor allem Klara, die so tüchtig war. Lasst uns schlafen gehen, alle drei.‹

Er hatte keine von uns beiden umarmt, aber jetzt umarmte er den Polizisten ganz fest: ›Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wie ich Ihnen für alles danken kann.‹ Åke wurde feuerrot. Da sah ich, dass Papa weinte. Er stand da, umarmte den Polizisten und weinte wie ein Kind. Und ich begriff, dass es keinen Berg gab, um in ihn zu fliehen, nicht an diesem Tag, auf lange Zeit hin nicht.

Bevor Åke uns verließ, ging er durch das Haus und zog die Telefonstecker heraus. Und dann ging er zu Tante Inger hinüber, um sie zu bitten, das Haus wie ein Hofhund zu bewachen. Wir hörten, wie er ihr auf dem Hof sagte, dass sicher die Leute mit Blumen und allem Möglichen angerannt kommen würden, dass wir aber auf keinen Fall gestört werden dürften.

Wir legten uns alle drei in das große Bett in Mamas Zimmer. Und merkwürdigerweise konnten wir schlafen. Als wir aufwachten, war es bereits dunkel, und alle drei hatten wir Kopfschmerzen.

›Hoch mit dir, mach Essen für Mann und Kind‹, sagte Papa. Und sie gehorchte, sie briet irgendwelche Steaks. In der Zwischenzeit rief Papa Tante Inger an, die sagte, dass der Arzt sich Sorgen machte und kommen wollte. Ich kann heute noch seine Stimme hören, als er sagte: ›Sag dem Arzt, er kann sich seine Pillen in den Arsch stecken. Wir schaffen es allein.‹

Irgendwie brachten wir das Essen hinunter. Dann öffnete Papa eine Flasche Whisky und schenkte ordentlich in drei Gläser ein. Für mich auch. Mir wurde ganz schwindlig, aber dann spürte ich, wie der Alkohol in meinen Magen sank und die Trauer löschte.

Wir schliefen erneut, bis die Sonne aufging. Es war schönes Wetter. An dem Tag kam der Frühling. Die Vögel sangen, als wären sie wahnsinnig, und die Sonne erleuchtete jedes Detail der schrecklichen Wirklichkeit.«