14

Es gab immer noch keinen Anlass für Lachs und Wein. Jonas kochte Kaffee. Klara schmierte Brote.

»Das Merkwürdige daran ist, dass ich mich nicht an die Schreckensvisionen aus der Zeit im Berg erinnern kann. Nur an die mit dem Monster. Kannst du das verstehen?«

»Das liegt vielleicht daran, dass du das Monster auf einer bewussten Ebene geschaffen hast, als du noch die Kontrolle hattest. Es gehörte also nicht zum Unbewussten.«

»Warum ist es dann gefährlich geworden?«

»Es war wohl verbunden mit einem Schuldbewusstsein, das du verdrängt hattest. Du hast dich offensichtlich für Jans Albträume geschämt, ohne es dir einzugestehen. Dann starb er. Und wir haben immer denen gegenüber, die sterben, Schuldgefühle, vor allem den Jungen gegenüber, die ihr Leben nicht leben konnten und unerwartet sterben.«

Klara blieb lange Zeit still. Schließlich fragte er, ob sie in der Lage wäre weiterzumachen.

»Ich muss wohl.«

Sie trank ihren Kaffee aus und fing an:

»Über die darauf folgende Zeit gibt es nicht viel zu sagen. Trotz der Einwände der Ärzte und Mamas Unruhe ging ich wieder in die Schule. Ich schaffte es, an allen Prüfungen der Neunten teilzunehmen, und bekam ein gutes Zeugnis. Papa benutzte die letzten Schulwochen dazu, das Boot zu verkaufen und für das Geld ein gebrauchtes Wohnmobil zu kaufen. Er plante eine lange Reise für uns drei – nach Norwegen, wohin ich schon immer wollte.

Wir waren sechs Wochen lang unterwegs, fuhren in der phantastischen Landschaft an den Fjorden entlang, machten lange Wanderungen, schliefen alle drei dicht beieinander im Auto. Das war schön, alles stimmte, die Stille, die Müdigkeit, die Schönheit. Nach einer Weile konnten wir über Jan sprechen, unsere Erinnerungen an ihn hervorholen, die gemeinsamen wie auch diejenigen, die für jeden einzelnen anders waren. Mir wurde klar, dass ich einen anderen Jungen gekannt hatte als meine Eltern, dass ich mehr über seine Phantasien und Träume wusste. Kinder haben ja etwas Besonderes gemeinsam.

Es wurden viele Abende und viele Erinnerungen. Es tat weh, das schon, natürlich tat es weh, aber langsam nahm der Schmerz ab. Und dann kam die Trauer. Und Trauer ist schwer, aber nicht unerträglich.

An einem der letzten Abende – wir hatten in einem Feriendorf im Romsdal Halt gemacht und den Wagen am Flussufer abgestellt – hörten wir auf zu weinen. Das war sonderbar. Es gab dort einen Wasserfall mit sicher zwanzig Metern Fallhöhe, der uns in seinen Wassernebel einschloss. Es schien, als fließe der Wasserfall direkt durch uns hindurch. In der Nacht schliefen wir nicht lange, und als die Sonne aufging, badeten wir in dem eiskalten Fluss. Dort, hinterher, konnte ich erzählen, was passiert war … im Wahnsinn. Es war nicht einfach, aber es war gut für sie, und ich spürte, wie sich dadurch meine Schuld verringerte.

Ich platzte heraus mit Versicherungen: Nie mehr. Ich glaube, dass das Mama half, erinnere mich aber daran, dass Papa besorgt aussah. Aber ich selbst war so unerschütterlich sicher, dass ich mich nicht um seine Zweifel kümmerte: Nie mehr, niemals.

Als wir wieder daheim waren, fasste Mama einen Beschluss. Wir sollten weg von Östmora, eine Zeit lang, mindestens für ein Jahr. Sie gab eine Anzeige auf, und es gelang ihr, die möblierte Zweizimmerwohnung eines Stockholmers zu mieten, der für ein Jahr ins Ausland gehen wollte. Sie lag in der Linnégatan, mitten in der Steinwüste. Dann bekam sie für mich einen Platz in der Norra Real. Und sie meldete sich selbst für ein Pädagogikseminar in der Universität an.

Alles lief, als würden freundliche Mächte uns helfen. Und das war gut, für sie und für mich. Als Papa im Spätsommer nach Bahrain flog, waren wir bereits umgezogen.

Es war eine schwierige Schule, mit hohen Anforderungen. Das war mir nur recht, so hatte ich keine Zeit für Träume. Ich setzte mir das Ziel, in jedem Fach die beste Zensur zu bekommen, ich arbeitete kontrolliert und zielbewusst. Und es gelang mir. Wir hatten es schön zusammen, Mama und ich, wenn wir mit unseren Unterlagen an dem großen Küchentisch saßen, Abend für Abend. Mama fuhr jedes zweite Wochenende nach Östmora, um Großvater zu besuchen und nach dem Haus zu sehen. Aber ich fuhr kein einziges Mal mit ihr.

Papa kam zu Weihnachten heim, an das Weihnachtsfest erinnere ich mich nicht mehr so gut, nur dass es ihm in der Großstadt nicht gefiel und dass er häufiger zurück nach Östmora fuhr. Mama fuhr natürlich so oft sie konnte mit ihm, doch sie hatte ja ihre Prüfungen. Ich war eine Zeit lang allein, bis ich Marie kennen lernte.

An den Tag, als Marie, das neue Mädchen, in unsere Klasse kam, erinnere ich mich noch sehr gut. Ich fand sie so schön, groß und elegant. Und anziehend. Es war etwas Mystisches, etwas Geheimnisvolles an ihr. Du weißt, wie es in einer Schulklasse ist, plötzlich war das neue Mädchen die Beliebteste der Klasse, alle umschwärmten sie. Ich ging davon aus, dass ich sowieso keine Chance hatte, deshalb hielt ich mich zurück. Dennoch suchte sie mich aus; eines Tages ging sie auf dem Schulhof direkt auf mich zu und sagte: Ich will deine Freundin sein.

Das sah Maria ähnlich, sie war selbstsicher und kam gleich zur Sache. Wir wurden die besten Freundinnen, und ich erfuhr ihr Geheimnis. Sie hatte vorher in Strängnäs gelebt, wo ihr Vater Lehrer war. Aber dann hatte der sich in eine andere Frau verliebt, und Marie war mit ihrer Mutter nach Stockholm gezogen. Sie konnte über alles reden, wie sehr sie ihren Vater hasste und wie stark sie sich doch nach ihm sehnte, wie schwach er war, dass er trank, dass er schon immer getrunken hatte. Sie nahm an, dass ihre Mutter eigentlich gar nicht so traurig über die Scheidung war, sondern im Gegenteil ganz froh, die Verantwortung loszuwerden.

Wir blieben das Schuljahr über zusammen. Sie schlief oft bei mir, wenn Mutter in Östmora war, und mit der Zeit wurden ihre Mama und meine auch gute Freundinnen. Maries Mutter war Ärztin, eine tüchtige, selbstsichere Frau, die wirklichste Person, die ich jemals getroffen habe. Ich bewunderte sie auf diese schwärmerische Art, wie es Kinder oft tun. Sie erzählte mir viel von ihrer Arbeit im Krankenhaus, und bald stand es für mich fest: Ich wollte Ärztin werden, denn diese Arbeit würde mich in die Gegenwart zwingen, zu einzelnen Handlungen in konzentrierter Anwesenheit, mit großer Verantwortung.

Und das stimmt, ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Vielleicht hängt das auch mit dem zusammen, was Papa gesagt hat: Dass sich die Wirklichkeit im Körper befindet und dass die Grenze vom Körper gesetzt wird. Verstehst du? Hast du von dem Indianervolk gehört, das sich mit den Worten begrüßt: ›Riech an mir‹?

Um es kurz zu machen, so wurde ich in den zwei folgenden Gymnasialjahren bei Maries Mutter untergebracht. Das war schön, ich wurde fast wie eine Schwester für Marie. Und ich lebte mit einer ganz anderen Mutter, einer freieren, weniger reglementierenden. Doktor Ing-Marie Larsson ließ uns beide in Ruhe, als vertraute sie uns. Ich konnte mich von Kerstin Horner und ihrer ewigen Angst lösen.

Jetzt siehst du aus, als wolltest du protestieren? Aber du kennst meine Mutter nicht.«

»Nein. Und du kennst sie auch nicht. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig, denn was uns jetzt interessiert, ist allein dein Bild von ihr und warum es so aussieht.«

Klara schwieg wieder, lange Zeit dieses Mal. Das war schwer zu schlucken. Schließlich sagte sie:

»Warum sollte ich ein falsches Bild von ihr haben?«

»Wir haben vorher schon drüber gesprochen, Klara. Weil du dich ihr gegenüber schuldig fühlst. Das ist üblich, ich glaube, alle haben ihrer Mutter gegenüber diffuse Schuldgefühle.«

Es verging geraume Zeit, bis er mit einem Zwinkern in den Augen fragte:

»Wie hat Marie deine Mutter gesehen?«

»Du bist gerissen«, sagte Klara und konnte sogar lachen. »Marie hat für Kerstin geschwärmt, für ihre beherrschte Art und ihre Schönheit.«

»Deine Mutter ist also hübsch?«

»Ja, habe ich vergessen, das zu erwähnen? Ist das wichtig?«

»Jetzt machst du dir was vor, Klara. Du weißt genau, dass das sehr wichtig für dich ist.«

»Neid?«

»Ja.«

»Schneewittchen«, sagte Klara. »Spieglein, Spieglein an der Wand … Und es kam immer die gleiche Antwort. Kerstin war die Schönste im ganzen Land.«

»Es gibt neue Interpretationen des alten Märchens«, sagte Jonas und lachte laut auf. »Zumindest die Jungianer glauben, dass die Mutter nie versucht hat, das Mädchen zu vergiften. Die Tochter hat es selbst gemacht, indem sie in bösen Phantasien über die Mutter schwelgte.«

»Stiefmutter«, korrigierte Klara.

»Bist du dir da sicher?«

 

Plötzlich war es leichter, in dem Zimmer zu atmen, sie konnten gemeinsam lachen. Und Klara erzählte, wie Marie Kerstin überredet hatte, sich die Haare kurz schneiden zu lassen, wie sie eines Tages nach Hause kam, mit dunklen Strähnen im kurz geschnittenen weißen Haar.

»Das sah schön aus, sie hat eine Kopfform, zu der das passt«, sagte Klara. »Heute noch fährt sie jeden Monat einmal die weite Strecke bis zu dem teuren Frisör in Stockholm und lässt sich dort die Haare schneiden.«

 

Sie machten einen Spaziergang im Viertel, kletterten zur Masthuggskyrkan hinauf, schauten von dort oben über die Stadt und das Meer. Wieder zurück, öffneten sie eine weitere von Jonas‹ unzähligen Pilzdosen.

»Ich bin müde, aber merkwürdig erleichtert«, sagte Klara. »Wie sieht es bei dir morgen aus? Ich muss um sechs Uhr abends im Krankenhaus von Uddevalla sein.«

Jonas hatte den Vormittag frei. Also beschlossen sie, früh am nächsten Tag weiterzumachen. Klara kroch in Jonas‹ Bett, er selbst versuchte auf dem Sofa im Wohnzimmer zu schlafen.