15

Traust du dich, eine Diagnose zu stellen?«, fragte Klara bereits beim Morgenkaffee in der Küche.

»Also, das ist eigentlich gegen die Abmachungen«, erwiderte er. »Außerdem handelt es sich hier um eine langwierige Geschichte, einen Prozess, der Jahre brauchen kann.«

»Ich weiß. Aber etwas kannst du doch wohl sagen? Als Freund, nicht als Arzt.«

Er überlegte, sagte:

»Dann musst du es auch wie den Rat eines Freundes aufnehmen.« Und als sie nickte, fuhr er fort: »Ich glaube nicht, dass die Disziplin, die du hast, die Kontrolle, die du dir selbst auferlegst, gut für dich ist. Ich begreife natürlich, dass sie dir Sicherheit gibt. Aber der Preis ist zu hoch. Und das betrifft nicht nur die Trauer über das Verlorene, das Echo, das tief in dein Leben dringt, wie du es ausgedrückt hast. Das ist tragisch, und ich glaube, es kann sogar gefährlich werden.«

»Ich soll also das Risiko eingehen, wahnsinnig zu werden, um ab und zu in meiner andersartigen Welt zu sein und sie zu genießen. Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen?«

»Nein, ich denke vielmehr, du solltest einfach immer ein bisschen Wahnsinn zulassen. Es ist doch nun mal so, Klara, dass deine Art, die Dämonen in Schach zu halten, die denkbar dümmste ist. Sie zu leugnen, ist nämlich die sicherste Methode, ihnen zu erlauben, die Oberhand zu gewinnen.«

Klara wurde so aufgewühlt, dass sie aufstehen musste, die Küche verlassen. Er hörte sie im Wohnzimmer auf und ab gehen.

»Du hast Recht«, sagte sie, als er hinter ihr herkam. »Ich weiß, dass du Recht hast, denn das wird nur bestätigt von dem, was ich jetzt erzählen will.

Und sie sind schuld daran«, schrie sie. »Mama, aber vor allem Papa.«

»Klara, du bist erwachsen. Schieb die Schuld nicht auf andere.«

»Papa«, sagte sie, aber er unterbrach sie:

»Klara, lass zumindest für eine Weile deinen Vater außen vor.«

»Aber er hat so falsch gehandelt.«

»Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um Schicksal und Realitäten. Vor vielen Jahren hast du mir einmal in Uppsala von deinem Vater erzählt. Ich weiß also, dass er nicht nur der Held ist, der einen Supertanker befehligt. Er ist auch ein durch den Krieg geschädigter Junge, der brutal in eine wahnsinnige, unfassbare Welt gestoßen wurde.

Es ist schon bemerkenswert, dass es ihm überhaupt gelungen ist, sein Leben zu ordnen. Aber er hat es geschafft, trifft eine liebevolle Frau und bekommt eine Tochter, ein bezauberndes kleines Wesen, das ihn anbetet. Versuche doch zu verstehen. Wie sollte er der Königsrolle widerstehen können, die das Kind ihm antrug? Hier geht es um Verführung, Klara, ebenso stark und ebenso unbewusst wie die Dämonen in einer Psychose.«

»Aber das Erbe«, sagte sie. »Du sprichst überhaupt nicht davon, dass dieses Anderssein, meine Gesichte und mein Wahn erblich sind.«

»Ich denke schon, dass das ein Faktor sein kann. Aber wie du weißt, kann man seine Gene nicht austauschen, wir können nur zusehen, dass die Disposition für eine gewisse erbliche Belastung durch das Umfeld aufgewogen wird. Das weißt du ebenso gut wie ich.«

»Sofia«, sagte sie. »Sofia trägt ein doppeltes Erbe.«

Sie stellten die Kaffeetassen fort und setzten sich wie am vergangenen Abend hin, einander gegenüber, mit dem Schreibtisch zwischen sich.

»Wir waren bis zur Gymnasiumszeit gekommen. Ich nehme an, dass du das Abitur mit guten Noten bestanden hast?«

»Ja, das habe ich. Ich ging in die Karolinska. Aber dann, ja, dann kam das, was du die Realitäten des Schicksals nennst. Und die Dämonen haben die Macht ergriffen, stärker als je zuvor. Wie du gesagt hast, gewannen sie Kraft, weil ich sie verleugnet habe.

Den Sommer nach dem Abitur habe ich allein in Östmora verbracht. Marie, die nicht wusste, was sie machen wollte, fuhr für ein Jahr auf ein College in den USA. Mama fuhr nach langem Zögern nach Rotterdam, um Hans auf einer Fahrt zu begleiten.

Jeden zweiten Tag nahm ich den Bus nach Uppsala, weil ich dort zur Fahrschule ging. Eines Tages geriet ich nach der Fahrstunde in eine Kunstausstellung, in erster Linie, weil ich mich langweilte. Besonders kunstinteressiert war ich eigentlich nicht.

Da verschwand ich … in einem großen Gemälde. Auf diesem Bild gab es alles, was ich verloren und verleugnet hatte. Da gab es Grotten, tief unter dem Kellerboden, in Zeiten vor unserer Zeit. Und dort leuchteten die Bäume wie Sonnen, dort gab es Bewegungen, einen Scharfblick, der entsteht, wenn alles gleichzeitig geschieht. Und dann erhielt ich die Gewissheit, dass es andere Menschen gab, die genau wie ich sahen. Und die das erkannten, was es seit Beginn der Zeit gegeben und einst allen Menschen gehört hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, ob Minuten oder Stunden. Aber plötzlich sagte eine Stimme hinter mir: ›Du bist also auch dort gewesen?‹ Ich drehte mich um, langsam wie in Zeitlupe, sah einen Mann und wusste, dass auch er den Berg besucht hatte.

Natürlich war er schön, der Maler. Sehr viel schöner als Papa, der eher mir ähnlich sieht. Johannes war perfekt in klassischer Art. Aber müde, erschöpft und äußerst einsam. Alt, ja, ich sah wohl, dass er mindestens doppelt so alt war wie ich, nein, älter, älter als Papa.

Es gab, wie du gesagt hast, nichts anderes zu tun, als mit ihm zu gehen. Er wohnte in einer schmutzigen Einzimmerwohnung in Vaksala, dort war es schrecklich und wunderbar zugleich, und er warf eine Matratze auf den Boden und zog mich aus. Alles war, wie es sein sollte, ich war daheim angekommen.

Wir liebten uns, er war sehr zärtlich, es war voller Lust, ja, und eingeschlossen in das Wirkliche, in die Eindeutigkeit. Die nunmehr konkret wurde, wo mein ganzer Körper teilnehmen durfte, mein Mund, die Brüste, der Schoß. Er war verrückt nach meiner Brust. Verrückt …

Es dauerte nicht lange, nur ein paar Tage, bis ich begriff, wohin er auf dem Weg war.

Dennoch musste ich ihm ein Stück folgen. Ich konnte nicht widerstehen. Ich bildete mir ein, dass ich die Grenze wieder erkennen und an ihr stehen bleiben könnte. Tage und Nächte vergingen, eine Woche, zwei. Die Grenze kam immer näher, und nicht ich war es, nicht meine Erfahrungen aus der Psychose waren es, die mich anhalten ließen. Er war es oder, besser gesagt, sein Wahnsinn. Eines Nachts, in der Nacht, als er mich weckte und mir verkündete, dass er der Einzige sei, der die Geheimnisse des Kosmos kenne, und dass er die Welt befreien müsse, kam so eine Insel der Vernunft auf mich zugeflogen. Es war ein Wort, das genügte: Größenwahn.

Er war Alkoholiker. Also gab ich ihm die Flasche, den Schnaps. Und als er wieder einschlief, schlich ich mich davon, leise wie ein Dieb. Ich musste in der kalten Morgendämmerung stundenlang auf den Bus nach Östmora warten. Aber heim kam ich, badete, aß und konnte sogar einschlafen.

Als ich aufwachte, hatte ich Angst, wusste er meinen Namen, meine Adresse? Ich nahm es nicht an, wir hatten uns nicht auf dieser Ebene getroffen. Erst nach einigen unbegreiflich langen Tagen kam das Schuldgefühl. Und die Unruhe, was wohl aus ihm geworden war. Als Atelier benutzte er eine alte Scheune irgendwo im Wald hinter Vaksala. Ich wusste nicht, wo sie lag, aber plötzlich war ich mir sicher, dass er dort war.

Ich zögerte noch länger, mehrere Tage lang. Aber zum Schluss musste ich los. Ich fuhr nach Vaksala, ging die verschlungene Straße über die Felder zum Wald hin, traf einen Gärtner und fragte ihn. Doch, er kannte den Weg.

In dem Moment, als ich die Tür zum Atelier öffnete, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war, dass mein Geliebter nicht länger erreichbar war. Er kannte mich nicht wieder, wurde aber wild vor Wut, warf einen Farbeimer nach mir, bekam eine Axt zu fassen.

Ich hatte nicht direkt Angst, ich war so viel jünger und schneller als er. Ich lief, kam in den Ort, ging zum Polizeirevier, erklärte dort alles. Sie waren überhaupt nicht überrascht, sagten kaum etwas, nur: ›Ja, ja, dann ist es für den Armen also mal wieder so weit.‹ Ich fuhr mit ihnen im Wagen, als sie ihn abholten, ihn fesselten und ihn wegbrachten – nach Ulleråker.

Zwei Tage später fuhr ich dorthin, um ihn zu besuchen. Er war friedlich, so harmlos, wie man es von den Tabletten und Spritzen wird. Und er erkannte mich nicht.

Auf dem Heimweg dachte ich, dass es mir eine Lehre sein sollte, dass ich sie gebraucht hatte und dass ich nie, nie … na, du weißt ja. Dann nahm ich meine Fahrstunden wieder auf, machte das Haus sauber und kaufte für ein Willkommensessen für Mama und Papa ein, die bereits unterwegs waren von Rotterdam. Als sie heimkamen, war alles wieder gut.

Abgesehen von der Trauer. Es tat mir so Leid, Jonas. Für ihn und auch für mich. Wieder hatte ich es verloren …

Mama sah wohl die Trauer. Aber sie fragte mich nicht, und ich hatte beschlossen, niemandem zu erzählen, was vorgefallen war. Da wusste ich ja noch nicht, dass ich dazu gezwungen sein würde, weil ich ein Kind erwartete.«

 

»Der Regen setzte in dem Sommer Anfang August ein. Trotzdem badete ich jeden Morgen im Meer, lief im Bademantel unterm Regenschirm hinunter und wieder zurück zum Haus. Aber eines Morgens musste ich auf halbem Weg stehen bleiben und mich übergeben.

Ich glaube, ich habe sofort begriffen, zumindest sobald ich zu meiner letzten Regel zurückrechnete. Und damit du siehst, wie unbeschreiblich dumm ich bin, auch wenn ich nicht verrückt bin, so kann ich dir berichten, dass ich mich ungemein freute. Es war, als hätte mich eine sichere Hand auf den Boden gesetzt, dorthin, wohin ich gehörte, mir meinen Platz und meine Aufgabe angewiesen.

Ich nahm den Zehn-Uhr-Bus in die Stadt, gab eine Urinprobe in der Apotheke ab. Sie sagten mir, ich müsste ein paar Stunden warten. Meine Füße gingen von allein zur Kunstausstellung, ich suchte sein großes Gemälde auf, sah es und wusste, dass nicht alles verloren war.

Der Test war positiv, wie ich schon vorher gewusst hatte.

Erst im Bus nach Hause überfiel mich die Vernunft. Meine Ausbildung. Mama. Papa. Ich war ja nicht so unbedarft, dass ich nicht gewusst hätte, dass sich so etwas regeln lässt, ich hatte mehrere Freundinnen am Gymnasium gehabt, die ohne weiteres eine Abtreibung hatten machen lassen. Allein das Alter genügte, sie waren zu jung, um ein Kind zu kriegen.

Ich war erst achtzehn, auch für mich wäre eine Abtreibung kein Problem. Aber ich würde nie die Hilfe eines Arztes in Anspruch nehmen, das wusste ich genau. Ich würde das Kind bekommen, mir einen Job suchen und zurechtkommen. Aber zuerst ging es darum, ihnen klarzumachen, was geschehen war, und es ihnen verständlich zu machen.

Als ich zurückkam, waren sie dabei, das Wohnmobil sauber zu machen. Erst in diesem Moment, dort an der Garage, bekam ich Angst, wurde ich eiskalt vor Furcht. Mama staubsaugte im Auto, sie sah mich gar nicht kommen. Aber Papa, der immer eine Antenne für mich hatte, tauchte unter dem Wagen auf, sah mich an und sagte: ›Klara, Kleines, was ist los?‹ Im gleichen Moment stellte Mama den Staubsauger ab und nahm mich in den Arm. Ich erinnere mich noch daran, wie ich sagte: ›So, Mama, jetzt wäre ein Trostkakao angebracht. Aber ich will keinen, weil mir so übel ist.‹

Worauf wir vollkommen hysterisch zu lachen begannen. Das war schrecklich, ich konnte nicht aufhören, obwohl ich sah, wie besorgt sie wurden, ich versuchte herauszubringen, dass ich nicht verrückt war, dass es darum nicht ging, dass es viel schlimmer war.

Es regnete nicht mehr, deshalb setzten wir uns in die Fliederlaube. Und endlich konnte ich mich beruhigen und erzählen … das, was ich dir heute Morgen erzählt habe.

Mein lieber Papa bekam Mordgedanken.

›Wo zum Teufel ist dieser Kerl?‹

Worauf ich erwiderte: ›Er ist in Ulleråker und viel wahnsinniger, als ich es je gewesen bin. Weißt du, das war es, was wir gemeinsam hatten.‹«

 

»Mein Gott«, sagte Klara, »so erging es meinen Eltern mit ihren Kindern.

Für Papa stand der Entschluss fest: Abtreibung. Worauf ich ihm sagte, dass ich dabei nicht mitmachen würde. Merkwürdigerweise verstand Mama das, sie würde auch nie eine Abtreibung machen lassen, sagte sie. Und dann sagte sie zu Papa, er solle sich beruhigen. Woraufhin er nur noch wütender wurde und schrie, dass er es verdammt nochmal nicht ruhig hinnehmen könnte, wenn wir in eine Katastrophe hineinschlitterten. Und da verlor Mama ihre Beherrschung; sie schlug mit der flachen Hand auf den Gartentisch und sagte mit Eisesstimme: ›Achte auf deine Worte. Eine Katastrophe ist es, wenn ein Kind stirbt, nicht, wenn ein neues Leben auf die Welt will.‹«

»Es gibt Momente, wo ich finde, deine so schreckliche Mutter ist einfach phantastisch«, sagte Jonas erstaunt.

»Natürlich ist sie das, das macht es ja so anstrengend. Wie soll man es mit einem Menschen wie ihr aushalten?

Ich war müde, nahm aber alle meine Kraft zusammen und erzählte ihnen, dass ich mir einen Job suchen und einen Krippenplatz für das Kind finden würde. In Stockholm, wo sich die Leute nicht so sehr füreinander interessieren. Ich würde es schon schaffen, sagte ich.

›Und deine Ausbildung?‹

Ich erwiderte, dass die sowieso langweilig sei. Und als ich das aussprach, merkte ich, wie unglaublich traurig es war, den ganzen Traum aufgeben zu müssen, den Traum von dem schönen Beruf, der mir so viel bedeutet hätte.

Wie wir an diesem Abend ins Bett gekommen sind? Ich erinnere es nur noch dunkel, nur noch, dass ich sie streiten hörte, und das war widerwärtig. Ich wachte gegen zwei Uhr nachts auf und schlich mich in die Küche, um Wasser zu trinken. Da hörte ich sie immer noch im ersten Stock reden. Aber ihre Stimmen klangen ruhiger.«

 

»Bereits am nächsten Morgen begann Mama in ihrer praktischen Art, mein Leben, das des Kindes und ihres zu organisieren. Du hättest sie hören sollen:

›Ich habe einen Vorschlag.‹ Das sagt sie immer, wenn sie bereits etwas beschlossen hat. Jedenfalls lief es darauf hinaus, dass ich das Medizinstudium für ein Jahr aussetzen sollte, ›du bist noch so jung‹. Dann sollte ich weiter in Uppsala studieren, damit ich dem Kind nahe wäre.

›Ich selbst bin ja erst knapp über vierzig. Ich habe noch genügend Kräfte, mich um ein Kind zu kümmern.‹

Ich war so erleichtert, das war so eine Freude. Erst als wir vom Tisch aufstanden, sah ich, dass Papa Tränen in den Augen hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich sagte: ›Aber Papa muss auch sagen, was er davon hält. Vielleicht will er kein neues Kind im Haus.‹

Er sagte nicht, wie es wirklich war, dass er gar keine Wahl hatte. Er sagte nur, dass er Kinder liebe, dass ich das doch wüsste.

Es war schönes Wetter, wir gingen in den Garten. Es hing etwas Merkwürdiges in der Luft zwischen uns, etwas Ungeklärtes. Aber ich mochte nicht daran denken.«

»Wenn du es jetzt tust, kannst du es vielleicht verstehen«, sagte Jonas.

»Ja«, sagte Klara mit Verwunderung in der Stimme. »Sie wollten ein Kind als Ersatz … für Jan. Du hast Recht, so war es. Und so traf es auch ein, sie sind beide vollkommen erfüllt von Sofia.«

»Gibt es noch mehr zu erzählen?«

»Ich hatte eine schöne Schwangerschaft, ich glaube, niemals sonst fühlte ich mich so harmonisch, im Einklang mit der ganzen Welt und dem Kind, das in meinem Bauch wuchs. Ich wusste die ganze Zeit, dass es ein Mädchen war, und ich nannte sie schon lange Zeit vor der Geburt Sofia. Ich glaubte, das wäre eine Möglichkeit, die Mächte zu beschwören, sie sollte weise werden und nicht wie ich.

Es wurde auch eine leichte Geburt. Und das Kind war so niedlich. Ich verbrachte einen ganzen Sommer nur mit ihm. Und in meinem ersten Jahr in Uppsala fuhr ich fast jeden Tag nach Hause. Das gab mir Kraft. Weißt du, dass Kinder heilen?«

Er lachte sie an.

Aber jetzt lief ihnen die Zeit davon, und Jonas fragte noch einmal:

»Noch etwas, was wichtig ist?«

»Ja, vielleicht. Papa bestand darauf, den Maler zu treffen, noch bevor das Kind geboren wurde, sie fuhren beide nach Ulleråker und hatten dort ein langes Gespräch mit dem Psychiater, der Johannes betreute. Sie erfuhren, dass er Leberkrebs hatte und nicht mehr lange leben würde. Was die Erblichkeit betraf, konnte man nicht viel sagen, aber er war nicht schizophren, sondern manisch.

Es war ein guter Arzt. Papa fragte, was Manie bedeutete, und er antwortete, dass man darüber nicht viel wüsste. Aber dass sie leicht Künstler treffe, denn die Krankheit beinhalte, dass man mit Mächten und Energien spiele, die die Sinne erweiterten und das Bewusstsein intensivierten.

Er sagte auch – und Papa fand das so wichtig, dass er es sich aufschrieb –, dass es mit kurzen Momenten von Grenzenlosigkeit, Einheit beginne, einer Art Gotteserkenntnis oder dem Gefühl absoluter Wahrheit. Das dauert möglicherweise nur kurze Zeit, aber das Erlebnis ist so stark, dass man sich immer wieder danach zurücksehnt. Oft wächst diese Sehnsucht zu einer gewaltigen Kraft heran, und in dieser liegt der Samen zu neuen psychotischen Schüben.

Dass es immer in Chaos und Angst endet, vergisst man nicht, aber zum Schluss ist man bereit, den Preis zu bezahlen, um Gott, die Wahrheit, oder wie immer man es nennen will, von neuem zu erleben.«

»Das ist … interessant«, sagte Jonas und schrieb auch die Formulierungen auf.

Aber sie mussten weiter.

»Noch etwas gehört hierher«, fuhr Klara fort. »Ich bin damals nach Malmö gefahren und habe Papas Tante besucht. Das war im Herbst im Jahr nach Sofias Geburt. Ich wollte mehr über Klara wissen, die ursprüngliche Klara, deren ›Eigenheiten‹ ich geerbt hatte.

Mein Vater hatte seine schwedischen Verwandten noch nie leiden können, deshalb hatten wir nicht viel Kontakt zu ihnen. Der Mann meiner Tante war Offizier gewesen und in den 70er Jahren gestorben, sodass sie jetzt allein in ihrer dunklen, voll gestopften Villa saß. Trotz all der Jahre in Schweden ist sie ›deutsch‹ geblieben, weißt du, mit festen Vorstellungen und ohne Humor. Aber sie freute sich, als ich sie anrief und ihr sagte, ich wollte sie besuchen.

Sie hatte ein schönes Essen gemacht, schenkte Wein ein, und es war nicht schwer, sie ins Land ihrer Kindheit, ins Hamburg der 30er Jahre zu locken. Sie war die hässliche, unbedeutende kleine Schwester eines geliebten und bewunderten Bruders gewesen. Meines Großvaters also.

All das sagte sie natürlich nicht so direkt, aber es wurde sofort offensichtlich, als sie erzählte. Ich mochte sie, merkwürdigerweise mochte ich sie. ›Erzähl mir von meiner Großmutter‹, sagte ich, ›und von Klara.‹ Das schien ganz natürlich.

Ihre Augen funkelten – vor Bosheit? Vor Begeisterung? Ich weiß es nicht.

Aber sie sagte, dass das Bewundernswerteste, was ihr so bewunderter Bruder je getan hatte, darin bestand, dass er in die Familie von Bredenau einheiratete. ›Alter Adel‹, sagte sie, und ihre Stimme klang ehrfurchtsvoll. Das war so … makaber.

›Und denk bloß nicht, dass sie sich nicht standesgemäß hätte verheiraten können. Sofia war schön, selbstsicher und elegant mit einer Haltung wie eine Königin und bernsteinfarbenen Augen.‹

›Den gleichen Augen wie dein Vater‹, sagte sie, und ich war stumm vor Erstaunen. Es war also nicht das Meer, das seine Iris hatte erblassen lassen, es war das Erbe. Aber das Sonderbarste war der Name, Sofia. Meine Großmutter hatte Sofia geheißen.

Und ich kann schwören, Jonas, dass ich entschieden habe, wie meine Tochter heißen soll. Nicht Papa.«

»Aber war es nicht merkwürdig, dass er nichts dazu gesagt hat?«

»Ja, das war es schon.«

»Hast du ihn danach gefragt?«

»Nein, ich habe mich nie getraut. Weißt du, Papas Tante hatte noch mehr zu erzählen, über meine Großmutter und die feine adlige Familie.

Etwas war speziell an den von Bredenaus. In der weiblichen Linie des Geschlechts gab es ein merkwürdiges Erbe, sie waren … Mystiker. Im 17. Jahrhundert waren zwei von ihnen als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, noch früher – im katholischen Zeitalter – hatte es eine Äbtissin gegeben, die Wunder vollbracht hatte und die viele als eine Heilige ansahen. Andere behaupteten, sie hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.

Jonas, es war so merkwürdig, da in ihrem steifen Esszimmer, als erzählte sie ein Märchen, eine unheimliche, unangenehme alte Sage. Ich wollte ihr zurufen, dass ich kein Kind sei, dass ich keine Märchen hören wolle. Aber ich sah ja, dass es für sie wirklich und wahrhaftig war, es gehörte für sie zur Wirklichkeit.

Ich fragte nach Klara, aber die Tante erinnerte sich nicht an das Kind. Das war verständlich, das Mädchen war noch klein gewesen, als Papas Tante heiratete und nach Schweden zog. Über meine Großmutter hatte sie viel zu erzählen, o ja, sie war auch mystisch gewesen, hatte durch die Leute hindurchsehen und ihre Gedanken lesen können.«

 

Schließlich war es so spät geworden, dass Jonas aufbrechen musste. Er hatte es eilig: »Ich rufe dich heute Abend auf der Station an.«

»Ja, tu das.«

»Und du, nimm ein Taxi zum Bahnhof.«

»Ja.«

Sie umarmten sich, er lief die Treppe hinunter, drehte sich aber auf halbem Weg um, blieb in der Tür stehen und schaute sie fast wild an:

»Ich habe vergessen, etwas zu fragen. Willst du mich heiraten?«

»Ja«, sagte sie.

Und weg war er.