III

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An diesem Donnerstag, als Klara den Zug zurück nach Uddevalla nahm, Kerstin nach Uppsala fuhr, um die Flugtickets zu holen, und Karl Erik Holmgren letzte Hand an seine Predigt legte, steuerte Hans Horner die Ocean Seal auf Kapstadt an Afrikas Südspitze zu.

Der Vormittag war dunkelblau vom Dunst. Sie hatten ruhiges Wetter, und das war ungewöhnlich, denn das Aufeinandertreffen des Indischen Ozeans auf den Südatlantik war oft dramatisch, mit berghohen Brechern. Das Kap der Guten Hoffnung war seit Jahrhunderten gefürchtet wegen dieses erschreckenden Kap-Rollens, der steifen Winde und plötzlicher Riesenstrudel im Meer.

Aber heute stimmte der Wetterbericht mit seiner eigenen Erfahrung überein, sie würden eine ruhige Hubschrauberlandung erleben.

Die Ocean Seal lag schwer in der See, trächtig mit dreihundertfünfzigtausend Tonnen. Sie hatten nur fünf Meter freies Deck, und lange Wellen rollten gemütlich darüber. Zum Heck hin zeichneten sich drei Mann in gelben Overalls ab, von Horners Aussichtspunkt klein wie die Zinnsoldaten. Sie zogen Schläuche und ein Schaumlöschgerät für die Landung hervor – sehr frühzeitig, denn der Hubschrauber hatte noch nicht einmal die südafrikanische Basis verlassen. Auf der zweiten Brücke fuhr ein Matrose auf dem Fahrrad zum Deckshaus, die Sonne blitzte auf seinem Sicherheitshelm, und seine Gestalt wuchs mit jedem Augenblick.

Erwartung lag in der Luft. Das Kap bedeutete Briefe, Zeitungen, frische Lebensmittel, Gemüse. Und außerdem Straußeneier, Zebrafelle und andere exotische Dinge, mit denen die Seeleute, die nie an Land kamen, ihre Angehörigen überraschen wollten.

Aber das Beste war, dass der Hubschrauber neue Leute bringen würde, neue Gesichter. Ein Computerfachmann aus London war auf dem Weg, um ein System in der Maschine zu überprüfen, ein dritter Steuermann sollte abgelöst werden. Für Horner bedeutete der Hubschrauber in erster Linie, dass Polansky an Land und in fachkundige Hände kam. Er war seit einer Woche mit heftigen Schmerzen im Bauch krank, und die Ärzte vom Sahlgrenska-Hospital schienen sehr beunruhigt zu sein.

Auch der Zweite Steuermann, der täglich mit dem Krankenhaus in Göteborg in Kontakt stand, war erleichtert.

Ein Fremder hätte gesagt, dass es an Bord nach Öl rieche, aber das merkte niemand mehr. Der Geruch war ein Teil ihrer Welt, ebenso wie die immer währende Vibration der Turbinen. Alles an Bord zitterte.

Noch war es eine gute Stunde hin, bis sie den Tafelberg sehen würden, deshalb verließ Horner die Brücke und verschwand in seiner privaten Kabine, zum Sessel und einem kalten Bier. Er schloss die Augen, er war müde.

Es war eine schreckliche Reise gewesen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er Probleme mit dem Schlaf, wurde von bösen Träumen und eigenartigen Erinnerungen gejagt. Sie waren von dem Rattern der iranischen Luftabwehr geweckt worden, die in der Dunkelheit wie Feuerbesen über Kharg Island fegten.

Die Ocean Seal hatte das Verladen in zweiundzwanzig Stunden geschafft und war des Nachts in See gestochen, während der Verdunkelung.

Einen Supertanker zu tarnen, das ist fast ebenso schwer wie eine Stadt zu tarnen, dachte er. Aber er hatte die Ruhe behalten, auch noch als ein Bomber über Kharg auftauchte, seine Last abwarf und einige brennende Zisternen hinter sich zurückließ. Der schwedische Tanker war bereits im Auslaufen begriffen gewesen, doch die Druckwelle riss alles mit sich, was nicht festgezurrt war, die Bilder von der Wand und das Geschirr vom Tisch. Erst hinterher, als sie den zweiundachtzigsten Breitengrad passiert hatten und sich der gefahrenfreien Zone näherten, hatte er die Angst gespürt, eine alte Furcht und Trauer.

Sein Telefon klingelte, es war der Erste Steuermann, der mitteilte, dass der Hubschrauber gestartet sei:

»Ich komme«, sagte Horner. »Irgendwelche Probleme?«

»Verflucht viel Verkehr.«

Bevor er zurück zur Brücke ging, rief er im Maschinenraum an und sprach mit dem Chief. Alles war unter Kontrolle, und alle Leute auf ihrem Posten.

»Ich bin auf der Brücke, wenn irgendwas ist«, sagte Horner. Und dann noch wie nebenbei:

»Hier ist reichlich viel Verkehr.«

»Ich weiß, war das je anders?«

Die Stimme klang wütend, Horner spürte die Unruhe des Mannes. Ein Blackout in der Maschine würde den Tanker jetzt manövrierunfähig machen, und das war ein Risiko, das sich keiner ausmalen wollte. Er trank sein Bier und ging wieder zur Brücke hinauf. Aber er machte noch einen Umweg am Krankenrevier vorbei, um sich von Polansky zu verabschieden. Der Matrose lag zusammengekrümmt wie ein Fötus auf seiner Bahre, Horner drückte ihm die Hand und sagte, dass jetzt alles in Ordnung kommen würde, »jetzt bist du bald im Krankenhaus, und da werden sie dich wieder hinkriegen«.

»Es gibt kein Mittel gegen diese Krankheit, und das weißt du auch«, sagte Polansky und lachte ein schwer zu deutendes Lachen.

»Er glaubt wahrscheinlich, er habe Krebs«, sagte der Zweite Steuermann, als sie die Kabine verließen. Aber Horner wusste, dass Polansky von einer anderen Krankheit sprach und dass er wahrscheinlich Recht damit hatte, wenn er meinte, dass sie nicht heilbar sei.

Von der Brücke aus konnte Horner sehen, wie sich der Tafelberg vor einer Schicht weißer Wolken abzeichnete. Auf der Backbordseite lag Robben Island, er richtete sein Fernglas auf die Gefängnisinsel und dachte an Nelson Mandela. Dort saß er nun seit zwanzig Jahren, der alte anc-Führer, und die Welt war verrückt, wie sie es immer gewesen war.

Jetzt fuhren sie auf der vorgeschriebenen Route zum Treffpunkt. Ein Blick auf den Radar zeigte ihnen, dass zwischen den Schiffen nicht viel Platz war, wenn sie aufs Meer blickten, konnten sie jedoch nur vereinzelt ein Schiff erkennen. Bei der modernen Seefahrt misst man immer in zwei Realitäten, und die des Radars war diejenige, die galt.

Die Stimme des südafrikanischen Piloten knatterte im Funk. Die Ocean Seal drosselte ihre Fahrt. Es wurde stiller an Bord, fast konnte man sich einbilden, Wind und Wellen zu hören.

Mein Gott, wie er sich nach dieser Stille sehnte.

Dann tauchte der Hubschrauber auf die Minute genau auf und landete elegant auf dem gekennzeichneten Platz. Das Be- und Entladen dauerte nur wenige Minuten, Polansky wurde an Bord gebracht, und ein glücklicher Dritter Steuermann verschwand mit der Schiffspost. Der Hubschrauber hob sich in die Luft, die Ocean Seal beschleunigte ihr Tempo. Der wachhabende Steuermann berechnete die Koordinaten und gab sie in den Computer ein. Jetzt wurde das Schiff von einem Satelliten an irgendeinem unsichtbaren Himmel gesteuert. Richtung Norden, nach Europa.

Vor dem Mittagessen lud Horner die Neuangekommenen zu einem Drink ein. Ruhe breitete sich wieder auf dem Schiff aus.

Noch sechzehn Tage, dachte er, als er endlich allein war, duschte und sich den Pyjama anzog. Auf seinem Schreibtisch lagen die Briefe von daheim. Sie waren schon alt, weit vor dem Wunder in der Östmora-Kirche geschrieben. Aber das war nicht so schlimm, es würde sowieso eher wie ein Plauderstündchen in der einsamen Koje werden.

Er konnte sie vor sich sehen, Kerstin, fest entschlossen, nur über vertraute und gute Dinge zu schreiben. Er machte es ja genauso, wenn er schrieb; der Brief, den er vom Kap geschickt hatte, berichtete locker und verlogen über die Erlebnisse im Persischen Golf. Jede Kommunikation, die per Funk oder durch die Briefe sickerte, durchlief die Selbstzensur.

Da sie einander so gut kannten, war das vielleicht nicht so schlimm, überlegte er, während er vom Schnee las, der auf Östmora fiel, und von Sofia, die sich auf die Weihnachtsferien freute. Und darauf, dass sie Weihnachten alle zusammen feiern konnten.

Sonderbare Weihnachten, dachte er. In der Sonne, auf den Kanarischen Inseln. Er würde morgen anrufen und sagen, dass er ein paar Tage allein mit Kerstin verbringen wolle. Klara und Anders‹ Mutter mussten sich so lange um die Kinder kümmern.

Er war müde, Klaras Brief musste warten, dachte er, löschte das Licht und schlief augenblicklich ein. Wurde aber wie üblich nach anderthalb Stunden von diesen eigentümlich traurigen Träumen geweckt, die er nicht einfangen konnte, die jedoch stark genug waren, alte, vor langer Zeit verlorene Bilder wieder zum Leben zu erwecken.

Hans Horner taten die Erinnerungen an seine Kindheit weh. Es war, als hätte die Bombe, die seine Familie getötet hatte, seine Kindheit ausradiert. Erlebnisse, Geschehnisse, Gerüche, Farben, Stimmungen waren in einem Krater verschwunden, begraben unter Ruinen. Er hatte es genauso gemacht wie Hamburg, wie die Stadt: auf das Alte draufgebaut und gedacht, dass kein Bulldozer der Welt das Verlorene wieder ausgraben könnte.

Aber jetzt suchte ihn die Vergangenheit des Nachts heim, erwachte zu neuem Leben durch Bomber in einem Land und einem Krieg, mit dem er nichts zu tun hatte. Die Erinnerungen sickerten langsam, aber konstant durch, wie das Wasser einer Waldquelle. Und wie dieses Wasser waren sie lebhaft, glasklar und farblos. Dabei jedoch erfüllt von einem seltsamen Gefühl der Nähe.

In dieser Nacht gab es ein Haus, ein altes Haus, groß wie eine Festung, um das herum die Eichen rauschen. Er ist ein Junge in diesem Haus, erfüllt von den Geheimnissen des Gebäudes, seinen Ecken, Fluren, Treppen, er kann alle Geräusche des Hauses hören, Füße auf Steinboden, das Echo, das ständige Echo, Stimmen, die gegen die Mauern schlagen und wiederkommen, Lachen. Das Lachen der Männer, arrogant, erschreckend. Die Stimmen der Frauen, weich, murmelnde Gespräche, lang anhaltend, nie unterbrochen, als wäre es ihre Aufgabe, dem Haus Leben einzuhauchen. Großmutter, Mama, ihre Schwestern, alle einander so ähnlich, elegant und traurig.

Der Junge denkt, dass sie wie Vögel in einem Käfig sind, ausgewählt, die Flügel gestutzt. Er steht am Fenster, ungefähr sieben Jahre alt, er sieht das Auto kommen, man steigt aus, stattlich in den Uniformen mit Hakenkreuz am Kragen und langen schwarzen Stiefeln. Und der Junge dreht sich um, sucht den Blick seiner Mutter. Ihr Blick bestätigt, was er bereits weiß, dass es zu spät ist, dass alles schon passiert ist. Die Traurigkeit ist unerträglich, als die Stiefelabsätze auf den Treppenstufen dröhnen, muss Hans Horner sich aus seinen Erinnerungen lösen.

Er stand auf, holte ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich wieder in den Sessel und dachte an Polansky, den Matrosen, der erlebt hatte, wie Warschau bombardiert wurde. Und der nach dem Laden auf Kharg Island so starke Magenschmerzen bekam.

Er hatte den Polen in seiner Kajüte aufgesucht, jeden Tag. Anfangs war ihr Gespräch nur einsilbig gewesen:

»Du hast fürchterliche Angst gekriegt?«

»Nicht mehr als du auch, Käptn.«

Er sprach höhnisch, Horner beachtete es gar nicht.

»Du hast nur zu Recht damit.«

Das machte den Matrosen wütend. Horner sollte verdammt nochmal nicht zu ihm kommen und Theater spielen. Wie alle bleichgesichtigen Scheißschweden wüsste er doch gar nicht, was Angst war.

Horner hatte den Matrosen lange angesehen und das Gefühl gehabt, als sähe er in einen Spiegel, wenn man von den Äußerlichkeiten absah. Dann hatte er ihm die Wahrheit gesagt, dass er kein Schwede war, dass er zehn Jahre alt gewesen war, als Hamburg dem Erdboden gleichgemacht wurde und seine Eltern starben.

Worauf die erwartete Erwiderung kam:

»O Scheiße, ich hatte ganz vergessen, dass du ja Deutscher bist, ein deutscher Satan.«

Und wie immer antwortete Horner, dass man wohl einem Zehnjährigen nicht die Verbrechen der Nazis vorwerfen könne und dass seine Mutter ihr Leben riskiert hatte, indem sie Juden nach Schweden schmuggelte.

Das Letzte war nicht notwendig gewesen, er brauchte sich für sein Dasein nicht zu entschuldigen. Aber er sagte es jedes Mal gleich wütend, wenn seine deutsche Abstammung zur Sprache kam. Und dieser Satz hatte immer die gleiche, voraussehbare Wirkung, auch Polansky nahm seine Vorwürfe zurück und sagte:

»Entschuldigung, Käpt’n.«

»Ist schon in Ordnung. Ich schau morgen wieder bei dir rein.«

An den folgenden Tagen waren die Gespräche länger und offener geworden, beide Männer tasteten sich vor in ihrer Erinnerung an den Krieg. Horner schlief nachts besser, Polanskys Schmerzen gingen zurück.

Aber sein Fieber ließ nicht nach. Die schwedischen Ärzte wollten ihn an Land bringen, und deshalb mussten sie sich trennen, der Skipper und der Matrose. Und allein traute Horn sich nicht, all den Erinnerungen nachzugehen, die auf Kharg Island geweckt worden waren. Nicht, sie ans Tageslicht hervorzuholen. Sie mussten im Dunkel bleiben, wo sie Kraft sammelten und dann erneut in den nächtlichen Träumen zuschlagen konnten.

Und so wird es noch eine Weile bleiben, Kerstin, sagte Horner zu seiner Ehefrau, bevor er die verabscheute Schlaftablette nahm und endlich zur Ruhe kam.