17

Am nächsten Morgen hatte er geschwollene Augen und Kopfschmerzen. Als er zum Frühstück kam, sagt der Erste Ingenieur:

»Du siehst aus, als hättest du einen Kater.«

Das überraschte ihn, denn Horner war für seine Mäßigung bekannt; während der vielen Fahrten, die sie zusammen gemacht hatten, hatte Martinsson ihn noch nie betrunken gesehen. Aber Horner zuckte nur mit den Achseln und sagte wahrheitsgemäß, dass er zu spät ein Schlafmittel genommen habe.

Martinssons Blick war neugierig und eine Spur schadenfroh.

»Dann kann der Skipper also schlecht schlafen und fühlt sich nicht?«

»Es geht ihm ausgezeichnet, wie immer«, erwiderte Horner eisig.

Doch bereute er seine Schroffheit sofort und versuchte zu erklären:

»Kharg Island hat eine ganze Menge alten Scheiß aufgerüttelt.«

»Bei dir auch, wie bei Polansky?«

»Dann hast du’s also kapiert.«

Mit der dritten Tasse Kaffee wurden die Kopfschmerzen besser, und Horner sagte:

»Es ist schon merkwürdig mit den Gefühlen. Sie ziehen eine ganze Menge Erinnerungen mit sich, die man nicht kontrollieren kann.«

Zwischen den beiden gab es den traditionellen Gegensatz zwischen Nautiker und Techniker, aber gemildert durch Humor. Ab und zu kam eine gewisse Aggressivität persönlicher Art auf; Horner konnte der Ansicht sein, Martinsson wäre wie ein Flusspferd, dickhäutig und langsam in seinen Reaktionen, immer voller komplizierter technischer Einwendungen. Und Martinsson verstand Horner nicht, dachte oft, dass er nur schlecht in die Rolle des Kapitäns passte. Ihm fehlte der Stil, fand Martinsson, er achtete nicht genügend auf Distanz zur Besatzung, trat nie in Uniform auf.

Seine verknautschten Hemden ohne Rangabzeichen waren in den Häfen eine Schande für das Schiff, fand der Chief. Horner war auch sonst nicht einzuordnen, er war Deutscher, sah aber aus wie ein Amerikaner, ein Cowboy mit weiblichen Zügen, dabei groß, hart und wendig. Dazu sah er noch unverschämt jung aus, doch, das musste auch Martinsson zugeben. Aber es passte ihm überhaupt nicht, dass jede Frau, die an Bord kam, sofort in den Katzenaugen des Skippers ertrank. Obwohl sie nichts davon hatten, Horner war seiner Frau treu, der schönen, kalten Dame, die der Chief so unangenehm intellektuell fand.

Horners Treue war noch so eine Eigenheit, die Martinsson ärgerte, hatte er selbst doch nie eine Frau wirklich geliebt und war bereits zum dritten Mal geschieden. Zu Anfang jeder Fahrt hatten sie lange Diskussionen über Frauen und Vertrauen, über das Leben an sich. Aber vor allem über demokratische Prinzipien.

Laut Martinsson war ›die Demokratie‹ – er sagte es so, dass man die Anführungsstriche hörte – eine Art Spiel, mit dem sich Leute, die an Land arbeiteten, amüsieren konnten. An Bord eines Schiffes wie diesem hier, einer technisch avancierten Missgeburt, die Unmengen gefährlicher Güter übers Meer transportierte, musste Disziplin herrschen, die Leute mussten an der kurzen Leine gehalten werden, auf Abstand und vollkommen nüchtern.

In der Sache war Horner meistens der gleichen Meinung, nur über die Mittel wurden sie sich nicht einig. Er sprach von Verantwortungsgefühl, das nur wachsen konnte, wenn den Leuten mit Respekt und Vertrauen begegnet wurde. Und Martinsson schnaubte verächtlich und konnte wortreich ausführen, wie naiv Horner doch war. Blauäugig, verworren, ohne Kenntnis der Realitäten des Lebens.

Wie bei den meisten Diskussionen zwischen einem Zyniker und einem Idealisten blieb der Zyniker Sieger. Martinsson war jeden Abend mit dem Ausgang sehr zufrieden. Und war jeden folgenden Tag wieder genauso wütend, wenn klar wurde, dass Horner sich nicht beirren ließ. Der schlaffe Führungsstil blieb unverändert. Mit der Zeit erstarb die Diskussion von allein, wie die meisten Gesprächsthemen während der langen Isolation an Bord.

 

Jetzt saßen sie hier am Frühstückstisch und wussten, dass sie füreinander trotz aller Gegensätze Respekt und Sympathie hegten. Martinsson legte seine Stirn in Sorgenfalten und hielt einen langen Vortrag über fehlende Bewegung. Horner müsste Sport treiben, Tischtennis spielen, im Pool schwimmen, kurz gesagt, seinen Körper ermüden. Dann würde er schlafen können wie ein Säugling.

Horner sah seinen Ersten Ingenieur, der selbst keine unnötige Bewegung machte, lange an. Aber es gelang ihm, sein Lächeln zu unterdrücken, als er aufstand, sich für den guten Rat bedankte und auf die Brücke ging.

Es war heiß, die Leute, die Freiwache hatten, sonnten sich auf den Brückennocken und dem Sonnendach. Jetzt hatten sie den blauen Streifen von Afrika an der Steuerbordseite, rechts. Aber am Steuerpult stand der Funker, er war angespannt. Horner spürte es sofort.

»Etwas nicht in Ordnung?«

»Wir haben ein Telegramm von der Reederei bekommen.«

»Fahrtzieländerung?«

Innerhalb einer Sekunde stellte Horner sich vor, dass die Fracht möglicherweise nach Trinidad oder in irgendeinen anderen beschissenen Hafen auf der anderen Seite des Globus verkauft war und er dann kündigen und Hubschrauberabholung fordern würde. Aber der Funker, der mit Horner im Schlepptau in den Funkraum zurückging, schüttelte den Kopf, nein, Rotterdam stand fest. Und dann übergab er das Telegramm, und während Horner es las, war es auf der Brücke totenstill.

Es handelte sich um eine lange, verwickelte Mitteilung, die kurz gesagt darauf hinauslief, dass die Reederei die Vereinbarung rückgängig machen wollte, nach der diejenigen der Besatzung, die mit nach Kharg gefahren waren, für zehn Tage Kriegsrisikozuschlag bekamen. Man feilschte um die Anzahl der Tage, die sich das Schiff in einer Gefahrenzone befunden hätte, man verwies darauf, dass bis jetzt noch keine Vereinbarung mit der Gewerkschaft getroffen worden war, und auf Bestimmungen, die nicht von Lloyds in London festgelegt worden waren. Und dann natürlich auf die schlechte Frachtlage, die alle dazu zwang, jeden Öre einzeln umzudrehen.

Für jeden Einzelnen an Bord ging es um eine ganze Menge Geld. Aber schlimmer noch war die Schmach, der Mangel an Einsicht und Verständnis, der Horner wütend machte. Die Wut stieg ihm vom Bauch in den Kopf, der Schmerz über den Augen kam zurück. Doch es gelang ihm, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, als er den Befehl gab:

»Ruft alle, die abkömmlich sind, zur Schiffsversammlung, eine halbe Stunde vor dem Mittagessen. Und melde ein Funkgespräch mit diesem Idioten an.«

Das war ungewöhnlich und gegen die Regeln. Die Angelegenheiten zwischen Kapitän und Reederei wurden immer telegraphisch erledigt und nicht über Funktelefon, das an Bord mitgehört werden konnte. Der Erste Steuermann versuchte Einwendungen anzubringen, aber Horner unterbrach ihn:

»Ich weiß. Aber je mehr diesem Gespräch zuhören, umso besser.«

Sowohl Wortwahl als auch Tonfall ließen alle aufmerken. Die Stille auf der Brücke war undurchdringlich wie Zement, und die Sonnenanbeter auf den Sonnendecks verschwanden, jeder in seine Kabine mit Radio, alle mit glänzenden Augen und langen Ohren. Und auch nach unten in den Maschinenraum, in die Kombüse und in den Vorratsraum, zur Lagerverwaltung, zu den Elektroingenieuren, den Köchen und dem Messepersonal drang das Gerücht. Zu den Matrosen im Heck, dreihundert Meter entfernt, gelangte es via Walkie-Talkie.

Das Gespräch kam nach einer Stunde zustande. Es verlief weniger dramatisch, als die größten Pessimisten erhofft hatten. Horner sagte nur kurz, er habe eine Schiffsversammlung einberufen, und die Antwort der Besatzung sollte der Reederei nachmittags telegraphisch mitgeteilt werden.

Worauf der Personalchef aufbrauste:

»Eine Schiffsversammlung«, schrie er. »Das geht ja wohl zu weit. Du weißt doch ebenso gut wie ich, dass die Reederei sparen muss, verdammt nochmal, Horner, nimm dich in Acht.«

»Drohst du mir?«

»Nein, entschuldige. Ich versuche nur, an deine Solidarität zu appellieren.«

»So wie damals, als du uns dazu gebracht hast, in die Kriegszone zu fahren?«

»Seerecht«, schrie der Personalchef, aber Horner unterbrach ihn:

»Du weißt nur zu gut, dass kein Gesetz der Welt schwedische Bürger dazu zwingen kann, ihr Leben in einem Krieg zu riskieren, der ihr eigenes Land nicht betrifft.«

»Nun sei doch nicht so verflucht melodramatisch. Wir mussten beladen, und so verdammt gefährlich war es doch nun nicht, die paar Bomben und das bisschen Luftabwehrfeuer.«

»Ja, das weißt du sicher am besten«, erwiderte Horner. »Du bekommst unser Telegramm heute Nachmittag. Lebe wohl und gib gut auf dich Acht.«

Das Gespräch wurde unterbrochen, Horner legte den Hörer auf.

Die Schiffsversammlung dauerte nicht lange, aber alle, die mit nach Kharg gefahren waren, stimmten für Horners Vorschlag, die Gewerkschaft über den Streit zu unterrichten und von ihr zu fordern, die Geschichte zu veröffentlichen und ihre Mitglieder davor zu warnen, sich ohne schriftliche Vereinbarung in eine Kriegszone zu begeben. Nur ein älterer Maschinist bat ums Wort und sagte, dass sie im Endeffekt ja sowieso verlieren würden.

»Dieser Kutter hier wird bald sowieso unter der Flagge von Panama fahren und mit einer Besatzung von Filipinos, die mit allem einverstanden ist.«

Horner nickte und dachte an den Jungen aus seinen nächtlichen Erinnerungen, der bereits gewusst hatte, dass es zu spät war. Aber er nahm sich zusammen und begann mit der Formulierung des Telegramms, als er von dem Funker unterbrochen wurde.

»Der Reeder will selbst mit dem Käptn reden.«

»Aha«, sagte Horner, entschuldigte sich und verließ die Versammlung.

Der alte Mann sprach, wie er aussah; mit wunderbarer Stimme und fast sakraler Betonung auf jedem Wort bat er um Entschuldigung für den Vorschlag, über den Kriegsrisikozuschlag verhandeln zu wollen.

»Ich war darüber nicht informiert«, sagte er. »Das war eine unbedachte Idee von Leuten, die nur auf die Zahlen gucken. Übermitteln Sie der Besatzung mein Bedauern. Und meinen Dank für den Mut, den sie alle bewiesen haben.«

Als Horner zur Schiffsversammlung zurückkam, wusste er nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Aber nachdem er die Nachricht verkündet und den Gruß übermittelt hatte, siegte das Lachen und steckte die anderen an.

Dennoch trennten sie sich mit einem Gefühl der Enttäuschung. Und als der Abend kam, wurde in vielen Kabinen gesoffen, ein Fest, das mit einer Prügelei in der Mannschaftsmesse endete. Die Stühle, die als Waffen benutzt wurden, gingen zu Bruch, Horner selbst musste eingreifen und teilte den Kampfhähnen mit, dass sie für die gesamte Heimfahrt keinen Alkohol mehr bekommen würden, wenn sie nicht augenblicklich in ihre Kojen gingen und den Rausch ausschliefen.

Ein enttäuschender Tag ging zu Ende. Auch Hans Horner saß noch lange in seinem Sessel bei seinem Abendbier und fühlte sich sonderbar betrogen. Wie viele andere dachte er an die vorherige Schiffsversammlung, als sie die Anfrage der Reederei erhalten hatten, ob sie sich vorstellen konnten, in die Kriegszone zu fahren. Die Stimmung damals war bedrückt gewesen.

Der Funker hatte berichtet, wie viel Zuschlag es für das Kriegsrisiko gab, zehn Tage mit dreihundert Prozent Lohnzuschlag hatte das Angebot gelautet. Steuerfrei. Der Köder war verlockend, Leuten, die Hypotheken oder Studienkredite abzahlen, fiel es schwer zu widerstehen. Einer dachte an das Ferienhaus, von dem seine Frau träumte, mehrere daran, dass sie sich endlich einen neuen Wagen kaufen konnten, einer an ein Segelboot und an eine lange Reise nach Westindien.

»Stellt euch vor, ein Monat auf Barbados, wenn das Wetter in Schweden am schlechtesten ist.«

Sie hatten gelacht, für eine Weile hatte sich die Stimmung entspannt.

Aber andere dachten an ihre kleinen Kinder daheim, für die sie Verantwortung trugen. Und an die Frauen, die sie liebten, die sie vielleicht nie wieder …

»Wie gefährlich ist es?«

Die Frage war direkt an Horner gerichtet gewesen.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht.«

Aber er erzählte ihnen, wie es geplant war, dass sie wie gewöhnlich durch den Hormussund fahren sollten, dann einen Abstecher zum Emirat machen würden, wo diejenigen, die es wünschten, an Land gesetzt wurden, um in einem Hotel in Dubai zu warten. Direkt vor der Kriegszone würden sie vor einigen persischen Inseln, deren Namen niemand aussprechen konnte, vor Anker gehen und ihren Platz in der Tankerwarteschlange einnehmen. Wenn von Kharg die Mitteilung kam, dass sie mit der Betankung an der Reihe seien, würden sie in die Zone hineinfahren, des Nachts, verdunkelt und mit voller Kraft.

Er hatte es nicht beabsichtigt, merkte aber selbst, dass es wie ein Märchen klang. Vielleicht sehnte er sich nach dem Unvorhersehbaren, einer Unterbrechung in der Routine.

Jetzt, hinterher, erinnerte er sich an das Gefühl, und es war ihm peinlich.

Bei der Abstimmung wollten vier Mann in Dubai an Land gebracht werden, alle vier jung, mit Kleinkindern daheim. Zwei gehörten zur Schiffsleitung, ein Zweiter Steuermann und ein Erster Maschinist.

Der Chief reagierte mit versteinerter Miene, bewegte keinen Muskel, obwohl er wütend und besorgt sein musste. Der zuverlässige und kompetente Erste Maschinist konnte kaum von einem anderen als dem leitenden Ingenieur selbst ersetzt werden. Martinsson würde schwere Tage in der Persischen Bucht haben.

Horner war von widerstreitenden Gefühlen geschüttelt worden, von Wut und Bewunderung. Die vier waren Männer einer Generation mit größerer Selbstsicherheit, die weniger Angst hatten, ihr Gesicht zu verlieren.

Er selbst hatte nicht einmal den Gedanken erwogen, sich zu weigern. Obwohl auch er die Verantwortung für ein Kind hatte. Und für Kerstin, die nicht so stark war, wie sie schien.

So war das, Kerstin, sagte er laut zu seiner Frau, als er in die Koje kroch. Hans Horner, der alte Deutsche, tut seine Pflicht, gehorcht dem Befehl, viel zu feige, sich zu weigern. Und im Augenblick auch noch viel zu müde, die Frage zu diskutieren, wie er sich wohl beim nächsten Mal entscheiden wird. Der Krieg zwischen Irak und Iran schien sich längere Zeit hinzuziehen.

Er traute sich nicht, Schlaftabletten zu nehmen, da er sich sorgte, dass der Streit in der Mannschaftsmesse wieder aufflackern könnte. Schließlich schlief er doch ein, schlief lange und träumte in der Morgendämmerung von Jan. Sie standen beide auf der Kommandobrücke und schauten auf das riesige Deck der Ocean Seal. Der kleine Junge wollte ihm eine Mitteilung zukommen lassen, sie war wichtig, ungemein wichtig. Aber als Horner aufwachte, begriff er, dass er sie nicht verstanden hatte und sich nicht mehr daran erinnern konnte, was sein toter Sohn ihm sagen wollte.

Die einzige Erkenntnis, die er aus dem Traum mitnahm, war, dass die Trauer unerschöpflich war, die Wunde noch offen und sich nie schließen würde.