18

Auch am Freitag ließ Kerstin Sofia noch nicht wieder in die Schule. Das Mädchen freute sich darüber. Ihr gefiel ihr Alleinsein, das mit Geheimnissen angefüllt war.

Solange sie nicht zur Schule musste, konnte sie sich sogar noch nachts darüber freuen. Sie konnte immer dann für eine Weile schlafen, wenn es ihr gefiel. Und nach dem Mittagessen, bevor Oma heimkam, eine ganze Stunde. So konnte sie sich die Wachzeit für die dunklen Stunden aufsparen, wenn die Welt schlief und sie die Einzige war, die dem Wind lauschte.

Nächte waren am besten für Geheimnisse.

Es war Sofia gut gegangen, bis zu dieser Nacht von Freitag auf Samstag. Jetzt war sie voller Fragen und Angst.

Sie waren beim Arzt gewesen, Oma und sie. Am Freitagnachmittag, als das Wetter umschlug, nasse Böen zogen von Westen her auf, und ein ekliger Regen peitschte in schweren Schauern durch das Land. Mitten im Winter, kurz vor Weihnachten, schmolz die dünne Schneedecke in Rinnsalen dahin, und die dummen Kohlmeisen sangen, als wäre es Frühling. Die Erwachsenen im Wartezimmer des Arztes waren aufgebracht und sprachen über den Regen, als wäre er eine Beleidigung. Sie waren dumm wie immer, fand Sofia.

Es war auf dem Heimweg, sie hatten beim Konsum angehalten, um einzukaufen, als das Schreckliche geschah. Vor dem Kiosk lungerte wie üblich eine ganze Bande Jugendlicher herum, Große aus der Oberstufe, und sie hatten sie geärgert: »Nein, seht nur, der Kirchenengel. Du traust dich raus? Wo hast du denn deine Flügel gelassen? Hast du am Kopf keine Beule gekriegt, als du durchs Kirchendach gesaust bist?«

Es war albern, nur dumme Sprüche. Und als Oma aus dem Geschäft kam, verschwanden sie sofort, mit schlechtem Gewissen. Aber sie hatte es mitbekommen, das war Sofia klar, als Kerstin sie hochnahm, umarmte und sagte: »Du hörst doch nicht auf diese Dummköpfe?«

Vielleicht hätte Sofia gar nicht darüber nachgedacht, wenn ihre Oma sie nicht so fest an sich gedrückt und sie dabei nicht deren Herzklopfen gespürt hätte. Sofia konnte es durch den Mantel hindurch fühlen und dachte, dass jetzt wieder der Feuervogel frei sei.  

Sie wusste, dass der Feuervogel unter Omas Herzen wohnte. Meistens schlief der Vogel und brütete Omas Geheimnisse aus. Nur ab und zu, nur wenn etwas allzu garstig war, erwachte er und flatterte mit seinen Flügeln, um die Funken zu ersticken, die das Nest bedrohten.

Während sie das Mittagessen machten, sprachen sie über das, was geschehen war.

»Warum haben die das gesagt?«

»Sie haben es sicher nicht böse gemeint. Aber es war ja ein ungewöhnliches Ereignis, und du weißt, dass die Leute gern reden. In so einem kleinen Ort gibt es nicht so viel, worüber man reden kann.«

»Aber alle wissen doch, dass ich im Bett lag.«

»Ja, der Arzt und ich haben es allen erzählt. Aber dadurch wird es vielleicht nicht weniger merkwürdig.«

Sofia dachte lange nach, bevor sie fragte:

»Hast du schon mal von Leuten gehört, die die Träume anderer sehen können?«

»Nein, ich glaube nicht. Aber es gibt etwas, das heißt Telepathie; man geht davon aus, dass die Menschen manchmal die Gedanken anderer Menschen lesen können.«

Sofias Augen waren rund vor Überraschung, Kerstin sah es, verstand es jedoch falsch und fuhr fort:

»Das kommt ganz selten vor, so selten, dass man nicht einmal weiß, ob es stimmt. Aber, ja, es wird behauptet, dass Einzelne diese Fähigkeit haben.«

Sie stand mit dem Rücken zu dem Mädchen am Herd und sah nicht, wie aufgewühlt Sofia war. Als sie die Koteletts in der Bratpfanne umdrehte, war das Mädchen auf dem Weg aus der Küche ins Bad.

»Das Essen ist gleich fertig.«

»Ich möchte nichts, mir geht es nicht gut.«

Kerstin stand vor der Badezimmertür und hörte, wie Sofia sich erbrach, und dachte verzweifelt, wir müssen hier weg, weg von hier. Klara muss das Kind zu sich nach Uddevalla nehmen, wie auch immer, Hauptsache, sie kommt hier weg.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, ist schon vorbei. Aber ich lege mich lieber hin.«

Sie war grau im Gesicht, als sie aus dem Bad kam. Kerstin half ihr, sich auszuziehen, und brachte sie ins Bett. Nach nur wenigen Minuten schlief sie, und Kerstin ging wieder in die Küche, versuchte ein Fleischstück hinunterzukriegen. Die Bissen wuchsen in ihrem Mund, der Regen schlug gegen die Scheiben.

Eine Stunde später weckte sie Sofia mit Tee. »Es ist wichtig, dass du was trinkst.« Sofia trank gehorsam, aß ein Butterbrot und wollte duschen. Sie meinte, sie würde schlecht riechen.

Eine halbe Stunde später schlief das Kind wieder, und Kerstin wollte gerade den Telefonstecker herausziehen, als es klingelte. Es war Göteborg Radio, Hans. Er hatte soeben das Kap umfahren und wollte, dass er und sie ein paar Tage allein auf Gran Canaria hatten, bevor sie zu der Familie stießen.

»Ich weiß nicht, es ist schlimmer, als du denkst.«

»Kerstin!«

»Ja, ja, ich werde versuchen, es hinzukriegen.«

Erst als sie aufgelegt hatte, fiel ihr ein, dass seine Stimme müde geklungen hatte, traurig und müde.

 

Sofia wachte um Mitternacht auf, wie sie es sich vorgenommen hatte und lauschte aufmerksam zum Zimmer der Oma. Diese schlief fest, das war gut. Jetzt ging es darum nachzudenken, ganz ruhig, eins nach dem anderen. Sie setzte sich auf, stopfte die Kissen hinter ihren Rücken, schaute in die Nacht und horchte, wie der Wind mit dem Regen spielte und seine Schauer zwischen die kahlen Bäume trieb.

Immer, immer wieder, sagte sie leise und nickte jedes Mal. Immer wieder habe ich gedacht, dass die Leute bescheuert sind. Alle, die Großen und die Kleinen, ausgenommen höchstens Klara, die auf eine andere Art und Weise dumm ist. Und heute habe ich erfahren, dass das daran liegt, dass sie nicht die Gedanken der anderen hören können, dass es so ungewöhnlich ist, dass man nicht einmal glaubt, es könnte gehen.

Es ist etwas Merkwürdiges an mir. Deshalb konnte ich Anders dazu bringen, meinen Traum zu träumen, und die Leute in der Kirche, ihn zu sehen, obwohl ich das gar nicht wollte. Und deshalb musste Omas Feuervogel sofort die Flammen löschen. Das Feuer wird immer entfacht, wenn sie Angst hat. Und sie hat Angst, wenn ich ihr erzähle, was der Berg sagt, was Tante Inger denkt, dass Hans sich auf dem Schiff Sorgen macht; und ich dachte, alle würden es sehen und hören.

Ich habe mich immer gewundert, warum man nicht darüber reden durfte. Ich dachte, das sei wie mit Pinkeln und Stuhlgang, dass die Großen es einfach nicht wollen, dass man drüber spricht. Dabei ist es eine Krankheit, wegen der man sich schämen muss.

Jetzt kamen ihr die Tränen. Zum ersten Mal gab es in Sofias Einsamkeit Verzweiflung.

Ich mag Anders so gern. Aber er hat Angst vor mir. Weil er begreift, dass mit mir etwas nicht stimmt. Er hat es verstanden, weil er ein bisschen auch so ist wie ich, wenn er zum Beispiel sagt, so eine blöde Frau sei eisblau mit roten Flammen an der Spitze. Wir waren uns nur wenige Male nicht einig, zum Beispiel als ich sagte, seine Mama wäre grün wie das Gras im Frühling, und er aber meinte, natürlich wäre sie außen grün, aber darunter gäbe es die Masken. Ich konnte sie nicht sehen, und deshalb wurde er schrecklich wütend auf mich. Und jetzt will er mich nicht mehr sehen – und heute Abend habe ich verstanden, warum. Er will nicht, dass ich seine Gedanken lese.

Mit Oma kann ich nicht darüber sprechen, denn dann würde ihr Feuervogel sie verbrennen. Hans? Vielleicht ginge das. Aber er ist ja immer so weit weg. Und Papa, er würde nur böse werden.

Klara?

Lange Zeit dachte sie an Klara, die es wusste, die wie Anders war, und die selbst … Aber Klara war ja noch ängstlicher als Anders.

Deshalb bin ich ja so böse auf sie, dachte Sofia. Und im nächsten Augenblick: Wovor haben sie eigentlich Angst?

Es musste gefährlich sein, etwas, woran man sterben konnte. Beide, Anders und Klara verleugnen das und lügen. Sie schämen sich. Es musste etwas sein, was peinlich war.

Dann fiel ihr Tante Inger ein, die Einzige, die offen über Sofias Gaben sprach.

Sie nennt es eine Gabe, als wäre es etwas Schönes. Und sie selbst beschäftigt sich damit, tut jedenfalls so, als könne sie es. Obwohl das gelogen ist, sie deutet ihre Sterne und guckt in die Zukunft und weiß dabei gar nicht, dass es gelb und falsch um ihren Kopf funkelt. Und die Leute lachen hinter ihrem Rücken über sie. Sie wissen, dass sie nur blufft, obwohl sie das andere gar nicht verstehen.

Das ist auch lächerlich.

Sie fasste zusammen. Sie hatte eine Krankheit, die gefährlich und erschreckend war, peinlich und lächerlich. Sie selbst hatte es nicht gewusst, hatte gedacht, sie wäre wie alle anderen.

Sie dachte wieder an ihre Oma, denn Oma war auf jeden Fall diejenige, der sie am meisten glaubte. Wenn sie nicht die Gedanken anderer hören und keinen Baum tanzen sehen konnte, musste es ja langweilig für sie sein.

Denn ich habe doch Recht, dachte Sofia. Die Welt ist voller Geheimnisse. Wenn die anderen sie nicht sehen, nichts von ihnen wissen …

Ich würde nur zu gerne wissen, in was für einer Welt sie herumlaufen, all die anderen. »Wie sie aussieht und klingt«, sagte sie laut.

Sie weinte eine Weile leise vor sich hin, sagte aber schließlich: »Heute Nacht komme ich nicht weiter. Dann kann ich ebenso gut schlafen.«

Aber gerade als sie sich zurechtgelegt hatte, hörte sie ein Gespräch, dem sie vor langer Zeit gelauscht hatte, ein flüsternd geführtes Gespräch in der Küche, wo Klara mit Hans und Kerstin saß. Sie hatte mit offener Badezimmertür und gespitzten Ohren gehorcht, denn sie sprachen über ihren Papa. Klara sagte:

»Er war verrückt, total verrückt. Er hat vollkommen in einer anderen Wirklichkeit gelebt. Es gab keinen anderen Ausweg, als ihn ins Irrenhaus zu sperren.«

Sofia schrie, sprang aus dem Bett und zitterte vor Angst. Aber als ihre Oma kam und sie in den Arm nahm, riss sie sich zusammen und behauptete, es wäre nur ein Albtraum gewesen. Und als sie bei Kerstin ins Bett kriechen durfte, konnte sie bereits denken, sonderbar ruhig: Jetzt weiß ich, wovor sie Angst haben. In Zukunft werde ich mich verstellen, genau wie Klara. Sonst sperren sie mich noch ins Irrenhaus.

Sie schlief in Kerstins Arm ein, wachte aber früh auf, sah ihre Oma lange an und schwieg. Kerstin spürte den Blick, erwachte und fragte:

»Was ist los, Sofia?«

»Kannst du mir versprechen, dass ihr mich nie, niemals in ein Irrenhaus sperrt?«

Kerstin setzte sich abrupt im Bett auf, sah dem Mädchen in die Augen und versprach:

»Das schwöre ich, Sofia.«

Sie kreuzte die Finger, Sofia nickte, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie wieder unter die Decke kroch und einschlief.

Kerstin lag wach, starrte zur Zimmerdecke, sah das graue Morgenlicht vor dem Fenster heller werden. Sie weinte nicht, aber es hätte ihr gut getan.

Sie weiß es. Das war ihr erster Gedanke. Und der nächste: Ich habe es ihr versprochen, aber ich habe nicht das Sorgerecht für das Kind. Deshalb kann ich eigentlich gar nicht … Aber ich werde für mein Versprechen einstehen, o Hans, ich werde um jeden Preis mein Versprechen halten. Auch wenn ich dir wehtue, meine Klara, auch wenn die Familie daran zerbricht.