19

Anders erwachte am Samstagmorgen mit Kopfschmerzen und einem Schweregefühl im Körper. Er wusste, dass dies an den Tabletten lag, die der Arzt ihm verschrieben und die Katarina ihm abends gegeben hatte.

Trotzdem mochte er die Schlaftabletten, die ihn ins Nirgendwo verschwinden ließen. Das war schön, so schön wie der Tod sein musste. In den letzten Tagen hatte er viel über den Tod nachgedacht.

Heute sollte der Arzt kommen, nicht Rune mit seinem schrecklichen Hund, sondern der alte Doktor, den er schon kannte, seit er ganz klein gewesen war. Der war ein klasse Mann, der wirklich viel verstand, und schon hatte Anders sich entschieden. Er würde reden. Aber Sofia und er hatten ja geschworen, es nie jemandem zu erzählen!

Er bat seine Mutter um eine Tasse Kaffee, was ungewöhnlich war. Aber als er sagte, dass er Kopfschmerzen habe, streichelte sie sein Gesicht, folgte den Gesichtszügen mit ihren Fingern. Er hielt seinen Kopf so, dass sie ihre Hand um das Kinn und den Nacken führen konnte. Sie sagte nichts, und auch dafür war er ihr dankbar.

Plötzlich wusste er, was er machen musste. Er würde Sofia anrufen, dieses ekelhafte Mädchen, und sie bitten, ihn von seinem Schwur zu entbinden. Es war einfach notwendig, er musste wissen, ob das, was er in der Kirche gesehen hatte, die Welt war oder nur Sofias Traum. Er musste es einfach wissen …

»Ich will Sofia anrufen«, sagte er. »Aber du darfst nicht zuhören.«

»Ich gehe raus und schließe die Tür.«

Er hörte, wie sie in der Türöffnung stehen blieb und wusste, dass sie ihn bitten wollte, nett zu sein. Aber dann ärgerte sie sich, ging hinaus; die Scharniere knarrten, als die Tür von außen geschlossen wurde. Er wählte die Nummer:

»Horner«, meldete sich Kerstins Stimme, und Anders konnte hören, dass sie tiefer klang als sonst.

»Ich möchte mit Sofia sprechen«, sagte er. »Allein.«

»Ich werde es ihr sagen. Sie kann das Gespräch oben in meinem Schlafzimmer annehmen, während ich hier unten das Frühstück mache.«

»Danke schön«, sagte Anders und dachte, dass sie in Ordnung war, Kerstin war so eine, die viel verstand.

Sofias Stimme klang überrascht und ängstlich, aber sie versprach, die Schlafzimmertür zu schließen, und als sie zurückkam, sagte er:

»Ich muss herausfinden, ob das, was ich in der Kirche gesehen hab, wirklich ist. Verstehst du das?«

»Nein. Was sollte es denn sonst sein?«

»Du könntest mich ja auch verhext haben.«

»Du bist nicht ganz gescheit. Ich bin doch keine Hexe.«

»Das glaube ich aber«, schrie Anders; dann riss er sich aber zusammen und nahm sich vor, einfach zu sagen, worum es ging, und das in nettem Ton.

»Heute kommt der Doktor. Ich möchte ihm alles erzählen.«

»Tu das«, sagte Sofia und warf den Hörer hin; sie rannte die Treppe hinunter und schrie Kerstin an:

»Sag mir die Wahrheit, Oma. Bin ich eine Hexe?«

»Du bist ein ganz normales kleines Mädchen. Du bist nur für viele Eindrücke empfänglicher als andere Kinder.«

»Eindrücke, die es gibt?«

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

Sofia entspannte sich und erzählte, was Anders gesagt hatte. Zum ersten Mal fühlte Kerstin, wie wütend sie auf den Jungen war.

»Jetzt rufe ich ihn an«, sagte sie. »Ich werde kein Wort von eurer Abmachung sagen, dass du es mir schon erzählt hast und so. Nur meine ehrliche Meinung darüber, wie eklig er sich benimmt.«

Kerstin rief an und hoffte, der Junge würde antworten; sie wollte nicht mit Katarina sprechen. Und es war tatsächlich seine Stimme, die sich meldete: »Berglund.«

»Anders«, sagte Kerstin. »Wie Leid mir das mit dir auch tut, aber du hast kein Recht, so eklig zu sein. Ich weiß nicht, worüber du mit Sofia gesprochen hast, aber sie sitzt hier bei mir, weiß wie ein Laken, weil du sie eine Hexe genannt hast. Damit hörst du auf. Sie ist ein Kind, du bist zwei Jahre älter als sie und hast trotz allem die Verantwortung.«

»Ich wollte nicht eklig sein, aber ich habe Angst vor ihr.«

Kerstin war den Tränen nahe. Doch sie schluckte sie hinunter und fuhr fort:

»Das verstehe ich nicht. Und ich finde es merkwürdig, dass ein so großer Junge vor einem kleinen Mädchen Angst hat. Du weißt doch, dass Sofia lieb ist, dass sie keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.«

»Du hast keine Ahnung«, sagte Anders. »Du weißt nicht, wie sie wirklich ist.«

»Das wäre aber seltsam, findest du nicht? Schließlich wohne ich doch mit ihr zusammen, ich habe sie jeden Tag gesehen, seit sie ein Baby war. Und ich bin doch kein Dummkopf, Anders. Es ist sogar mein Beruf, Kinder zu verstehen.«

»Ich glaube ja nicht, dass du dumm bist. Du verstehst nur nicht, was du nicht verstehen willst.«

»Ich verstehe viel mehr, als du glaubst«, sagte Kerstin und legte den Hörer auf. Sie war immer noch wütend, als sie zu Sofia sagte, dass sie beide jetzt miteinander reden müssten, nicht über Anders, sondern über Sofia selbst. Über all die Gedanken, die sie nachts quälten, über ihre Angst.

Sie machten im Kachelofen im Wohnzimmer Feuer und nahmen den Tee mit dorthin.

Sofia schwieg, aber Kerstin sprach über die verschiedenen Wirklichkeiten, über getrennte Welten, über Leute, die viel erlebten, und andere, die nur das sahen, was direkt vor ihrer Nase geschah. Und darüber, dass Sofias besondere Art zu sehen eine Fähigkeit war, mit der man vorsichtig umgehen musste.

»Du musst nur eines lernen«, sagte sie. »Bisher bist du noch zu klein gewesen, um das zu verstehen, aber jetzt musst du damit anfangen.«

»Womit?«

»Du musst deine Wirklichkeiten auseinander halten. Es gibt diese hier, das Zimmer, in dem wir sitzen, das Feuer, die Farbe meines Morgenmantels, den Geschmack deines Butterbrots, den Regen draußen. Das ist die übliche Wirklichkeit, die alle erfassen können. Verstehst du?«

»Ja.«

»Und dann kannst du etwas anderes sehen, hinter den Dingen. Und du kannst hören, dass der Regen wie ein Mensch lacht, wie du mir heute Morgen erzählt hast. Manchmal weißt du, was ich denke, und manchmal spürst du in dir, was passieren wird, nicht wahr?«

»Genau.«

»Das alles gehört zu einer anderen Wirklichkeit. Das ist eine Art Begabung. Sie macht das Leben reicher, und ich hoffe, dass sie dir niemand nehmen kann. Aber du musst lernen, diese verschiedenen Welten nicht miteinander zu vermischen.«

Sie sprachen lange miteinander, Sofia konnte sogar von dem Feuervogel in Kerstins Herz erzählen, der so viel Angst hatte, so schrecklich viel Angst.

Als sie aufbrachen, um den Großvater zu besuchen, war beiden leichter ums Herz, auch wenn Sofia sorgenvoll sagte:

»Das wird schwer, Oma. Denn ich sehe ja nicht, dass es zwei Welten sind. Für mich ist es nur eine.«

»Wir werden das üben«, sagte Kerstin. »Ich helfe dir, und du hast keine Angst mehr vor meinem Feuervogel. Es ist nicht gefährlich, wenn er Angst hat, im Gegenteil, er muss einfach manchmal herauskommen und flattern.«

 

Anders blieb lange mit dem Hörer in der Hand sitzen. Er war wütend und sauer auf Kerstin. Und auf Sofia, dieses Klatschmaul, das zu seiner Oma gerannt war und sich da ausgeheult hatte. Ein albernes Kleinkind, das getröstet werden musste.

Worüber sollte sie denn schon traurig sein.

Und Kerstin, diese überlegene Kuh. Sie hatte gesagt, er sei ein großer Junge, der eine Verantwortung habe, das war ja wohl zu blöd. Sie hatte doch keine Ahnung, was es hieß, blind zu sein.

Er hörte Katarina sauber machen, der Staubsauger, den er verabscheute, fuhr im Wohnzimmer über Teppiche und Sessel. Das war gut, so hatte sie nicht gehört, dass das Telefon geklingelt hatte. Er beschloss, ein Bad zu nehmen, und rief:

»Mama, kannst du mir helfen, Wasser einlaufen zu lassen?«

Er konnte spüren, dass sie sich freute, als sie im Bad alles bereitmachte, dass ihre Bewegungen gelöster waren. Für einen kurzen Moment spürte er Mitleid mit ihr, sie hatte es nicht leicht gehabt in den Tagen, als er im Bett gelegen und kein Wort gesagt hatte.

Ach, scheiß drauf, ich scheiße auf alles, dachte er. Als das warme Wasser seinen Körper umschloss, dachte er erneut an den Tod und wie einfach dann alles wäre …

Noch einmal rief er sich die Bilder aus der Kirche ins Bewusstsein, ein Bild folgte dem anderen in der richtigen Reihenfolge, alle leuchteten, voller Licht und Farben. Anfangs waren sie nur erschreckend gewesen. Aber die Angst ließ mit der Zeit nach. Sicher, die Welt war gefährlich. Aber sie war auch wunderbar. Er betrachtete lange das hellblaue Kirchengewölbe, dachte daran, dass es blau war, dass Blau wie glänzende Freude war, wie Musik. Und der Himmel, alle sprachen vom Himmel, und er hatte nie gewusst, was Unendlichkeit war, was sie damit meinten, wenn sie vom Himmel und dem Sonnenlicht sprachen. Am längsten verweilte er bei dem Gesicht des Pfarrers, dem aufwärts gerichteten Gesicht, voller Glück. Niemand hatte ihm gesagt, dass der Pfarrer so schön war, dass all die Menschen, die ihn anstarrten, und auch Sofia so schön waren.

Und die Augen, dachte er. Wie merkwürdig sie waren, wie dunkel schimmernde Löcher im Gesicht. Mit ihnen nahmen die anderen das Licht auf. Sahen. Er selbst würde niemals … denn seine Augen waren tot, dem Licht und den Farben verschlossen. Er hatte nicht gewusst, wie schrecklich das war. Blind, sehbehindert – er hatte es nicht begriffen. Jetzt, wo er es wusste, wollte er sterben. Aber vorher musste er sicher sein, vollkommen sicher, dass er wirklich gesehen hatte und nicht verhext worden war.

Kerstin wusste nicht, dass Sofia eine Hexe war, dass sie die sonderbarsten Dinge hervorzaubern konnte. Der Arzt müsste es wissen. Und eines war gut an ihm: Er log nie. Er würde die Wahrheit sagen.

Wie so oft in den letzten Tagen holte Anders die Erinnerung an den Tag hervor, als sie auf den Berg geklettert waren. Und er kam immer wieder zu dem gleichen Schluss: Sofia war verrückt. Lange Zeit überlegte er, ob sie zusammen sterben sollten. Er hatte sich ausgemalt, wie das vor sich gehen könnte, sie würden zusammen aufs Meer hinausschwimmen, und dort würde er sie in die Tiefe ziehen. Auf den Kanarischen Inseln in einer Woche. Wenn das möglich war, denn dort war auch der Kapitän.

Anders mochte nicht an Hans Horner denken. Es fiel ihm schwer, ihn zu bewundern, diesen Riesenkerl, der Anders fast in den Himmel gehoben und ihm versprochen hatte, du und ich, wir werden segeln. Schon lange vor dem Sommer hatte Anders vom Segeln geträumt, aber der Kapitän hatte es vergessen, und so kam der Herbst, und er fuhr davon, wie immer, ans Ende der Welt.

Hans Horner wird natürlich schrecklich traurig werden, wenn Sofia ertrinkt, dachte er. Das geschieht ihm nur recht.

»Ich habe dir saubere Sachen auf dein Bett gelegt, Anders.«

Mama wird auch traurig sein, dachte er, während er sich anzog. Wenn ich sterbe. Aber sicher nur für kurze Zeit, dann wird sie sich freuen. Denn seine Mutter hatte seit seiner Geburt keinen glücklichen Tag mehr gehabt.

Er ging in die Küche, hörte ihre helle Stimme, als sie sagte, er sei ein hübscher, ein richtig netter Junge. Sie fuhr ihm durchs nasse Haar, strich ihm über die Wange, und er wollte sie gerade bitten, damit aufzuhören, als es an der Tür klingelte.

Doktor Stenström war ein großer, kräftiger Mann, etwas schroff und fordernd. Aber gut. Katarina wusste das, denn der Arzt hatte Anders immer geholfen, auch wenn es schwierig gewesen war. Jetzt war er pensioniert und hatte mehr Zeit, sich um die besonderen Probleme der Blinden zu kümmern. Er forschte auf diesem Gebiet, hatte Kerstin erklärt.

Er wollte gern eine Tasse Kaffee und ihn in der Küche trinken. Es ist schon merkwürdig mit den Erwachsenen, die immerzu reden können, dachte Anders, während er selbst sich immer angespannter fühlte, solange Katarina übers Regenwetter und die schlechten Busverbindungen plapperte. Aber als der Arzt erwiderte, er fahre Auto und habe den ganzen Tag zur Verfügung, wurde er ruhiger.

»Ich will alles erzählen, von Anfang an«, sagte Anders, als sie endlich in seinem Zimmer saßen, einander gegenüber an seinem großen Schreibtisch mit der Punktschriftmaschine und dem Bandgerät auf der Tischplatte.

»Aber es ist schwer«, sagte er. »Weil die Zeitungen und so sich da eingemischt haben.«

»Du weißt doch, dass ich der Schweigepflicht unterliege«, sagte der Doktor scherzhaft.

Und dann begann Anders zu erzählen, von seinem Treffen mit Sofia im letzten Frühjahr, wie sie Freunde wurden, zusammen spielten, über Gott sprachen und auf den Berg kletterten.

»Ich hätte ja sofort erkennen müssen, dass sie verrückt ist, als sie mich an ein Seil festband und mich wie einen normalen Bergsteiger die steile Wand hochklettern ließ. Obwohl ich blind bin.«

»Für mich klingt das so, als ob sie ganz genau wusste, was sie machen musste«, sagte der Arzt. »Es konnte doch gar nichts passieren. Wenn du gefallen wärst, hätte sie dich gehalten. Und du hast doch mitgemacht.«

»Aber doch nur, weil ich gar nicht wusste, wie gefährlich das war«, schrie Anders. »Das war ja bevor … ich das mit Höhen und Tiefen verstanden habe.«

Stenström war verblüfft und fragte:

»Verstehst du das denn jetzt?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Lass uns von Anfang an darüber sprechen, eins nach dem anderen.«

Anders erzählte von den Psalmen, die sie gesungen hatten, von Sofias Erzählungen über die Toten, und wie ihnen die Idee gekommen war, ihre Träume zu teilen. Wie sie trainiert hatten, Nacht für Nacht, die ganzen Sommerferien über, und wie es ihnen schließlich gelungen war.

»Ich habe ihren Traum geträumt. Wir waren in einem Boot, es war fast dunkel, aber ich konnte sehen, wie sie ruderte, die Ruder, die sich hoben und senkten. Es war auf einem Fluss, und plötzlich ging die Sonne auf, es wurde hinter dem Wald am Ufer hell. Das war so gewaltig, ich bekam solche Angst, dass ich aufgewacht bin. Danach bin ich noch lange im Bett einfach liegen geblieben, ich war überrascht und auf merkwürdige Weise traurig. Obwohl ich nicht wusste, warum, da noch nicht. Und dann kam Sofia wie eine Verrückte angerannt und jubelte: ›Wir haben es geschafft, wir haben es geschafft.‹

Eigentlich wollte ich mit dem Zusammenträumen nicht weitermachen, aber ich hatte Angst … ich hatte Angst, dass sie dann nicht mehr mit mir zusammen sein wollte.«

Er erzählte ausführlich, wie sie für ihren Kirchentraum trainiert hatten, wie sie in der Kirche gesessen und wie Sofia ihm beschrieben hatte, wie alles aussah.

»Aber ich weiß nicht, ob sie sich nicht alles nur ausgedacht hat. Sie hat immer alle möglichen Ideen.«

»Erzähl weiter, Anders.«

»Dann, am Samstag vorm Advent, bekamen wir die Grippe, genau wie Sofia gesagt hatte. Damit ist ja wohl deutlich, dass sie eine Hexe ist.«

»Warum solltet ihr denn krank werden?«

»Damit wir am Sonntag um elf Uhr schlafen konnten, ist doch klar.«

Jetzt schwieg der Arzt vor Verwunderung. Er hatte wie alle anderen von dem Wunder in der Östmora-Kirche gelesen und wusste nicht so recht, wie er es bezeichnen sollte: Phantasie, Halluzination. Doch zu seiner Überraschung erhellte sich das Gesicht des Jungen, und er lachte leise auf:

»Du weißt ja, was dann passiert ist«, sagte er. »Wir haben es gemacht, und es ist geglückt. Dass die anderen uns dabei gesehen haben, verstehe ich nicht, das muss wohl daran liegen, dass Sofia eine Hexe ist. Und außerdem ist es mir scheißegal. Aber ich … ich muss wissen, ob ich das, was ich sah, als ich geflogen bin, auch wirklich gesehen habe. Ob es wirklich ist, verstehst du? Oder nur ein Traum, den Sofia geträumt hat.«

»Warum musst du das wissen?«

Die Stimme des Jungen brach, als er versuchte, es zu erklären. Wenn es nur ein Traum gewesen war, dann war ja das meiste wie vorher, und er konnte weiterleben, zur Schule gehen und so weiter, wie immer. Aber wenn es stimmte, wenn er wirklich gesehen hatte …

Er schwieg und weinte.

»War es schön, was du gesehen hast?«

»Zuerst war es nur schrecklich, gefährlich, schrill und so. Ich dachte, alles, was freundlich und gut ist, müsste in diesem schrecklich grellen Licht sterben. Doch dann wurde es irgendwie immer schöner, so glänzend.«

Stenström war aufgewühlt und traurig. Aber er überlegte schnell, und er wusste genau, dass Anders es sofort merken würde, wenn er log.

»Da können wir nur eins machen«, sagte er. »Wir gehen in die Kirche und setzen uns beide dort hin. Dann beschreibe ich dir, was ich sehe, und du sagst mir, ob das stimmt.«

»Das ist eine tolle Idee!«

Katarina hatte immer noch Angst, sagte aber nur, sie müssten den Kirchendiener anrufen. Denn es war ja nicht gesagt, dass die Kirche an einem gewöhnlichen Samstag geöffnet war.

»Wir gehen einfach hin und gucken nach, Mama. Es ist ja nur um die Ecke.«

Anders hatte sich bereits seinen Mantel angezogen, und der Arzt war seiner Meinung: »Wir versuchen es.« Die Kirche war offen, Leute stellten Stühle auf, trugen Gesangbücher herein, ordneten die Blumengestecke. Östmora rüstete sich für einen Sonntag mit mehr Menschen im Gottesdienst, als Ort und Kirche je gesehen hatten.

»Wir brauchen Ruhe«, flüsterte der Junge, und der Arzt sprach mit dem Kirchendiener, sagte, der blinde Junge sei von all den Gerüchten so aufgewühlt, dass er den Kirchenraum auf seine Art sich anschauen müsste. Der Kirchendiener nickte und sagte, er verstehe, und er würde mit den anderen eine Kaffeepause machen.

Dann setzten sie sich in die erste Bank, wo Anders und Sofia auch in ihrem Traum gesessen hatten. Mit gedämpfter Stimme begann Stenström ganz ruhig zu beschreiben, was er sah. Den Altar, die fein bestickte Decke mit dem goldenen Kreuz, die Kerzenhalter, die niedrige blaugraue Schranke, den schönen Läufer.

Anders war blass, hörte jedoch genau zu und nickte bei jeder Einzelheit, die beschrieben wurde. Als der Arzt zu dem hohen Kirchenfenster mit den farblosen Scheiben kam, keuchte er. Endlich, endlich begriff er, warum die anderen etwas in der Entfernung, manchmal durch Wände hindurch wussten. Ihm fiel eine Lehrerin ein, die einmal gesagt hatte: »Mein Gott, ist das dunkel hier, wir müssen mal die Gardinen aufziehen.« Er hatte ihr geholfen, die Vorhänge zur Seite zu ziehen, und war lange Zeit dort stehen geblieben und hatte das Harte, Undurchdringliche betastet, das sie Glas nannten. »Durchsichtig«, hatte sie gesagt, die Lehrerin, und das war eines der vielen Worte, die er nicht verstand.

Jetzt wandte er sein Gesicht dem Fenster zu, erinnerte sich daran, wie das Licht an diesem sonnigen Sonntag hereingeflossen war, und wusste, dass er das nie wieder vergessen würde.

Stenström beschrieb Jesus am Kreuz. Anders flüsterte:

»Er hat einen Mittelscheitel unter der Dornenkrone, siehst du?«

»Nein. Das kann man nicht von hier aus sehen. Weißt du, wir sitzen ja weit unter ihm. Du hast ihn von oben gesehen, aus einer anderen Perspektive.«

Noch ein Wort, das er benutzt hatte, ohne es zu verstehen.

»Als ich flog, waren die Menschen, die vorne saßen, ziemlich groß. Aber weiter hinten in der Kirche waren sie winzig. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum die, die so klein sind, am weitesten hinten sitzen müssen.«

»Das stimmt so nicht. Das hat auch mit der Perspektive zu tun. Je weiter weg etwas ist, umso kleiner scheint es zu sein. Wenn man ganz weit hinten auf dem Meer ein riesengroßes Schiff sieht, erscheint es klein wie eine Mücke.«

»Wie merkwürdig«, flüsterte der Junge.

»Aber Anders, du weißt doch, dass es mit den Tönen ganz genauso ist. Wenn du einen lauten Knall hörst, musst du dir die Ohren zuhalten, wenn du nahe dran stehst. Knallt es weiter weg, dann hörst du nur einen Puff.«

»Aber das ist doch selbstverständlich«, sagte der Junge, der gern mit dem Bandgerät auf dem Kopfkissen einschlief.

»Genau.«

Er dachte lange darüber nach und endlich meinte er es zu verstehen.

 

Das Gewölbe war hellblau, in einer zarten Himmelsfarbe gestrichen, erzählte der Arzt, und Anders dachte an das Hellblau und an den Himmel. Dann dachte er an die Trauer, die sie schwarz nannten, dunkel wie das Grab. Und in ihr lebte er, in der Dunkelheit, für immer.

»Warum«, flüsterte er, konnte aber nicht weitersprechen. Stenström verstand ihn, fragte aber dennoch: »Was?«

Doch der Junge hatte keine Kraft mehr, und außerdem wusste er, dass es sowieso gleich war. Der Arzt würde auch keine Antwort wissen, niemand hatte eine. Nur Gott weiß es, pflegte sein Vater zu sagen, aber Anders glaubte nicht an Papas Gott. Und mit den Jahren war ihm klar geworden, dass auch seine Mutter nicht an ihn glaubte.

»Der da am Kreuz«, flüsterte er, »Jesus, er konnte … den Blinden in die Augen spucken, und danach konnten sie sehen.«

Er spürte das Zögern des Arztes, bevor dieser sagte, dass das schon lange her sei, dass Jesus jetzt seit fast zweitausend Jahren tot sei.

»Das sind doch alles nur Märchen, und das weißt du«, sagte Anders aufgewühlt. »Dieser ganze Scheiß mit den Blinden, die sehend wurden, und den Lahmen, die gehen konnten, und die Auferstehung von den Toten, das alles zusammen ist doch nur Schnickschnack.«

Er fühlte, dass er gern weinen wollte. Aber in ihm war alles eingetrocknet, hart und entschlossen. Er wusste, was er zu tun hatte. Aber Sofia wollte er verschonen. Sie hatte nicht gelogen. Sie war eine Hexe, aber gelogen hatte sie nicht.