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Der Regen über dem östlichen Svealand zog im Morgengrauen aufs Meer hinaus. Am zweiten Adventssonntag würde die Sonne scheinen, bei fünf Grad plus; es tropfte von den Bäumen und in den Rinnsteinen rieselte das Wasser. Wäre die Nacht nicht so lang gewesen, hätte man glauben können, es wäre Frühling.

Noch um acht Uhr morgens lag die Dunkelheit schwer auf Norrtull, als die ersten, die Eifrigsten, sich schon auf die Europastraße 4 begaben. Aber in Uppsala schien die Sonne, und an der Ampel war Vogelgezwitscher zu hören. Die Tannenbäume im Ort funkelten vergeblich.

Schließlich kamen die Besucher nicht der Weihnachtsdekoration wegen, ihr Ziel war die Kirche in Östmora. Auf der engen Straße bei Vaksala kam es zum Stau, denn auch die Leute aus Uppsala waren auf dem Weg zu dem kleinen Ort am Meer.

Am schlimmsten traf es alle, die die Norrtäljestraße genommen hatten. Denn dort stießen sie auf die Autos von der Küstenstraße über Åkersberga. Und außerdem noch alle aus Norrtälje. Es wurde das reinste Chaos, wie ein Freitagabend auf der Stocksundsbro, meinten die Stockholmer, die immer wieder auf ihre Uhr sahen und meinten: »Wir kriegen doch nie und nimmer noch einen Parkplatz. Wenn wir überhaupt rechtzeitig ankommen.«

Aber die Sorge um einen Parkplatz war unnötig. Bereits am Freitagvormittag hatte die Polizei die Kais und den Marktplatz von Östmora freigeräumt und mit den Brüdern Björkman gesprochen, denen der Hof neben der Kircheneinfahrt gehörte.

Schließlich hatten die beiden sogar ein persönliches Interesse an der Sache. Also versprachen sie, den großen Acker neben der Straße zur Verfügung zu stellen. Sie streuten sogar Kies auf die Einfahrt und stellten ein Schild auf: »Parkplatz«. Erst als sie das alles fertig hatten, kam ihnen der Gedanke, dass sie ja Gebühr nehmen könnten, ein Fünfer pro Auto wäre doch wohl nicht zu viel. Also malten sie den Preis auf das Schild und stritten sich darüber, wer auf dem Feld bleiben und das Geld in Empfang nehmen sollte. Beide wollten ja gern rechtzeitig in der Kirche sein. Und sich gute Plätze sichern. Also riefen sie Mia Johansson an, die immer so hilfsbereit war, und fragten, ob sie den Parkplatz bewachen könnte.

Aber dieses eine Mal wies Mia sie ab:

»Ich glaube, ihr seid nicht ganz gescheit. Soll ich an so einem Tag auf eurem lehmigen Acker rumstehen.«

Doch sie hatte eine gute Idee: Die Brüder sollten einen Briefkasten unter dem Schild befestigen und darauf schreiben: »Legt das Geld hier hinein.«

»In die Kirche gehen nur ehrliche Leute«, sagte sie.

Die Brüder waren sich da nicht so sicher, wussten sich aber keinen anderen Rat. Also schrieben sie zum dritten Mal ein neues Schild, fanden einen alten Briefkasten mit Holzklappe und nagelten ihn darunter fest.

Katarina Berglund hatte Kerstin bereits am Samstagabend angerufen und sich erboten, rechtzeitig in die Kirche zu gehen, um Plätze zu reservieren. Anders wollte nicht mitgehen, aber er schien ruhiger, seit er mit dem Arzt gesprochen hatte. Berglund selbst ging nie in die Staatskirche, aber vielleicht wollte ja Kerstin? Und Sofia?

Kerstin zögerte, aber Sofia war begeistert: »Natürlich, Oma, natürlich müssen wir hin und hören, was er sagt.«

Man konnte fast behaupten, dass der Einzige in Östmora, der noch ziemlich ruhig blieb, der Mann war, auf den sich alle Erwartungen richteten. Karl Erik Holmgren hatte die ganze Woche an seiner Predigt gearbeitet, lange Zeit mit Hilfe des Arztes. Fast jeden Abend war Åke Arenberg ins Arbeitszimmer des Pfarrers geschlüpft, sehr zur Verwunderung und Beunruhigung der Pfarrersfrau. Was heckten die beiden dort aus?

Sie schaute ihren Mann nicht mehr vorwurfsvoll an, zum Teil, weil sie es nicht mehr wollte. Aber auch, weil sie widerwillig zugeben musste, dass an dem, was Karl Erik über sie gesagt hatte, etwas dran war, sie war die geborene Märtyrerin. Wenn die ganze Aufregung vorbei war, würde sie es ihm sagen, ihm erklären, dass sie es nicht so gemeint hatte, dass sie einfach immer Angst hatte. Schon ihr Vater hatte das gesagt: »Du bist genauso ein Angsthase wie deine Mutter.«

Er hatte das ganz liebevoll gesagt, das wollte sie auch Karl Erik so erzählen. Man konnte doch nichts dafür, wenn man Angst hatte, flüsterte sie ihrem Neugeborenen zu. Man kann es doch schon an dir sehen, dass das erblich ist, du bist auch so ein kleines, ängstliches Häschen.

Und das Baby jammerte.

Als sie an dem Sonntagmorgen das Rollo aufzog, schrie das Kind aus vollem Hals, und sie selbst war einer Ohnmacht nah. Östmora wimmelte vor Autos und Fahrrädern, vor Männern und Frauen, Jungen und Alten. Es erinnerte an Bilder im Fernsehen, wenn von einem Aufruhr berichtet wurde. Auch hier gab es reichlich Polizisten, die winkten und dirigierten. Mein Gott, wimmerte sie, nahm sich dann aber zusammen und betete:

»Vater unser, der du bist im Himmel, hilf uns …«

Bereits um zehn Uhr war die Kirche voll besetzt. Der Kirchendiener holte den Chor von der Empore und stellte dort noch weitere Stühle auf. Um halb elf drängten sich die Menschen im Mittelgang und entlang der Seitengänge. Kurz vor elf war die Vorhalle voll, und als die Glocken um Frieden und Versöhnung läuteten, kam es auf dem Kirchenhügel zu Schlägereien. Die Flüche übertönten die Kirchenglocken, als die Polizei die Streithähne einkassierte und abtransportierte.

Die Brüder Björkman, die immer auf das Beste unterrichtet waren, sagten hinterher, dass weit über dreihundert Seelen nicht mehr ins Gotteshaus hineingekommen waren.

Kerstin, die neben Katarina in der ersten Bank saß, nahm Sofia auf den Schoß und machte einem alten Mann Platz, der aussah, als würde er gleich umfallen. Das Mädchen war starr vor Erwartung, Kerstin selbst war ruhig.

»Du merkst sicher, dass der Feuervogel schläft«, flüsterte sie dem Mädchen zu, das nickte, lachen konnte und dann sagte:

»Auseinander halten, Oma. Auseinander halten. Das hier gehört zur gewöhnlichen Wirklichkeit, auch wenn es nicht besonders gewöhnlich ist.«