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Dann stand der Pfarrer auf der Kanzel, und die Fremden murmelten vor Überraschung, weil er so jung war. Als er die Tageslosung las, hob er seine Stimme nur an einer Stelle: »Gottes Reich kommt nicht in der Form, dass man es mit den Augen wahrnehmen kann, auch wird man nicht sagen können: ›Seht, so ist es‹ oder ›Da ist es‹. Denn ihr werdet sehen, Gottes Reich ist in euch.«

Danach legte er die Bibel hin und sagte: »Wir, die an dem Gottesdienst in Östmora am letzten Sonntag teilgenommen haben, wagen zu behaupten, dass uns Gottes Reich für einen kurzen Moment gestreift hat. Wir hatten eine Vision, in uns, dort, wo sich das Himmelreich befindet. Und uns wurde die Gnade zuteil, dieses Erlebnis miteinander zu teilen. Dafür wurden wir zurechtgewiesen und zum Ziel vieler Spekulationen und noch zahlreicherer Lügen. In unserer Zeit gibt es keinen Platz für Visionen und Wunder. Alles muss verstanden werden und erklärbar sein. Aber dennoch ist unser Leben voller Wunder. Und der ist ein Lügner, der alles leugnet, was nicht zu erklären ist.«

Zum ersten Mal störte Karl Erik Holmgren das Echo nicht, er beherrschte es und nutzte die Pausen, um seine Worte zu unterstreichen. Es war still, als hielten die Leute den Atem an. Der Reporter von der Kirchenredaktion des Rundfunksenders meinte, der Pfarrer wäre voll heiligen Zorns, die übrigen Journalisten reckten ihre Köpfe vor Erwartung: »Holmgren steht dazu, das gibt dicke Überschriften.« Die Fotografen knipsten, die Fernsehkameras surrten.

»Ich meine, neben Ursache und Wirkung gibt es noch ein anderes ordnendes Prinzip in unserer Welt. Dieses Prinzip hat mit tieferem Sinn und Bedeutung zu tun. Wir Christen nennen es Gott, die meisten leugnen es oder nennen es Zufall.«

Er schwieg lange, bevor er fortfuhr, darüber zu sprechen, wie sehr das wissenschaftliche Weltbild und sein Vertrauen in die Materie und den Zufall den Blick des Menschen verenge.

»Die meisten von euch, die heute hierher gekommen sind, halten sich nicht für gläubig. Diejenigen, die der Religion kritisch gegenüberstehen, behaupten, sie schränke das Sichtfeld des Menschen ein. An solcher Kritik kann etwas dran sein. Aber sie trifft gleichermaßen diejenigen, die statt an Gott an die Wissenschaft glauben, an Fakten statt an Wunder. Außerdem denke ich, deren Weltbild ist gefährlicher als unseres, weil es voller Hybris ist. Wenn der Mensch sich nicht selbst zügelt, wird er das Schicksal des Ikaros teilen.«

Kurz erzählte er die Sage und beendete sie mit den Worten:

»Wir leben in Ikaros‹ Zeiten.«

Die Leute in den Bänken scharrten mit den Füßen, die vielen, die stehen mussten, spürten plötzlich, wie ihnen die Füße wehtaten. Aber der Pfarrer fuhr fort:

»Es sind endlose Debatten über Glauben und Wissen geführt worden, zwischen Theologen und Naturwissenschaftlern. Ich selbst finde sie nur schwer verständlich. Wir brauchen das Wissen über Gott für unser inneres Leben und die Wissenschaft für unser äußeres. Die Wissenschaft stellt gemäß ihren Grundvoraussetzungen die Frage: Wie? Die Religion fragt: Warum? Von diesen verschiedenen Ausgangspunkten versuchen Theologen wie Naturwissenschaftler eine ehrliche Antwort zu finden. Nur wenige Christen leugnen heutzutage die Wahrheiten der Wissenschaft. Aber dennoch wissen wir alle, Sie und ich und jeder Wissenschaftler, dass unser Weg durchs Leben von Rätseln gesäumt wird, von Rätseln, die uns auf unserer Wanderung begleiten, solange wir auf der Welt sind. Unsere Fragen galten zu jeder Zeit der Schöpfung und dem Tod, dem Sinn, der Freiheit, der Liebe und nicht zuletzt dem Bösen und Gottes Mysterium. Und von der Antwort sind wir heute ebenso weit entfernt wie die Menschen der Steinzeit.«

Er hob die Arme und sagte mit Betonung auf jeder Silbe:

»Alle haben das Wunder erlebt. Ihr selbst seid ein Wunder, jeder Einzelne von euch. Keine Wissenschaft der Welt wird jemals die Frage beantworten können, was das Leben ist, was ein Mensch ist, was Verstehen ist, woher die Gedanken kommen. Auch Gott wird uns keine einfachen Antworten geben können. Er ist unergründlich mit seinen Geheimnissen.«

Es entstand eine weitere Pause, während der Pfarrer in seinem Manuskript blätterte. Als er den richtigen Zettel gefunden hatte, sagte er:

»Viele von euch haben ein Kind bekommen. Ich habe daheim einen Sohn von drei Wochen, und wenn ich ihn in den Schlaf wiege, denke ich, dass er mit seinen Fingern und Zehen, seinen fragenden Augen und seinem plötzlichen Lächeln ein größeres Wunder ist als das, was am vorigen Sonntag in Östmora geschehen ist.«

Es wurde unruhig in der Kirche, und der Pfarrer schmunzelte, als er fortfuhr:

»Mir fällt es schwer zu verstehen, was uns eigentlich daran hindert zu sehen, dass es noch andere Wirklichkeiten gibt. Warum gehen wir von einer einzigen aus? Um wie viel ärmer werden wir, wenn wir alles andere leugnen? Was ist das für eine Angst, die uns eindimensional werden lässt?«

Jetzt war die Stille so intensiv, dass man sie hören konnte. Und Sofia hielt Kerstins Hand so fest, dass es wehtat.

»Das Christentum ist eine Religion, die auf Wundern aufgebaut ist. Das größte aller Wunder ist dasjenige, um dessentwillen wir uns heute hier versammelt haben: dass Gottes Sohn auf Erden geboren wurde. Ein Kind ist mit der Wahrheit zu uns gekommen, seine Worte und seine Taten in der kurzen Zeit, die er unter den Menschen gelebt hat, waren reine Wunder. Und dem Ikaros, der meint, dass alles, was über das Leben Jesu berichtet wird, eine Legende sei, eine Massenpsychose oder eine kollektive Halluzination, dem möchte ich nur eine Frage stellen: Wie erklären Sie, dass die Geburt dieses Kindes die ganze Welt verändert hat?«

Wiederum scharrten die Leute mit den Füßen, ein Teil war peinlich berührt, andere überrascht.

»Am letzten Sonntag durften einige von uns ein Wunder miterleben. Die Kurzsichtigen werden weiterhin die Frage stellen, wie es geschehen konnte. Einige werden Trost in pseudowissenschaftlichen Interpretationen finden vom Typ ›kollektive Halluzination‹, ein Begriff, der gar nichts erklärt.«

Jetzt kam der erste Lacher, aber der Pfarrer hob seine Hand und ließ damit die Fröhlichkeit verstummen.

»Wir anderen, die die verborgene Dimension des Daseins nicht leugnen, müssen uns andere Fragen stellen: Was wollte Gott mit dem Wunder von Östmora? Wie lautet seine Botschaft an uns, die wir das miterleben durften?«

Es entstand eine lange Pause, aber dann lächelte der Pfarrer, und alle sahen, dass er voller Lachen war, als er fortfuhr:

»Bevor ich den Segen spreche, soll ich im Auftrag des Bischofs seinen Brief an die Gemeinde von Östmora verlesen.«

Dann las er den Brief über die moderne Psychologie, die vieles zu sagen wusste über das Phänomen, von dem Östmora betroffen war, und über das Risiko optischer Täuschungen ohne Verankerung in der Wirklichkeit. Als der Pfarrer zu den Worten des Bischofs über kollektive Halluzinationen kam, waren Gelächter und Applaus nicht mehr zu bremsen. Nur wenige hörten noch die Segensworte; die Journalisten drängten sich durch die Menschenmenge, hinaus zu den wartenden Autos.

Und nicht nur die Brüder Björkman bekamen mit, wie die Medienleute riefen, während sie den Kirchenhügel hinunterliefen, dass dieser Pfarrer wirklich ein Teufelskerl sei.