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Katarina stellte das Tonbandgerät ab und hoffte, Anders würde sich die Rede des Pfarrers anhören, wenn sie wieder zu Hause war. Aber sie hatte es nicht eilig; sie blieb noch sitzen und sah zu, wie Holmgren sich fotografieren ließ, aber sich weigerte, Fragen zu beantworten. Er wiederholte immer wieder, dass er alles, was er zu sagen hatte, in seiner Predigt gesagt habe.

Sie dachte an den Gott, von dem er gesprochen hatte, dass der ein anderer Gott war als der ihres Mannes. Sie selbst hatte schon vor langer Zeit mit Gott Schluss gemacht. Aber es kam vor, dass sie IHN vermisste, wenn sie es besonders schwer hatte. Wie im Augenblick, wo Anders in seiner Verzweiflung schwieg und der Arzt von einer Depression sprach.

Eines Tages, wenn es im Ort wieder ruhig geworden ist, werde ich Pastor Holmgren aufsuchen, dachte sie. Berglund muss ja nichts davon wissen.

 

Kerstin und Sofia fädelten sich durch die Menschenmassen und gingen auf einem Umweg am Berg entlang zum Lotsenhaus. Es war groß und massiv, Kerstins Elternhaus. Und es lag wie ein Adlerhorst auf dem Fels mit meilenweitem Blick über Meer und Land.

Der einsame Alte dadrinnen blickte sie vorwurfsvoll an wie immer; sie hätten ihren verlassenen Papa wohl ganz vergessen. »Ihr habt mich schon wochenlang nicht mehr besucht.« Kerstin seufzte resigniert, aber Sofia wies ihn zurecht:

»Aber Großvater. Wir waren doch gestern den ganzen Nachmittag bei dir und haben zusammen geredet.«

Der Alte sah sie verwirrt an und musste zugeben, dass er vergesslich war. Aber dann richtete er sich auf und sagte in kurz angebundenem Ton zu Kerstin:

»Raus in die Küche mit dir, geh Kaffee kochen. Damit Sofia und ich uns in Ruhe unterhalten können.«

Kerstin gehorchte und schloss die Küchentür hinter sich; sie sank auf einen Stuhl nieder und versuchte an den Pfarrer zu denken, was er gesagt hatte und was seine Worte wohl für Sofia bedeuten mochten.

Das Mädchen war mittlerweile die Einzige, die den Alten noch erreichen konnte; immer wieder saß sie auf dem Ledersofa in seinem dunklen Wohnzimmer und hörte ihm zu, wie er über Tod und Vernichtung sprach und über den Gott, den es nicht gab.

Jetzt berichtete sie mit ihrer hellen Kinderstimme über die Predigt in der Kirche, darüber, dass der Pfarrer gesagt hatte, es gebe zwei Wirklichkeiten – mindestens.

»So so!«

Der Alte lachte in sich hinein und sagte, dass Nils Hansson noch nie viel Verstand gehabt habe. Was wusste dieser Idiot schon, der Angst vor dem Meer hatte und mit keinem Ruder die Wirklichkeit lenken konnte.

»Jetzt sei nicht dumm, Großvater. Hansson ist doch tot, und das weißt du. Und der neue Pfarrer ist jung und hat ein Segelboot. Und er ist klug. Er weiß, wovon er redet.«

»Ach so«, sagte der Alte; jetzt, wo er wusste, dass der Pfarrer segeln konnte, war er bereit zuzuhören. Also durfte Sofia von Gott erzählen, der ein Wunder nach dem anderen veranstaltete, wir müssten nur unsere Augen öffnen, um sie zu sehen. Und von seinem Sohn, Jesus, weißt du, der geboren wurde und die ganze Welt verändert hat.

»Das Himmelreich«, sagte Sofia, schwieg dann aber, unsicher, ob er das verstehe.

»Was hat er denn über das Himmelreich gesagt?«

»Das wollte ich dir gerade erklären. Das war merkwürdig, er hat gesagt, das ist in uns.«

Jetzt schnaubte der Alte, es gebe gewiss kein Himmelreich in ihm, versicherte er, und Kerstin verzog in der Küche den Mund und dachte, jetzt sagst du zum ersten Mal die Wahrheit, mein Väterchen. Aber Sofia beharrte darauf. Es musste wirklich so sein, dass es das Himmelreich sowohl außen als auch innen gab, ganz tief innen im Körper. Dann fand sie eine Erklärung, und ihre Stimme jubelte:

»Er hat natürlich von der Seele gesprochen, die heimkehrt, wenn man stirbt.«

»Ach was, das sind doch nur die üblichen Dummheiten«, sagte der Lotse höhnisch. »Man stirbt, und dann ist Schluss.«

»Nein, nein. Da bin ich überhaupt nicht deiner Meinung.«

»Hat er denn nicht über die Hölle gesprochen? Wie der alte Hansson?«

Als Kerstin mit dem Kaffee auf dem Tablett hereinkam, sah sie, dass Sofia überrascht war, und ihr wurde klar, dass das Mädchen noch nie etwas von der Hölle gehört hatte.

»Die Hölle wurde schon vor langer Zeit abgeschafft«, sagte Kerstin. Aber der Lotse hörte ihr gar nicht zu.

»Pst«, sagte er. »Misch dich hier nicht ein.«

An Sofia gewandt erklärte er ihr, dass die Hölle der Ort sei, an dem die Menschen für die Sünden in ihrem Leben bestraft würden. Das hatten die Priester seit tausend Jahren den Leuten erzählt, um sie in Armut zu halten. Ihnen Angst zu machen, verstehst du?

»Wie schrecklich«, sagte Sofia, aber der Lotse brach das Gespräch ab und sagte wie immer, wenn es entgegen seiner Vermutung doch einen Gott geben sollte, dann rechne dieser Gott sicher mit dem guten Willen der Menschen. Und nehme Rücksicht auf alle, die sich immer so gut sie konnten abgemüht hätten.

Nach dem Kaffee wurde der Alte müde, wie üblich. Kerstin half ihm ins Bett, und er schlief bereits, als sie ihm sagen wollte, dass Kajsa bald käme, um das Essen für ihn zu kochen.

Ohne Kajsa und die anderen Haushaltshilfen würde sie wahnsinnig werden, dachte Kerstin, als Sofia und sie sich durch die Tür schlichen und den Berg hinuntergingen, nach Hause.

»Warum hat er solche Angst zu sterben?«, fragte das Mädchen und zog ungeduldig an Kerstins Hand.

»Ich weiß nicht. Oder … ja, vielleicht ahne ich es doch. Aber darüber reden wir ein andermal, Sofia.«

»Wie dumm du bist«, sagte das Mädchen, und Kerstin lachte im Dunkeln, als sie antwortete: »Da magst du Recht haben, mein Mädchen.«

 

Sie kamen heim, und Sofia wollte eine Weile allein sein, um über die Worte des Pfarrers nachzudenken. Das sei in Ordnung, fand Kerstin und rief dem Mädchen hinterher:

»Schreib es am besten auf, Sofia.«

»Ach ne, du weißt doch, dass ich so langsam schreibe.«

Kerstin wollte gerade die Kartoffeln fürs Mittagessen schälen, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer in der Küche ab, es war Anders‹ Arzt.

»Können wir ungestört miteinander reden?«, fragte Stenström.

»Augenblick, ich mache nur die Tür zu.«

Sie hatten einmal miteinander telefoniert, als Anders noch klein war und Katarina viel Unterstützung brauchte. Seine kluge Stimme hatte Kerstin gefallen. Jetzt klang er freundlich, aber zögernd. Er mache sich Sorgen um Anders und denke dabei an die Reise, die sie zusammen unternehmen wollten, Horners und Berglunds.

»Deshalb rufe ich an«, sagte er, und Kerstin fragte gespannt:

»Ja?«

»Ich kann mich irren, aber ich fürchte, Anders ist selbstmordgefährdet.«

Kerstin konnte nur flüstern:

»Weiß Katarina das?«

»Nein. Und ich denke, es ist am besten, wenn sie es nicht erfährt. Ihre Angst könnte das Risiko noch vergrößern.«

»Aber was ist denn geschehen?«

»Frau Horner, wissen Sie, was die beiden Kinder gemacht haben?«

»Ja.«

Die Antwort machte es für den Arzt leichter, und Kerstin erfuhr, dass Anders auf wundersame Art hatte sehen können, in jenen Minuten in der Kirche. Im Traum. Zunächst war es für ihn nur erschreckend, aber dann wurden die Bilder einfach überwältigend. Zum ersten Mal war ihm bewusst geworden, wie unerhört sein Verlust war, und seine Trauer darüber war unerträglich.

»Gott im Himmel.« Kerstin flüsterte immer noch, als sie fragte, was denn zu tun sei. Stenström zögerte mit seiner Antwort, sagte aber schließlich, dass sie wohl wie geplant fahren könnten, aber dann müsste die Familie Horner eine fast …, eine große Verantwortung übernehmen. Die Alternative wäre, die Reise abzusagen und den Jungen in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Er war sich seiner Diagnose ziemlich sicher, Depression mit Suizidrisiko.

»Das bedeutet Spritzen«, sagte Kerstin, »und Pillen. Ich weiß das, ich hatte einmal ein Kind in der Psychiatrie.«

Er blieb still, schließlich nahm Kerstin sich zusammen und sagte, sie würde es mit ihrer Tochter besprechen, die Ärztin sei, und sie würden gemeinsam darüber entscheiden.

»Katarina freut sich so auf die Reise. Und sie hat sie dringend nötig. Ich rufe Sie morgen an.«

Sie notierte sich die Telefonnummer, verabschiedete sich, legte den Hörer auf und beschloss, Spaghetti zu kochen. Im nächsten Moment kam Sofia die Treppe herunter und teilte mit, sie könne nicht so schnell schreiben, wie sie sich erinnere, und außerdem bräuchte sie auch gar nicht alles aufzuschreiben, weil sie sich doch an jedes Wort erinnere.

Die Uhr zeigte sechs und Kerstin hatte eine Idee: »Lauf rüber zu Inger. Im Fernsehen kommen jetzt die Nachrichten, und bestimmt zeigen sie Bilder aus der Kirche.«

Als Sofia aus der Küche und über den Hofplatz rannte, dankte sie allen guten Mächten für die heruntergewehte Fernsehantenne. Sie wählte Klaras Nummer und es dauerte eine Weile, bevor diese sich meldete: »Aber Mama, wieso sitzt du nicht vor dem Fernseher?«

Kerstin stolperte über ihre eigenen Worte, als sie berichtete, was der Arzt gesagt hatte; sie bat Klara, mit ihrem Bekannten Kontakt aufzunehmen, der doch Psychiater war, und ihn um seinen Rat zu bitten.

»Und denk du auch darüber nach, Klara. Die ersten Tage bist du allein mit den Kindern und Katarina, die keine Ahnung hat. Das ist eine schwere Verantwortung.«

Klara lag nackt auf dem Bett neben ihrem Bekannten, der Psychiater war und fasziniert Holmgrens Predigt im Fernsehen lauschte. Sie zog sich ihren Morgenrock über, und sobald die Predigt zu Ende war, schaltete sie den Apparat aus.

»Jonas, hör mich an.«

 

Die Spaghetti waren fertig, Kerstin kochte Hackfleischsoße und hoffte, Sofia würde »den Feuervogel unter ihrem Herzen« nicht bemerken, wenn sie zurückkam. Aber diese Sorge war unnötig gewesen, Sofia war mit sich selbst beschäftigt und in feierlicher Stimmung. Sie aßen schweigend, aber als Kerstin Eis als Dessert herausholte, sagte das Mädchen:

»Ich glaube, es stimmt, dass er weiß, wie es eigentlich war. Das mit dem Wunder. Aber ich bin nicht sicher, ob er den Mund halten kann.«

»Aber das weiß ich. Weißt du, Pfarrer haben wie Ärzte eine Schweigepflicht. Sie haben geschworen, nichts darüber zu sagen, was die Menschen ihnen erzählen.«

»Haben sie auf die Bibel geschworen?«

»Ja, das denke ich schon.«

Kerstin erzählte, wie schwer es für einen Pfarrer sein kann, wenn ein Mensch zu ihm kommt und erzählt, dass er jemanden getötet hat. Denn der Pfarrer darf der Polizei nichts verraten, nicht einmal, wenn sie einen Unschuldigen eingesperrt haben.

Sofia hatte große, runde Augen vor Empörung und sagte, dass sei doch nicht in Ordnung, und was täte denn der Pfarrer dann? Und Kerstin überlegte und meinte, dass er sicher den Schuldigen zu überreden versuchte, sich zu stellen.

»Ich weiß«, nickte Sofia. »Und dann droht der Pfarrer dem Mörder mit der Hölle.«

Kerstin entgegnete lachend:

»Das glaube ich nicht. Aber am besten fragst du ihn selbst. Ich kann ihn anrufen und um ein Gespräch für dich bitten.«

Kurz nach neun rief Klara an.

»Wir fahren, Mama. Ich habe mit Jonas gesprochen, und ich nehme Medikamente mit. Für alle Fälle. Du kannst dich auf mich verlassen. Sag dem Arzt, dass ich die ärztliche Verantwortung für Anders übernehme. Nein, gib mir lieber seine Nummer, dann rufe ich ihn selbst an.«

Kerstin vermochte nicht zu antworten, und nach einer Weile sagte Klara:

»Mama, sei doch nicht so traurig.«