Da, da, dadada, da, dada, da, da. Dong, donge, dongdong, dong, dongedong.
Die Sonne schien, das Wasser glitzerte. Sofia tanzte mit den Wellen zu Haydns fröhlichem Thema aus der Symphonie mit dem Paukenschlag. Sie hatte sie am Morgen auf Anders‹ Tonbandgerät gehört, The Surprise Symphony, wie Anders hochtrabend sagte. Dann hatte sie gefragt, ob Klara wüsste, was »surprise« bedeute.
Es war sonderbar, wie alles zusammenpasste, der warme Wind aus Afrika, das endlose Meer, blau, blau wie die Musik, leicht, ebenso leicht wie die Luft.
Sie war auf der Flucht in ihre eigene Welt, und sie war sich dessen bewusst. Ich weiß es, und ich halte sie auseinander. Sag das Oma, verkündete sie dem Wind. Erzähl ihr, dass es schwierig ist mit Anders, der schwarz vor Trauer, und Klara, die lila vor Beunruhigung ist.
Auch Katarina, die sich so auf die Reise gefreut hatte, war traurig.
Weit dort draußen schwamm Anders, sein dunkler Kopf verschwand und tauchte wieder auf, verschwand und tauchte wieder auf. Er schwamm wie ein Seehund, richtig gut, hatte Klara gesagt. Sofia konnte auch schwimmen, aber nicht so gut, und lieber nicht im tiefen Wasser. Also kehrte sie um, nahm ihre Melodie wieder auf, setzte den Tanz mit schwebenden Armen fort, wie es die Balletttänzerinnen im Fernsehen machten.
Ting, tingelinge, ting, tingeling …
Über dem Ort, in dem sie wohnten, erhob sich der Berg, hoch, kahl, schwer vor Geheimnissen. Wenn Hans käme, würde er mit ihr dort hinaufsteigen. Sie wollte ihm die Grotte zeigen, die große Grotte, in der das verschwundene Volk lebte, diejenigen, von denen niemand etwas wusste. Gestern hatte sie Katarina von ihnen erzählt. Aber Katarina hatte nur gelacht und gesagt: »Mein Gott, was hast du nur für Phantasie, mein Kind.« Und Anders, der zugehört hatte, hatte nur verächtlich geschnaubt.
Als sie in dem weichen Sand hinauflief, der so gut zu dem Wind passte, spürten ihre Füße, dass Wind und Sand vom gleichen Ort stammten, aus Afrika. Sie blieb stehen, überrascht, wie um alles in der Welt konnte der Wind nur so viel Sand hier auf diese Insel im Atlantik blasen.
Sie musste nachfragen. Aber sobald sie Klara ansah, war sie wieder in der normalen Wirklichkeit. Und hatte Angst. Klaras Augen schienen an Anders zu kleben, der draußen tauchte.
»Warum bist du so komisch, Klara?«
Doch Klara antwortete nicht, sondern sagte:
»Bald, Sofia, bald kommen Hans und Oma.«
»Ich weiß, sie sind schon da hinterm Berg. Oma fährt, also wird es gut gehen«, erklärte Sofia, aber Katarina lachte nur:
»Sie kommen doch um zwölf mit dem Touristenbus.«
»Ach ja, das hatte ich vergessen.«
»Hörst du, wie gut ich unterscheide«, flüsterte das Mädchen in den Wind. »Ich lüge sogar, wenn es notwendig ist.« Die dumme Klara warf ihr einen Blick zu. Sie weiß es, sie auch. Aber niemals wird sie …
Der Blick von Klara tat Sofia im Inneren weh. Also wandte sich das Mädchen wieder dem Meer zu, stellte die »Überraschungssymphonie« an und verschwand in ihr und im Wind. Als sie keinen Grund mehr spürte, kehrte sie um, und da sah sie sie. Sie kamen einfach daher, gingen gemächlich durch den Sand auf Katarina und Klara zu.
»Hans!« Ihr Herz schlug einen Purzelbaum, und die Beine wirbelten wie Trommelschlägel, als sie ihn wieder sah und sich ihm an den Hals werfen konnte. Sie umarmten sich, dass es wehtat, mein Gott, wie lieb sie ihn hatte. Und Oma natürlich auch, die sie in die Arme schloss, als Klara ihrem Papa entgegengelaufen kam.
Jetzt würde alles gut werden.
Hans umarmte auch Katarina.
»Ihr seid ja früh«, sagte diese.
»Wir haben einen Wagen gemietet«, sagte Kerstin. »Liebe Katarina, hol Anders und nimm Sofia mit, die kann laut rufen.«
Als sie weg waren, flüsterte Klara so schnell, dass ihre Worte sich überschlugen, dass es die Hölle war, dass der Junge das ganze Vergnügen für Sofia und Katarina kaputt machte, dass er den ganzen Tag weit draußen tauchte und sie schon mit dem Bademeister gesprochen und ihm erzählt hatte, dass der Junge blind sei und was alles passieren konnte. Zwei Mal hatte die Badeaufsicht bereits eingegriffen, Anders an den Strand geholt und ihn ausgeschimpft. Es gab da draußen gefährliche Strömungen, sagte der Bademeister.
»Hast du ihm Tabletten gegeben?«
»Nein, er zeigt keines der Symptome, die Jonas mir genannt hat.«
»Jetzt lösen wir dich ab«, sagte Hans. »Dann kannst du ein wenig ausruhen, mein Mädchen.«
Klara war kurz vorm Weinen, als sie sagte:
»Ich habe den Mund zu voll genommen, als ich von ärztlicher Verantwortung gesprochen habe. Ich habe nicht die richtige Ausbildung, um die Symptome zu verstehen.«
Jetzt kam der Junge, Sofia ihm voraustanzend und Katarina schnaufend hinterher. Er bewegte sich völlig sicher, erst als seine Hand in der Luft hing, um Hans zu begrüßen, wurde seine Blindheit offensichtlich.
»Guten Tag, Käptn.«
»Guten Tag«, erwiderte Hans ebenso höflich und schüttelte seine Hand. »Du bist mir aber ein ausgezeichneter Schwimmer.«
Der Junge verzog keinen Muskel im Gesicht, errötete aber leicht. Aus Stolz? Horner überlegte das, ihm war klar, dass es schwer werden würde. Er konnte die Körpersprache des Jungen nicht deuten.
Sie gingen zur Rezeption, trugen sich ein und bekamen die Schlüssel zu Horners Wohnung. Hans sagte:
»Sofia kann mir und Kerstin beim Auspacken helfen. Die Übrigen können das Essen vorbereiten.«
»Geschenke«, jubelte Sofia.
»Ich habe schon …«, wollte Katarina anfangen, aber Kerstin brachte sie mit einem fröhlichen Zwinkern zum Schweigen. Und Katarina lachte über die Geheimniskrämerei und ging hinein, um Bescheid zu sagen, dass die Begrüßungsmahlzeit im separaten Raum früher als geplant stattfinden konnte.
»Du kommst mit mir«, sagte sie zu Anders. »Du musst das Salzwasser abduschen und dich umziehen.«
Sofia bekam einen Kassettenrecorder mit Kopfhörern.
»Oh, Hans, wie konntest du das ahnen. Hast du die Überraschungssymphonie gekauft? Anders hat sie auf Band, und ich finde sie einfach himmlisch.«
Er musste lachen und nahm sie in den Arm:
»Meine Kleine. Ich wusste ja nichts von der Überraschungssymphonie, aber vielleicht können wir sie hier in einem Geschäft kaufen. Aber jetzt musst du mir erst mal zuhören. Oma hat mir erzählt, was alles passiert ist und auch von Anders, der es so schwer hat.«
»Ja, das ist furchtbar.«
»Ich denke, ich werde mich etwas um ihn kümmern. Deshalb werde ich im Augenblick nicht so viel Zeit für dich haben. Später holen wir dann alles nach, wenn wir zu Hause und unter uns sind.«
»Das ist schlau, Hans. Denn keiner von uns anderen versteht das. Du vielleicht … er hat einen Riesenrespekt vor dir.«
»Wir versuchen es. Und du wirst dich nicht zurückgesetzt fühlen, versprichst du mir das?«
»Das ist nicht so einfach.«
»Ich habe auch ein größeres Geschenk für ihn gekauft. Einen kleinen CD-Player. Ich bin davon ausgegangen, dass er ein Tonbandgerät hat, weißt du.«
»Das stimmt.«
»Und ein paar Scheiben habe ich gekauft, mir ist eingefallen, wie gern er Haydn hört.«
»Aber das ist doch der mit der Überraschungssymphonie.«
»Wenn die dabei ist, könnt ihr ja tauschen, Band gegen Scheibe.«
»Prima.«
Kerstin hatte Hans‹ Kleidung eingeräumt und stöhnte wie immer über deren Alter, Farbe, Schnitt und Muster.
»Du kannst so wütend werden wie du willst, Kapitän Horner«, sagte sie. »Aber ich habe dir einen hübschen Sommeranzug und ein paar anständige Hemden gekauft.«
»Aber ich bin doch nie wütend«, sagte Hans und küsste Kerstin auf die Wange. Sofia klatschte in die Hände und jauchzte:
»Mach das nochmal, Hans. Aber dieses Mal auf den Mund.«
»Das darf er erst, wenn er sich umgezogen hat«, erwiderte Kerstin.
Kurz darauf gingen sie die lange Treppe zwischen den schmalen Häusern hinunter. Sie sehen aus wie das Werbefoto für eine glückliche Kleinfamilie, dachte Klara, die vor dem Hotel wartete. Papa, Mama und ein fröhlich hüpfendes Kind in Ferien. Das erzeugte in ihr selbst Gefühle der Einsamkeit und Wehmut, als hätte sie etwas verloren. Ihr Kind? Ihre Kindheit?
Anders und Katarina warteten bereits in dem kleinen Eckraum, den Katarina organisiert hatte. Der Tisch war festlich gedeckt, mit weißem Damast, funkelnden Gläsern und einem großen Pokal mit Rosen. Hoffentlich mag er das Essen, dachte Katarina, die als Vorspeise frittierte Krabben bestellt hatte, Lammkoteletts als Hauptgericht und Erdbeeren als Dessert. Guck nicht auf den Preis, nimm das Beste, hatte Kerstin gesagt. Und kümmere dich nicht um den Wein, den wird Horner selbst aussuchen wollen.
Das tat er mit größter Sorgfalt, studierte die Weinkarte, diskutierte mit dem Kellner darüber, der so stockend Schwedisch sprach, dass Hans Horner ins Spanische überwechselte. Anders wandte interessiert seinen Kopf den beiden Männern zu, sog jedes Wort in sich auf. Er lebt in der Welt der Geräusche, dachte Klara und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.
Die fremde Sprache irritierte Sofia:
»Warum könnt ihr nicht reden wie normale Menschen?«
»Halt die Klappe, du Baby«, entgegnete Anders.
Hans schien den Wortwechsel nicht mitzubekommen, doch als der Wein endlich bestellt worden war, sagte er:
»Sofia, es gibt auf der Welt viel mehr Menschen, die Spanisch als Menschen, die Schwedisch sprechen. Und zu dir, Anders, möchte ich sagen, dass man sich in meinem Beisein gegenüber Damen höflich verhält, egal ob sie klein oder groß sind.«
Beide Kinder erröteten, aber als der leichte Wein gebracht wurde, sagte Hans, dass auch die Kinder probieren dürften. Nur einen Schluck und wenn sie wollten, gern mit dem Tafelwasser verdünnt. Aber er wünschte sich, dass sie an dem Willkommensprost teilnahmen. Kerstin sah, dass Anders überlegte, ob er ablehnen sollte, aber entweder wagte er das nicht, oder er war zu neugierig, wie der Wein wohl schmeckte. Also hob auch er sein Glas, als Hans feierlich sagte:
»Auf einen schönen Urlaub in der Sonne.«
Katarina wurde rot vor Freude und dachte, dass sich jetzt alles ändern würde, dieser unglaubliche Mann würde alles zum Guten wenden. Anders probierte erstaunt seinen Wein, der schmeckte ja gut, so gut, dass er sein Glas austrank. Klara biss sich auf die Lippen, war das in Ordnung? Kerstin lachte nervös, aber Anders sagte unbekümmert, er wolle mehr haben.
»Tut mir Leid, Anders. Jetzt musst du dich mit Orangensaft begnügen. Es ist nicht nur gut, Wein zu trinken, man wird auch betrunken davon.«
Anders horchte in sich hinein, verwundert musste er zugeben, dass ihm etwas schwindlig geworden war. Er lachte das erste Mal auf der Reise, sagte:
»Aber man wird auch fröhlich.«
»Leider nur am Anfang«, sagte Horner. »Danach bekommt man Kopfschmerzen, und zum Schluss fühlt man sich schlecht.«
»Ich fühle mich weder schwindlig noch fröhlich«, sagte Sofia. »Und alles andere zum Glück auch nicht.«
Anders dachte, dass sie ein dummes Baby sei, sagte aber nichts. Irgendwann werde ich ihn fragen, warum man Mädchen gegenüber nett sein soll, dachte er.
Sie aßen ihre Krabben, Katarina wurde für ihre Wahl gelobt. Plötzlich sagte Horner:
»Ich habe mir überlegt, Anders, ob wir beide nicht ein Segelboot mieten und damit aufs Meer hinausfahren sollten.«
»Ich will mit«, rief Sofia.
»Nein, du nicht, das ist nichts für kleine Mädchen«, sagte Hans, und Sofia, die jeden Sommer mit ihm segelte, wollte gerade protestieren, als sie sah, dass er zwinkerte. Ach so, natürlich. Also schwieg sie, und Anders dachte, na, der hat’s dir jetzt aber gegeben, während Klara aussah, als wäre sie aus allen Wolken gefallen.
»Bist du jetzt ein Macho geworden, Papa?«
»Darauf stoßen wir an«, sagte Hans. »Einen Toast auf Doktor Klara Horner.«
Als ihre Augen sich über den Gläsern trafen, nickte sie. Sie ist dumm, aber endlich hat sie verstanden, dachte Sofia, die weder die Krabben noch das Lamm besonders gern mochte. Also aß sie sich an den Erdbeeren satt.
»Hier in diesen heißen Ländern legen sich alle klugen Menschen mittags etwas hin«, sagte Hans. »Siesta wird das genannt. Also machen wir jetzt eine Siesta, und dann gehen Anders und ich zum Hafen und mieten ein Boot.«
Auch dieses Mal traute Anders sich nicht zu protestieren. Außerdem war er müde und hatte einen schweren Kopf. Das war der Wein, dachte er, der Kerl hatte Recht mit dem, was er über den Wein gesagt hat. Man muss aufpassen.
»Ich kann nicht gut segeln«, sagte er.
»Ich glaube, da irrst du dich«, entgegnete Hans. »Ich sehe ja, wie du dich bewegst, wie sicher dein Gefühl für Raum und Volumen ist. Irgendwann musst du mir mal erzählen, wie du das machst. Auf jeden Fall ist das eine Eigenschaft, die fürs Segeln wichtig ist, man muss den Wind fühlen, sich der See anpassen. Ich kann mich irren, aber es würde mich wundern, wenn du kein guter Segler wärst.«
Bald hat er den Jungen besiegt, dachte Kerstin und tauschte mit Klara einen Blick, die das Gleiche dachte. Katarina war bereits besiegt.
Sie hatten jeweils eine kleine Wohnung für sich, Sofia und Klara wohnten zusammen. Eines Tages werde ich mich trauen, sie zu fragen, warum sie so böse auf mich ist, dachte Klara, als sie in ihre Betten krochen. Aber eigentlich weiß ich es ja. Doch im Augenblick mochte sie deshalb nicht traurig sein, sie war nur müde.
»Es ist schwierig, wenn man jemandem nichts im Gesicht ablesen kann«, sagte Hans zu Kerstin. »Ich werde nicht schlau aus dem Jungen.«
»Denk dran, wie schwer es erst für ihn ist.«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher. Er fasst die Dinge in einer Form auf, die wir nicht verstehen.«
Aber Kerstin schlief bereits, als er sie zu sich zog und in den Nacken küsste. Das war ein alter Trick, der seine Wirkung nie verfehlt hatte.
»Er ist phantastisch«, sagte Katarina zu Anders. Doch der war im selben Moment eingeschlafen, in dem er seinen Kopf aufs Kissen gelegt hatte.