28

Anders war so müde, dass er fast schon beim Essen einschlief. Um neun Uhr lag er in seinem Bett, die neuen Worte wirbelten in seinem Kopf herum, der Wind brauste im Segel, und die Wellen gluckerten um den Schiffskörper. Aber bald kam er frei und schlief ein.

Beim Sonnenaufgang wurde er vom Krähen der Hähne geweckt. Er streckte die Hand aus und fühlte das Licht. Rot, das war die Sonne, die aufging und die Berge färbte.

»Dieser Horner benimmt sich mir gegenüber, als wäre ich ein Idiot. Ich werde nie wieder einen Fuß auf dieses bescheuerte Boot setzen.«

Er sagte das laut, das wurde ihm aber erst klar, als er hörte, wie Katarina sich in ihrem Bett umdrehte, lauschte, wieder einschlief.

Ich muss besser aufpassen, dachte er. Sie wissen Bescheid, die Horners. Verbitterung stieg in ihm auf, als er sich daran erinnerte, wie ihn Klara in den ersten Tagen keine Minute aus den Augen gelassen hatte.

Woher wusste sie es? Nicht einmal seine Mutter ahnte etwas, begriff gar nichts, als Klara Horner dem beschissenen Strandwächter sagte, der solle auf ihn aufpassen. Sie dachte, er würde es nicht hören, als sie dem Strandwächter zuflüsterte, der Junge sei blind und könnte sich in der Richtung irren, direkt aufs offene Meer hinausschwimmen, statt auf den Strand zu.

Was der reine Schwachsinn war.

Zweimal war dieser blöde Rettungsschwimmer mit seinem Boot angebraust gekommen und hatte ihn an Land gebracht. Und hatte ihn ausgeschimpft. Mein Gott, wie er sie alle hasste, alle, die Augen hatten und ihn behandelten, als wenn er nicht ganz bei Verstand wäre. Wie dieser verlogene Kapitän, der mit ihm sprach, wie mit einem Vierjährigen: Und nun machen wir das und dann das und dann das. Und vor Mitleid heulte, als Anders sein Gesicht befühlen wollte. Und obendrein noch log.

»Blinde wissen, wann jemand lügt«, flüsterte Anders. »Und sie hören auch, wenn jemand flüstert.«

Kurz darauf fiel ihm ein, woher die Horners wissen konnten, dass er sich das Leben nehmen wollte. Sofia, die Hexe Sofia konnte das Verborgene sehen. Und die Zukunft. Das war ein tröstlicher Gedanke, dann hatte sie sehen können, dass er es schaffte. Trotz allem.

Er hatte eigentlich gedacht, es würde ganz einfach sein, nur direkt in die Tiefe hinunterschwimmen, sich dort festhalten und die Lunge mit Wasser füllen. Aber das ging nicht, der Körper gehorchte nicht. Der Körper wollte leben, das hatte er begriffen. Man musste ihn austricksen. Und die Horners dazu.

Jetzt kamen die Bilder aus der Kirche zurück, das war gut, sie würden seinen Entschluss bestärken. Er verweilte lange beim Gesicht des Pfarrers. Wie merkwürdig es war, die Freude darin zu sehen. Der Himmel, jetzt erinnerte er sich an den Himmel und fühlte wieder die große Verwunderung: das war blau, das, was sie blau nannten.

Er sehnte sich nach dem Tod.

Er hörte Katarina im Bett atmen, in langen, ruhigen Atemzügen:

»Kleine Mama«, flüsterte er. »Du wirst es verstehen können, irgendwann wirst du verstehen, dass ich dem nicht widerstehen kann.«

Aber er hatte sich geirrt, sie war wach und fragte:

»Was flüsterst du da, Anders?«

»Ich habe nur so vor mich hin geträumt.«

 

Eine halbe Stunde später traf er die Familie Horner am Frühstückstisch, da dachte er: Ich muss schlau sein. Sie dürfen nicht merken, dass ich sie durchschaut habe.

»Ich will heute nicht segeln«, sagte er. »Ich glaube, ich bin ein bisschen seekrank geworden.«

Klara wollte gerade mit Einwendungen kommen, aber Hans Horner kam ihr mit ruhiger Stimme zuvor:

»Dann bleiben wir eine Weile auf festem Boden. Ich bin nach den Strapazen gestern auch ein wenig müde.«

Aber eine halbe Stunde später nahm er Sofia mit sich ins Boot, und Anders hörte Kerstin und Katarina die Segeltour kommentieren: »Wie weit er rausfährt, jetzt kann man kaum noch das Boot sehen, na, endlich wendet er. Machst du dir keine Sorgen um Sofia, Kerstin?«

»Nein, Sofia hat das Segeln fast gleichzeitig mit dem Laufen gelernt.«

Der Junge hasste sie alle, am meisten Horner, diesen falschen Hund.

 

Dann kam der Heiligabend mit Sonne am Meer. Katarina seufzte ein wenig, sie vermisste den Schnee und die Weihnachtslichter. Sofia seufzte auch, sie sehnte sich nach dem Tannenbaum und all den alten Sachen, die in den Kartons auf dem Dachboden versteckt waren.

Hier verteilten sie ihre Weihnachtsgeschenke bereits beim Frühstück. Sie hatten gemeinsam beschlossen, dass es keine teuren und anspruchsvollen Geschenke sein sollten, aber Hans Horner hatte sich nicht daran gehalten. Katarina bekam einen Seidenschal aus Südafrika, Klara und Kerstin jede einen Ring, und Anders konnte an dem Raunen in der Luft erkennen, dass sie aus Gold und wunderschön waren. Für Sofia hatte Horner eine Kette aus Bernstein gekauft, obwohl sie doch schon einen Walkman bekommen hatte, dachte Anders sauer. Aber sein eigenes Geschenk war das größte, er spürte den Eifer in seinen Fingern, während er das Paket auspackte, und er johlte vor Freude, als seine Finger einen CD-Player ertasteten und die kleinen, eleganten Scheiben in ihren feinen Hüllen.

»Das ist aber nett«, sagte er schließlich. »So einen habe ich mir schon lange gewünscht.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagte Horner und legte dem Jungen seinen Arm um die Schulter. Für einen kurzen Moment gab der Junge nach, kuschelte sich in die Umarmung und fühlte sich undankbar. Aber gleich darauf machte er sich frei, um in sein Zimmer zu eilen und die Musikanlage mit Lautsprechern und allem zu installieren. Und sie auszuprobieren und die vier CDs mit Punktschriftetiketten zu markieren.

Bereits als er die erste spielte, war die Sehnsucht wieder da. So musste der Tod sein, eine große Schönheit, die Gedanken und Erinnerungen auslöschte. Er kannte die Musik, aber erst als Katarina kam, fiel ihm der Name wieder ein: Max Bruchs g-Moll-Konzert.

Nach dem Mittagessen fingen die Leute an, Zweige am Strand mit Aluminiumpapier zu schmücken, und Kerstin Horner sagte, das würde sie nicht aushalten. Sie war ein Snob, das hatte Anders schon seit langem gewusst. Jetzt wollte sie aufs Boot, und Hans sagte, es wäre eigentlich etwas zu klein für so viele, aber es war ja ruhiges Wetter. Also konnten sie es probieren. Sofia und er hatten am Tag zuvor eine geschützte Bucht entdeckt, fast wie ein natürlicher Hafen, erzählte Horner, und Kerstin machte sich daran, einen Picknickkorb mit Kaffee, Erfrischungsgetränken, Butterbroten und Kuchen zu bestellen.

 

Anders stand mit dem Anker auf dem Achterdeck und spürte die Stille in der neuen Bucht, nicht ein Windhauch, eine Ruhe, die nur schwer zu ertragen war. Dann gab Horner seine Befehle, und Anders warf den Anker, hörte ihn auf die Unterwasserklippen aufschlagen, sich in einer Spalte verhaken, jammern, als wäre er lebendig und als gefiele ihm der Ankerplatz nicht. Durch das Boot fuhr ein Ruck, Hans ging zu Anders, und gemeinsam versuchten sie, den Anker wieder freizukriegen.

»Wir müssen runtertauchen«, sagte Horner und legte wiederum seinen Arm um Anders‹ Schulter. »Das war allein mein Fehler, wir hätten weiter reinfahren sollen, bevor wir den Anker werfen.«

»Ich schaff das«, sagte Anders, und jeder konnte den Eifer in seiner Stimme hören. Aber Horner zögerte:

»Das sind vulkanische Klippen, scharf wie frisch geschliffene Äxte. Du musst vorsichtig sein, Anders. Du kannst nicht ohne weiteres tauchen, ich muss dich an einem Seil runterlassen. Du brauchst viel Luft, Anders, okay.«

Horner sah Katarina an, sie war blass vor Angst, und er sagte:

»Das ist wichtig für den Jungen.«

»Ich weiß.«

Sie sahen, wie Anders der Ankerkette in die Spalte hinunter folgte, er schwamm ohne Angst, fühlte ruhig und sicher die scharfen Klippenspitzen, unterbrach, kam hoch, um zu atmen, schwamm wieder nach unten und bekam den Anker los.

»Der saß ziemlich lose«, erklärte er Horner, als er wieder oben war.

»Alle Achtung«, entgegnete Horner. »Das war wirklich saubere Arbeit.« Der Ton war ehrlich, Anders dachte schnell, diesmal lügst du also nicht, du Mistkerl.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir müssen die schwereren Besatzungsmitglieder bitten, an Land zu waten. Ich gehe voran und halte das Boot mit dem Vordertampen.«

Klara und Katarina rafften ihre Kleider und wateten an den Strand, und Horner rief Anders zu: »Zieh das Schwert hoch.«

Schließlich lag das Boot, wie es liegen sollte, mit Wasser und Sandboden unter sich. Anders warf den Anker ein zweites Mal und fühlte mit Zufriedenheit, dass er sich in den Sand bohrte. Horner wickelte den Vordertampen um einen Stein, und Kerstin ging mit dem Picknickkorb an Land.

In der folgenden Stunde war der Junge auf eine fast physische Art und Weise gespalten, eine Trennung, die direkt durchs Herz ging. Die eine Hälfte war stolz und froh, genoss fast jubelnd die Lobesworte, die ihm zuteil wurden. Die Freude saß rechts im Körper, und als er den Brotbissen in die rechte Mundhöhle schob, merkte er, wie gut die Frikadellen zu dem groben Brot schmeckten. Aber die andere Körperhälfte – und dazu gehörte das ganze Gehirn – wusste, dass er die Lösung gefunden hatte, die scharfen Unterwasserklippen die Antwort waren und er jetzt eiskalt und in aller Ruhe planen musste.

Während die anderen im Schatten des Berges vor sich hin dösten, ging er langsam zum südlichen Strand. Hier war es steil, die Klippen begannen bereits an Land, auf halbem Weg hielt er an und rief Sofia zu sich.

»Nimm kleine Steinchen mit«, flüsterte er, als sie angelaufen kam. »Die werfen wir oben vom Fels in die Spalten, wo sich der Anker verhakt hatte.«

Sie lachte, kehrte um, holte eine Plastiktüte aus dem Picknickkorb und füllte sie mit Steinen. Als die beiden oben auf dem Fels saßen, fragte er, ob sie die Spalte sehen könnte, doch, sicher, das Wasser war klar, sagte sie, da, sagte sie, nahm seine Hand und zeigte mit ihr.

»So nahe«, wunderte er sich.

»Der Fels ist hoch, weißt du. Ich meine, von da, wo wir jetzt sitzen, geht es sicher zehn Meter bis zur Wasseroberfläche runter.«

Er wusste aus Erfahrung, dass sie alles in ihrer Welt verdoppelte, dachte vier, vielleicht fünf Meter, jedenfalls ausreichend, um im Fall genügend Schwere und Geschwindigkeit zu erreichen.

Ihm war feierlich zumute, er war klar im Kopf, entschlossen. Sein Körper wurde wieder eins und ungeteilt. Sie warfen Steine, bald konnte er auf zehn Zentimeter ausmachen, wo die Unterwasserklippen sein mussten, er nahm alles in sein Gedächtnis auf und legte auf den Platz, an dem er saß, kreuzweise vier Steine. Sie sagte:

»Es gibt etwas, das ich dir schon seit einigen Tagen sagen wollte.«

»Was denn?«

»Du hast doch Angst gekriegt, als du meinen Traum in der Kirche gesehen hast. Ich habe dir nicht erzählt, dass ich auch Angst hatte, als ich deinen Traum vom Engel gesehen habe. Aber eigentlich nur am Anfang. Weil er nicht aussah wie meine Engel, weißt du? Aber später …«

»Was war später?«

»Na ja, da habe ich gefühlt, was für weiche Flügel er hatte, das war, wie in Seide gehüllt zu werden, wie in einem Nest. Und dann hat er so gut gerochen. Aber am besten war die Musik, für mich ist es ganz merkwürdig, dass deine Träume Geige spielen.«

Sofia konnte Anders‹ Überraschung nicht mehr feststellen. Hans rief sie zurück, sie wollten noch einmal schwimmen, bevor sie zurückfahren mussten.

»Bevor es dunkel wird«, sagte er, und Anders verachtete ihn. Dieser Scheißdraufgänger hatte Angst vor der Dunkelheit.

Aber sie gehorchten, sie schwammen eine Runde in der Bucht, und Anders tauchte wieder zu den Unterwasserklippen hinunter. Klara sah dem Kind zu, die Augen weit aufgerissen, sie ergriff Hans‹ Hand und flüsterte:

»Ich habe Angst, Papa. Ich habe das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren wird.«

»Wir fahren jetzt zurück«, sagte Horner kurz.

 

Bevor sie sich für die Nacht trennten, sagte Klara zu Katarina, dass Anders so angespannt aussähe, sie wolle ihm gern eine Schlaftablette geben. Und Katarina nickte beunruhigt, nahm die Tablette und versprach darauf zu achten, dass Anders sie auch nahm. Er nehme gern Schlafmittel, sagte sie. Sie hatte eher das Problem, dass er abends immer um Tabletten bettelte. Bis jetzt hatte sie sie ihm hier unten verweigert, gesagt, dass sie keine mehr hätte.

Klara ging in ihr Zimmer und meldete ein Gespräch mit Jonas an. Sie sagten, was zu sagen war, über die Sehnsucht, über Weihnachten, und versprachen einander, dass es das letzte Mal sein sollte, dass sie Weihnachten getrennt feierten.

»Und Anders?«

»Jonas, ich habe Angst.«

Sie beschrieb die Reaktionen des Jungen und die Schwierigkeit, an ihn heranzukommen. Jonas schwieg lange, bis er schließlich sagte, dass es eine nicht diagnostizierte manische Depression sein könnte, dass es fast so klang.

»Wir brauchen eine Diagnose«, sagte er. »Ich werde mit seinen Ärzten in Uppsala reden. Ich rufe dich morgen wieder an. Und du, das ist nicht so verhängnisvoll, dagegen gibt es Medizin.«

»Lithium?«

»Ja.«

»Okay, danke.«

 

Klara blieb lange mit der Hand auf dem Hörer sitzen. Sie hatte fürchterliche Angst, die Angst war größer, als sie sich selbst eingestehen wollte. Schließlich schlich sie sich zu Katarinas Zimmer, lugte hinein, alles war in Ordnung, der Junge schlief. Er hatte die Tablette geschluckt, als hätte er sich schon lange danach gesehnt, sagte Katarina.

»Ich könnte selbst auch eine gebrauchen«, sagte sie, aber Klara schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen; dann kehrte sie um und sagte: »Ich lege dir hier eine halbe hin, aber meine Liebe, nimm sie wirklich nur, wenn du nicht schlafen kannst.«

»Ich glaube, ich weiß, wovor du Angst hast, Klara. Du glaubst, dass … dass der Junge Schluss macht.«

Sie flüsterten beide, Klara setzte sich aufs Bett und ergriff Katarinas Hand.

»Es wird ihm nicht gelingen, wir werden dafür sorgen, dass es ihm nicht gelingt. Aber ich fürchte, wir müssen den Urlaub abbrechen, du und ich, wir müssen wohl mit ihm heimfahren und ihn in ärztliche Behandlung bringen. Ein guter Freund von mir ist Psychiater, er wird morgen mit eurem Arzt in Uppsala sprechen.«

»Ja, Stenström. Er ist gut. Wir werden tun, was er sagt.«

Beide weinten sie, als sie sich gute Nacht wünschten. Als Klara an der Wohnung ihrer Eltern vorbeiging, hätte sie gern einen großen Whisky getrunken. Im gleichen Augenblick fiel ihr der Champagner in ihrem eigenen Kühlschrank ein und dass sie von Jonas und der Verlobung erzählen wollte, wenn sie endlich zu sich selbst gekommen waren.

Bei Familie Horner passiert aber auch gar nichts auf vernünftige Art und Weise, dachte sie, als sie entschlossen die Flasche holte, an die Tür klopfte und die drei sah, die auf dem Bett lagen und Karten spielten. Sie haben es so gut miteinander, dachte sie, warum muss alles in ihrem Leben so dramatisch sein?

»Hier bringe ich Champagner. Denn jetzt wollen wir meine Verlobung mit Doktor Jonas Nyström feiern.«

»Das nenne ich eine Überraschung«, sagte Hans Horner und griff nach seinem Whiskyglas. Aber Klara nahm es ihm aus der Hand, denn jetzt sei der Champagner dran. Dann trank sie selbst den Whisky aus und lachte über die verwunderten Gesichter der anderen.

Nur Kerstin sah ausschließlich glücklich aus und rief laut:

»Ich habe es geahnt, Klara, du wirkst so glücklich.«

Klara brauchte eine ganze Weile, um die Geschichte von Jonas zu erzählen, wie lange sie einander schon gern hatten und wie sie ihn in Göteborg aufgesucht hatte. Wie zartfühlend er war, wie klug. Und gut, sagte sie, in erster Linie ist er gut. Ein guter Mensch. Ihr werdet euch gut leiden können, sagte sie, und allein Sofia schaute zweifelnd drein.