Trotz des Schlafmittels wachte Anders wie immer früh auf. Der Kopf war schwer, er hatte Probleme, die Gedanken beieinander zu halten. Er versuchte sich zu erinnern, was er geträumt hatte, bevor die Hähne zu krähen begannen.
Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte von dem Engel geträumt. Von seinem Engel, wie Sofia ihn beschrieben hatte. Er wollte zu ihm, ihm etwas sagen.
Wenn ich mich entspanne und nicht krampfhaft versuche, darüber nachzudenken, fällt es mir vielleicht ein.
Er stand auf, ohne Katarina zu wecken, ging auf die Toilette, suchte dann seinen Kassettenrecorder, schloss die Kopfhörer an und fand Haydns Violinkonzert, von dem Sofia glaubte, der Engel spiele es.
Aber die Musik erzählte nur vom Tod, wie groß und schön er war, und keine Botschaft des Engels. Als Katarina aufwachte, hatte er seinen Engel vergessen. Sie fragte, wie es ihm gehe.
»Gut«, sagte er.
Während des Frühstücks wurde über Lautsprecher in komischem Schwedisch verkündet, dass Doktor Horner einen Anruf aus Uppsala hatte. Alle sahen einander überrascht an, nur Anders begriff, was das bedeutete: Stenström, die wollen mich nach Hause schicken. Jetzt ist es eilig, dachte er, jetzt habe ich keine Zeit mehr zu verlieren.
Aber seine Stimme klang ruhig, als er sich Horner zuwandte:
»Ich würde gern segeln gehen.«
»Na, dann machen wir das doch«, antwortete Hans. »Komm, lass uns gleich aufbrechen.«
Katarina und Kerstin öffneten gleichzeitig den Mund, um etwas zu sagen. Aber was? Horner spürte ihre Einwände in der Luft hängen und sagte irritiert:
»Nun beeil dich, Anders.«
Er ist ein Idiot, dachte der Junge. Das geht nun seinen Gang. Auf dem Weg zum Hafen sagte Anders, dass er gern in die Bucht fahren würde, wo sie gestern gewesen waren.
»Ich fand, da war es so schön«, sagte er. »Irgendwie so ruhig.«
»Dann segeln wir dahin.«
Klara kam im gleichen Moment zum Frühstückstisch zurück, als Sofia dort eintraf. Wie immer hatte sie verschlafen.
»Ich habe so schlecht geträumt«, sagte sie. »Wo sind Hans und Anders?«
»Sie sind gerade mit dem Boot ausgelaufen«, erklärte Kerstin und sah dabei ängstlich aus. Klara starrte Sofia mit aufgerissenen Augen an; die verstand und lief los. Durchs Fenster konnten sie sie wie ein Pfeil durch den Garten rennen sehen, die Treppen zum Hafen hinunter. Sie kam in dem Moment an, als das Boot auslief, und sie rief laut:
»Hans, Hans!«
Er hörte sie, missverstand sie aber und rief zurück:
»Wir machen heute Nachmittag eine Tour, Sofia.«
Da ließ sie alle Vorsicht außer Acht und rief:
»Es ist gefährlich, Hans.«
»Bestimmt nicht, Sofia. Es ist doch schönes Wetter.«
Horner hatte das Boot bereits in den Wind gedreht und fuhr direkt aus dem Hafen. Aber er hatte doch verstanden, sie sah es an seinem Winken, mit offener Hand, die Handfläche ihr zugewandt. Und Anders, der vor Beunruhigung ganz weiß geworden war, dachte, welches Glück es doch war, dass Horner so ein Idiot war.
Im Frühstücksraum erfuhr Sofia, dass die Damen zurück auf ihr Zimmer gegangen seien und dass ihre Mama Brot und Tee mitgenommen habe. Sofia lief ins Zimmer ihrer Oma, Katarina weinte, und Sofia schaute Kerstin an und wusste, dass der Feuervogel sich jetzt ernsthaft losgerissen hatte, jetzt ist sie verdammt.
»Ich habe es nicht mehr geschafft. Aber ich habe noch gerufen, und Hans weiß Bescheid.«
»Ich glaube, du hast Recht«, nickte Klara.
»Er hat so gewinkt. Das bedeutet, dass er verstanden hat und dass er es schafft.«
Dann gab Klara Anweisungen. Katarina sollte in ihr Zimmer gehen, wo sie eine Beruhigungstablette bekommen würde. Kerstin musste umgehend Flugtickets bestellen, Katarina, Anders und sie selbst bräuchten einen Platz in der ersten Maschine nach Arlanda.
»Sag dem Reiseleiter, dass der Junge krank ist und dass sein Arzt ihn so schnell wie möglich zu Hause haben will. Sobald wir die Plätze haben, rufe ich Doktor Stenström an, ich denke, er wird uns abholen und Anders direkt ins Krankenhaus bringen. Du, Sofia, hilfst Katarina beim Packen, legt Reisekleidung für beide raus, und den Rest packt ihr in die Taschen. Ich muss in mein Zimmer und in der Nähe vom Telefon sein. Jonas«, sagte sie und dachte: Lieber, liebster Jonas, rufe an!
Eine ganze Weile sagte keiner etwas, Katarina versuchte, ihr Weinen hinunterzuschlucken, und Klara wandte sich ihr zu:
»Hör mir zu. Wenn es die Krankheit ist, von der sowohl Jonas als auch Stenström ausgehen, dann gibt es eine Medizin, die hilft. Ich kenne sie, ich kann es dir versprechen.«
Als Sofia und Katarina gegangen waren, sagte Kerstin, sie würde Hans den Hals umdrehen, falls und sobald er käme. Klara verzog spöttisch den Mund:
»Ich weiß, was du mit seinem Hals machen wirst. Wie immer, liebe Mama, wirst du ihn abküssen, wo es nur geht. Du hast deine eigene Wut noch nie ernst genommen.«
»Das ist auch nicht so einfach, wenn es sonst keiner tut.«
Klara wollte gerade anbeißen, sagen, es sei wohl doch zu einfach, die Schuld nur auf die anderen zu schieben. Aber Kerstins Augen waren unnatürlich groß, also hielt sie sich zurück und strich ihr über die Wange:
»Er wird es schaffen, meine liebe Mama.«
Als sie zurück in ihrem Zimmer war, dachte sie, dass es so läuft wie immer bei uns, man geht mit Trost und aufmunternden Sprüchen darüber hinweg.
Wie zuvor kreuzten sie einige Seemeilen westlich des Leuchtfeuers und begannen dann entlang der Küste die Segel zu streichen. Das kleine Boot durchschnitt ruhig die langen Dünungen des Atlantiks, und Hans dachte, dass dieses ein Freudentag werden würde.
Der Junge steuerte zum ersten Mal, das war auch eine Art, ihn unter Aufsicht zu haben. Hans wandte kaum den Blick von dem verbissenen Jungengesicht. Die Zärtlichkeit, die Horner anfangs empfunden hatte, war in Unbehagen übergegangen, er mochte den Jungen nicht. Aber aus Erfahrung wusste er, dass er nur so ärgerlich wurde, wenn er Angst hatte.
Ich habe keine Angst davor, was geschehen wird, dachte er. Ich werde es schon schaffen. Ich habe Angst vor dem Jungen selbst, er und die merkwürdige Wirklichkeit, in der er lebt, sind mir unbegreiflich.
Sie fanden ihre Bucht, den geschützten Hafen hinter den vulkanischen Unterwasserklippen.
»Zieh das Schwert hoch, Anders. Dieses Mal gleiten wir einfach drüber hinweg.«
Als Hans mit dem Vordertampen an Land sprang, sah er, wie der Junge sein Gesicht zu der hohen Klippe über der Sandbank hob. Er sah es und begriff.
»Ich muss mal an Land«, sagte Horner. »Der Bauch, weißt du.«
Gott ist auf meiner Seite, dachte der Junge, der hörte, wie Horners Schritte hinter den Büschen verschwanden. Mit einiger Mühe gelangte er an Land, blieb eine Weile stehen, um sich zu orientieren, ging dann nach rechts, fand den Steilhang, kletterte rasch hinauf, kam zu seinen vier Steinen, holte tief Luft und dachte: Gerade runter.
»Mama, verzeih mir«, sagte er und spannte den Körper zum Sprung. Im nächsten Augenblick saß er wie in einer Schraubzwinge in Horners Armen fest und hörte die eiskalte Wut in der Stimme des anderen:
»Du verfluchter Schlingel.«
Der Junge schlug und biss um sich, um loszukommen, und plötzlich schlug Horner zu, hart und rücksichtslos mitten ins Gesicht. Anders bekam Angst und schrie:
»Nicht schlagen, nicht schlagen.«
»Ach, vor Schlägen hast du also Angst. Du kannst dich beruhigen, ich schlage dich nicht, wenn du nicht zuerst schlägst.«
Dann warf er sich den Jungen über die Schulter und kletterte den Steilhang hinunter und ins Boot.
»So«, sagte er, »jetzt möchte ich endlich wissen, was du dir denkst, wenn du lügst und herumtrickst. Und wie es möglich ist, dass du kein Mitleid, kein Herz im Körper hast.«
»Ich werde kein Wort sagen.«
»Okay. Dann musst du dich damit abfinden, dass ich dich während der Heimfahrt festbinde. Ich habe keine Lust auf weitere Abenteuer, weißt du.«
Der Junge winselte wie ein Welpe und rieb sich die geschwollene Wange.
»Das tut so weh.«
»Das geht vorbei. Was man von der Traurigkeit nicht sagen kann, die deine Mutter empfinden wird, wenn sie von dem hier erfährt.«
»Dann erzähl ihr nichts davon.«
»Okay. Aber ich muss es Klara sagen, die idiotisch genug war, die Verantwortung für dich zu übernehmen.«
»Sie wird mich nach Hause schicken.«
»Das hoffe ich.«
Jetzt weinte Anders, ein merkwürdiges, trockenes Weinen, unerträglich. Hans spürte, wie seine Wut sich in Mitleid verwandelte, und versuchte es erneut:
»Es wäre einfacher, wenn du versuchen würdest, das zu erklären.«
Aber der Junge schwieg, und Horner band seine Füße mit einem der Fockschote fest. Kein Wort wurde während der Heimfahrt gewechselt, erst als sie sich dem Kai näherten, flüsterte Anders:
»Bitte mach das Seil los.«
Hans wartete, bis er Klara auf dem Anleger sah, bevor er den Jungen losband. Als sie angelegt hatten, rief er ihr zu, sie solle an Bord kommen. So sachlich er konnte, berichtete er ihr, was geschehen war, Anders machte keine Einwände, nahm aber ihre Hand, als sie ihm über die geschwollene Wange strich.
»Wir fahren um vier Uhr ab«, sagte sie. »Wir haben drei Plätze in dem Flugzeug gekriegt, das heute Abend von Gando nach Arlanda geht. Katarina, du und ich fahren nach Hause, und Doktor Stenström holt dich ab. Solange wir auf die Abfahrt warten müssen, kannst du schlafen, du bekommst eine Tablette von mir.«
Dann sah sie lange Zeit ihren Vater an und sagte laut:
»Du blutest ziemlich stark aus der Kratzwunde im Gesicht. Ich muss sie mit Alkohol reinigen und verbinden.«
»Sie tut auch verdammt weh«, sagte Horner und sah mit Befriedigung, dass der Junge blutrot im Gesicht wurde. Ein paar normale Reaktionen hat er jedenfalls noch, dachte er.
Geborgen zurück in seinem Zimmer, erzählte er Kerstin, was geschehen war. Und während sie seine Wunde säuberte, sagte er:
»Verflucht, aber ich wünschte, es wäre ihm gelungen.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Als sie das Auto beluden, das Klara gemietet hatte, war Anders gefügig und wie im Halbschlaf. Klara fuhr, Katarina saß mit dem Jungen auf dem Rücksitz, bereit, ihm noch eine Tablette zu geben, wenn er Widerstand leistete. Aber als Anders auf dem Flugplatz aufwachte, war er sehr still, als hätte er aufgegeben.
Die Horners gingen zum Essen. Müde und traurig versuchten sie darüber zu reden, wie schön es für sie sei, die letzte Ferienwoche jetzt endlich für sich zu haben. Aber ihre Worte erstarben. Drei einsame Menschen saßen dort, jeder in sein eigenes Universum eingeschlossen. Hans war verzweifelt müde.