Es war ein Freitagnachmittag im Februar, mit Nebel über dem Meer und dem Fluss. Im Hochhaus in Masthugget konnte man die Nebelhörner hören. Als Junge hatte Jonas diesen Missklang nicht leiden können. Aber heute kam es ihm wie Gesang vor, vertraut wie ein altes Kinderlied. Er wollte noch einige Krankenjournale durchgehen, bevor er seine Zweizimmerwohnung sauber machte und dann in die Repslagargatan eilte, um Wein und etwas zu essen einzukaufen. Klara wollte mit dem Zug um achtzehn Uhr fünf kommen, und beide hatten das ganze Wochenende frei.
Er trank Instantkaffee in der Küche und betrachtete den Stapel schmutziger Teller, als das Telefon klingelte. Das Geräusch versprach nichts Gutes, er hatte einen Patienten mit großen Problemen und sich schon lange auf das freie Wochenende mit Klara gefreut. Ich gehe nicht dran, dachte er. Aber es konnte Axel sein, oder seine Mutter. Oder es konnte auch Klara sein. Also nahm er den Hörer ab und sagte nur:
»Ja.«
»Ist da Jonas Nyström«, fragte eine Stimme, die er nicht erkannte.
Noch ein knappes Ja.
»Ja, guten Tag«, sagte die Stimme, die jetzt verwundert klang. »Hier ist Hans Horner. Ich bin auf der Durchreise, und ich würde Sie gern kurz besuchen.«
»Mein Gott.«
»Nein, nur Horner«, entgegnete die Stimme lachend.
»Entschuldigung. Ich war so überrascht. Sie sind natürlich willkommen.«
»Okay. Ich stehe vor dem Sahlgrenska Hospital und nehme ein Taxi.«
Jonas nannte ihm die Adresse und den Türcode und flehte die himmlischen Mächte an, dass der Kapitän lange auf ein Taxi warten müsste. Ein Blick auf die Uhr, es ging auf halb drei zu. Zehn Minuten blieben ihm höchstens, um das Schlimmste wegzuräumen. Er würde es gerade noch schaffen, zu lüften und den Müll und Plunder zusammenzukehren. Und er konnte sich noch in Gedanken auf seinen Gast einstellen. Bilder von einem Greis wechselten sich ab mit denen eines eleganten Geschäftsmannes, der ihm unangenehme Fragen stellen würde, oder eines schnoddrigen Offiziers, der einen richtigen Mann zum Schwiegersohn haben wollte.
Als er zum Müllschlucker lief, musste er sich eingestehen, dass seine Vorstellungen aus den schwedischen Vierzigerjahrefilmen stammten, die gerade wieder im Fernsehen liefen. Es war lächerlich. Hans Horner war ein Mann in den Vierzigern, und außerdem Deutscher und Kapitän. Gott stehe mir bei.
Ich hätte mich rasieren sollen, dachte er in dem Moment, als es an der Tür klingelte und ein hoch gewachsener, schlaksiger Mann im Seemannspullover undefinierbarer Farbe, abgewetzten Jeans und einem knallroten Schal in den engen Flur trat. Kapitän Hans Horner entsprach so wenig Jonas‹ Phantasien, dass dieser kaum Worte für eine einfache Begrüßung fand.
»Sie gucken mich an, als sähen Sie ein Gespenst«, sagte Horner und warf seinen Schal auf die Hutablage.
»Nein«, entgegnete Jonas, »aber vor zehn Minuten habe ich noch Gespenster gesehen.«
»Und wie sahen die aus?«
»Dickwanstige Geschäftsleute und arrogante Offiziere.«
Horner lachte, sagte: »Man kann sich ja auch so manches Bild eines arroganten Arztes machen. Am besten ist es da wohl, wenn wir einfach zugeben, dass wir beide ein wenig Angst voreinander gehabt haben.«
Jonas spürte, wie seine Nervosität abnahm: Ich hätte es wissen müssen, dass ihr Vater, dass es nicht nur Ödipus war, was …
»Darf ich reinkommen?«, fragte Horner.
Jonas nahm sich zusammen und führte seinen Gast zum einzigen Sessel des Zimmers:
»Möchten Sie ein Bier?«
»Ja, gerne.«
Jonas nickte. »Klara kommt gegen halb sieben.«
»O weh, sie wird mich verfluchen. Ich gehe morgen früh an Bord eines Tankers draußen vor Hjärtholmen. Ich soll ihn nach Dubai bringen.«
Jonas spürte, dass Dubai wichtig war, verstand jedoch nicht, warum, und sagte, er habe geglaubt, Hans hätte vier Monate Urlaub.
»Deshalb ist Klara ja so wütend«, erklärte Horner. »Aber auf diese Weise kann ich den ganzen Sommer zu Hause bleiben.«
Jonas begriff in groben Zügen die Zusammenhänge, aber nicht, warum die Situation so gespannt war. Sie kommt aus einer Welt, von der ich nichts weiß, dachte er und sah den anderen lange an, das offene Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den weit auseinander stehenden Augen.
»Klara sieht Ihnen sehr ähnlich. Sie sind so erstaunlich jung.«
»Sagen wir doch du zueinander. Was glaubst du denn, was ich von dir denke.«
»Ein dummer Junge?«, sagte Jonas, und Hans‹ Mundwinkel gingen nach oben. Es lag gleichzeitig Traurigkeit und Zärtlichkeit in dem Lächeln, nein, dachte Jonas, ich darf nicht …
»Die einfachste Methode, unsere Angst voreinander zu überwinden, ist wohl, wenn wir frei heraus sagen, was wir denken. Du bist doch kein Mensch, der sich für seine Gedanken schämen muss.«
»Okay«, sagte Jonas und hatte das Gefühl, er sollte in unbekanntes Wasser tauchen. »Ich habe nie einen Vater gehabt.«
Lange Zeit blieb es still, Horners Blick wich nicht von Jonas‹ Gesicht, und als er schließlich doch etwas sagte, kamen die Worte nur sehr zögerlich.
»Du musst eine starke Mutter gehabt haben?«
»Ein Urgestein. Sie ist Designerin, hat sich mit geliehenem Geld eine Ausbildung verschafft, sobald ich geboren war, fing dann an, Kleider zu entwerfen, die waren einfach Klasse. Nach ein paar Jahren hatte sie Atelier und Laden, eine richtige Boutique, und konnte ihren Söhnen alles bieten, was sie sich wünschten, eine lange, teure Ausbildung zum Beispiel.«
»Alle Achtung.«
»Ja, das war wirklich toll«, sagte Jonas und fühlte sich mit einem Mal stolz. Lachte dann jedoch und sagte, sie sei schuld daran, dass es in seiner Wohnung so aussehe.
»Dass es so schlicht ist?«, fragte Horner verwundert.
»Eher dürftig, sprich es ruhig aus. Weißt du, sobald ich sie hier zur Tür hereinlassen würde, wären alle Wände weiß und die Böden mit Auslegware bedeckt. Ganz zu schweigen von den abgebeizten Fensterrahmen, dem alpenveilchenfarbenen Sofa und einem Schreibtisch in heller Esche.«
»Ich finde, das klingt schön«, sagte Horner und lächelte erneut. »Kannst du nicht eine angenehmere Möglichkeit finden, deiner Mutter zu trotzen?«
Jetzt musste auch Jonas lachen: »Schon zu spät. Denn jetzt wird Klara hier mit ihren Topfpflanzen und Kissen einziehen.«
»Ach, dann ist diese arme, sterbende Pelargonie im Fenster erst der Anfang?«
»Oje, ich habe ganz vergessen, ihr Wasser zu geben.«
»Wir können sie in eine Wanne mit Wasser stellen.«
Horner war bereits aufgesprungen, mit der Pelargonie auf dem Weg in die Küche, taub für Jonas‹ Flehen: Nicht in die Küche.
Aber Hans stand bereits in der Küchentür, betrachtete das Chaos und rief: »O Mann, Jonas, jetzt bist du aber dran!«
»Komm, wir waschen ab«, sagte er. »Ich wasche gern ab.«
Er zog seinen Pullover aus, darunter trug er ein kariertes Sporthemd, das Mutter in Ohnmacht fallen ließe, dachte Jonas. Horner arbeitete mit geübten Händen. Er ist jemand, der gewohnt ist, die Dinge anzupacken, dachte Jonas, holte ein Handtuch heraus und begann abzutrocknen. Der dritte Teller fiel ihm zu Boden, und Horner sagte:
»Hast du den Daumen an der verkehrten Stelle, oder hast du immer noch Angst vor mir?«
»Beides«, antwortete Jonas vom Boden her, wo er die Scherben aufsammelte. »Ich bin einfach tollpatschig, und du bist … so überwältigend.«
Kurze Zeit später stellte Jonas fest, dass es leichter war, beim Abwaschen zu reden, als wenn man sich gegenüberstand. Er traute sich sogar zu sagen, dass bis jetzt nur er sich an die Verabredung gehalten habe, offen zu sagen, was er denke.
»Was zum Teufel hältst du eigentlich von Klara und mir, zum Beispiel.«
»Ich bin verflucht glücklich. Schon auf Gran Canaria, als sie uns von der Verlobung erzählt hat, habe ich mich gefreut. Und war erleichtert. Klara war so verliebt, und das ist dir zu verdanken. Sie hat dir ja alles erzählt, wie es ihr geht, wie es ihr ergangen ist. Ich habe das Gefühl, dass meine Verantwortung etwas geringer geworden ist, verstehst du?«
»Lieber Jonas, nun lass nicht gleich wieder einen Teller fallen«, fügte er hinzu, als er sah, dass das Porzellan auf gefährlichem Gleitflug durch das Handtuch war. Jonas fasste fester zu und sagte:
»Das ist eine Tasse.«
Horner stöhnte, fuhr aber fort:
»Natürlich bin ich hergekommen, weil ich neugierig war. Ich reise in die arabische Welt, du nach Amerika, es würde zu lange dauern, bis wir uns kennen lernen könnten, fand ich. Wie alle Männer habe ich Angst, sentimental zu wirken, aber, ja, du entsprichst meinen Erwartungen. Ich bin ein ziemlich einfacher Mensch, du wirst es bestimmt lernen, mich zu mögen.«
»Jetzt lügst du das erste Mal«, widersprach Jonas. »Du kannst auf mein Wort als Psychiater vertrauen, und ich habe doch schon gesagt, dass du überwältigend bist.«
»Ich habe nicht gelogen«, sagte Horner, »ich habe nur von meiner Selbstwahrnehmung gesprochen.«
»Das glaubt auch nur der Teufel«, sagte Jonas, und dann lachten wieder beide. Der Abwasch war geschafft, Horner putzte noch den Herd und das Spülbecken und sagte, dass er gern einen Kaffee hätte. Während Jonas Wasser aufsetzte und Pulver in den Filter kippte, ließ sich Horner am Küchentisch nieder.
»Was hältst du von dieser Geschichte in der Östmora-Kirche?«
»Ich verstehe davon nicht mehr als alle anderen. In Amerika hat man mit einer Reihe parapsychologischer Experimente versucht herauszufinden, ob es möglich ist, dass Menschen in verschiedenen Schlaflabors den gleichen Traum träumen, aber das Ergebnis war ziemlich schwach. Dass es Sofia und Anders gelungen ist, liegt wohl daran, dass ihnen nicht klar war, dass es unmöglich ist.«
»Und an Sofia und ihren sonderbaren Fähigkeiten. Was weiß man in deinen Kreisen über die merkwürdige Tatsache, dass gewisse Menschen um die Ecken und vor und zurück in der Zeit sehen können?«
»So gut wie nichts«, sagte Jonas. »Es ist nicht stubenrein, von derartigen Phänomenen zu sprechen, nein, besser – sie werden mit einer gewissen Aggressivität geleugnet. Sie bedrohen das wissenschaftliche Weltbild.«
»Das habe ich auch begriffen«, sagte Horner. »Aber du fühlst dich offensichtlich nicht bedroht und hast keine Bedenken, in eine Familie einzuheiraten, der die Hexerei im Blut liegt?«
»Erstens liebe ich deine Tochter, hoffnungslos und unheilbar. Und zweitens stehe ich dem Unerklärlichen ziemlich offen gegenüber.«
Jonas war wütend, aber Horner lachte zufrieden, als hätte er gerade das gehört, was er sich gewünscht hatte.
»In meinem Job, in dem die Probleme oft Schlange stehen, muss man lernen, das Dringendste schnell herauszufinden«, sagte er. »Und in dieser Situation ist das Anders. Du hast von seinem Selbstmordversuch gehört?«
»Ja.«
»Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Hinterher habe ich gedacht, dass ich es wohl nicht wahrhaben wollte, weil ich da nicht noch weiter hineingezogen werden wollte. Aber ich hatte gar keine andere Wahl.«
»Du bist wütend geworden?«
»Ja. Und ich hatte Angst. Ich begreife es nicht, aber der Junge hat mir Angst gemacht. Dann kamen die Frauen mit ihrer Psychologie, all ihrem Verständnis und den vielen Erklärungen. Wahrscheinlich bin ich ein Barbar, aber ich habe einfach gedacht, dass der Junge sich wie ein Schweinehund verhalten hat.«
»Du hast was gegen Psychologen wie mich?«
»Nein, ich glaube nicht, nur gegen all diese furchtbar vereinfachenden Modelle, du kennst die Art zu diskutieren. Die Populärpsychologie, die mit einer einfachen Ursache irgendwann in der Kindheit alles erklären will. Meiner Meinung nach läuft die Psyche manchmal schon viel früher Amok, vor den Gedanken und jenseits von Ursache und Wirkung. Aber Anders war verschlagen und berechnend. Und überheblich. Er hat im Ernst geglaubt, er könnte mich hereinlegen. Du hättest sein Lächeln sehen sollen, als Sofia hinter dem Boot herlief und rief, es sei gefährlich, und ich zurückrief, das Wetter sei gut.«
»Aber Anders ist nicht verrückt, nur verzweifelt. Und sicher besessen von einer Todessehnsucht, einem Sog dem Tod entgegen, der viel stärker ist als er selbst.«
»Das habe ich schließlich auch verstanden. Und ich schäme mich ein wenig.«
»Ich denke, das brauchst du nicht. Ich glaube, es war gut für ihn, dass ihm handfest die Grenzen gezeigt wurden. Auch gut, dass er sich fast bis zum Schluss austoben konnte.«
Alle Anspannung fiel von Horner ab, als er sagte: »Das hast du nett gesagt.« Er schwieg lange Zeit, bevor er fortfuhr:
»Mir selbst ging es nach dieser Fahrt auch nicht besonders gut. Ich wollte meine Familie um mich haben, getröstet werden und zur Ruhe kommen. Aber es gab keinen Platz für mich. Oder auch für Kerstin, die ziemlich ausgepumpt ist durch die Sorge um ihren schrecklichen Vater und um Sofia. Aber Frauen können mehr ertragen, die verlieren nicht so schnell den Mut.«
Jonas nickte und dachte an seine Mutter, und Horner sagte mit plötzlich aufsteigender Wut:
»Und dann haben sie auch noch immer Recht, das macht das Ganze noch schlimmer. Kerstin hat Recht damit, dass wir eine Verantwortung für Anders haben und so weiter, und so weiter. Mein Gott, Jonas, als Klara, die selbst noch ein Kind war, nach Hause kam, schwanger von einem absolut Geisteskranken, da schlug ich ihr die Abtreibung vor. Aber Klara wollte nicht. Und für Kerstin waren Kinder nach Jans Tod zu einer Art Religion geworden. Also hatte ich keine Chance. Und sie hatten Recht, denn Sofia ist ein wunderbares Kind, sicher in einer Risikozone aus dem offensichtlichen Grund, weil sie so begabt und weltoffen ist. Das ist eine schreckliche Familie, in die du hineinheiraten willst, Jonas.«
»Nicht schlimmer als die meisten«, entgegnete Jonas. »Aber was Anders betrifft, so habe ich mit einigen Kollegen gesprochen, die mit Blindgeborenen gearbeitet haben. Es scheint so, als wenn sie die erste Erfahrung, dass sie anders sind, ungefähr im Alter von fünf Jahren machen. Dann ist es nicht so traumatisch, sondern vor allem ein großes Erstaunen darüber, dass andere etwas auf die Entfernung wissen können. Sie versuchen zu verstehen, sie drücken auf ihre Augen und wundern sich, wieso andere damit etwas machen können. Was im Hinblick auf Anders so interessant ist, ist die Tatsache, dass die wirkliche Einsicht darüber, wie groß die Einbuße ist, oft erst im Alter von zehn, zwölf kommt. In seinem Fall war es dramatisch. Ich glaube, er wird das, was er im Traum sah, nie vergessen können, er erinnert sich offensichtlich an jeden Augenblick und jedes Detail. Die Bilder sind in ihm, und ich kann mir vorstellen, dass sie mit jedem Tag leuchtender werden. Seine Einbuße ist gewaltig, und das weiß er jetzt.«
»Kann man irgendetwas tun?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht würde der Druck etwas leichter, wenn er sich öffnen und darüber sprechen würde. Aber es ist auf jeden Fall eine Einbuße, für die es keinen Trost gibt.«
Horner nickte und dachte an Jan.
Er wechselte das Thema.
»Ich denke gerade an Polansky, einen armen Menschen, den ich heute besucht habe. Er war Matrose auf der Ocean Seal und wurde im Persischen Golf krank, bekam Bauchschmerzen. So stark, dass er mit einem Hubschrauber an Land gebracht werden musste. Er liegt hier im Sahlgrenska, auf der Psychiatrischen, ich habe mit ihm gesprochen. Das war schlimm.«
Jonas schenkte Kaffee ein und wartete auf die Fortsetzung. Als sie nicht kam, sagte er:
»Ich denke, du solltest von Anfang an erzählen.«
Horner zögerte, Jonas schwieg und holte ein paar Pfefferkuchen hervor. Schließlich sagte Horner:
»Okay.«
Und dann bekam Jonas die ganze Geschichte zu hören, über die Fahrt in die Kriegszone, das Warten, die Verdunkelung, »fast unmöglich, das würdest du verstehen, wenn du einmal einen Supertanker gesehen hättest«, die Luftabwehr Tag und Nacht über Kharg, die Bomber und den polnischen Matrosen, dem die alten Kriegserinnerungen Bauchschmerzen bereiteten und der sagte, dass seine Krankheit unheilbar sei.
»Als ich ihn hier im Krankenhaus sah, durch Drogen ruhiggestellt, bekam ich Angst. Weißt du, ich wurde nach den Bombern über Kharg genauso krank.«
»Mit Bauchschmerzen?«
»Nein, schlechte Träume. Und im Zusammenhang damit Erinnerungsbilder, ganze Filme. Vor Kharg hatte ich so gut wie keinerlei Kindheitserinnerungen, ich dachte immer, sie wären zusammen mit meiner Familie bei den Bombardierungen ausradiert worden. Aber nun kommen sie nachts, leise und schmerzhaft. Ich dachte, das würde vorbeigehen, wenn ich zu Hause wäre, mit Kerstin reden könnte, aber nein, es geht weiter.«
»Kannst du beschreiben, was du siehst?«
Hans Horner beschrieb eine Szene nach der anderen. Bilder, immer Bilder.
»Stummfilm«, sagte er. »Traurig«, sagte er. »Als ich Polansky sah, bekam ich Angst. Verflucht nochmal, ich will kein Fall für die Psychiatrie werden.«
»Diese Furcht kannst du gleich vergessen«, sagte Jonas. »Im Gegenteil, was du da machst, das klingt ungewöhnlich gesund. Eine Art Spontananalyse. Es ist aber möglich, dass du ab und zu jemanden brauchst, mit dem du darüber reden kannst.«
»So einen wie dich?«
»Ja, aber nicht mich. Wir sind ja bald miteinander verwandt, das ist nicht so gut. Es gibt andere, ich kann mich drum kümmern, wenn du wieder zurückkommst. Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Schreibe deine Träume auf. Aber versuche sie nicht zu interpretieren, lass sie einfach durch dich hindurchfließen.«
»Nicht dagegen ankämpfen und sie nicht beurteilen, meinst du.«
»Ja.«
Es blieb eine Weile still, bevor Horner fortfuhr:
»Ich hatte einen Traum, über den ich die ganze Zeit nachdenke, es war kurz hinter dem Kap. Vielleicht kannst du was damit anfangen.«
Er erzählte von Jan, der auf der Brücke neben ihm stand und etwas Wichtiges zu sagen hatte. Und von seiner eigenen Unfähigkeit, sich daran zu erinnern, was der tote Junge sagte.
»Es schien wichtig zu sein«, sagte er.
»Das war sicher wichtig.«
Weiter kamen sie nicht, es klingelte an der Tür, drei kurze Töne.
»Klara«, flüsterte Jonas.
»Sag nichts.«
Jonas nickte und ging, um die Tür zu öffnen. Es wurde still, Horner saß am Küchentisch und dachte, dass sie sich jetzt küssten, und merkte überrascht, dass er das unangenehm fand. Dann hörte er Klaras Stimme.
»Bevor wir etwas für den Abend planen, muss ich telefonieren. Ich muss unbedingt Papa finden. Er ist irgendwo in Göteborg.«
»Näher als du denkst«, sagte Hans Horner aus der Küchentür, und Jonas konnte sehen, wie Klara strahlte, in Horners Arme flog und fast weinte: »Papa, du darfst nie wieder so abhauen!«
»Jonas«, rief sie. »Du musst mir helfen.«
»Nie im Leben«, sagte Jonas, der wütend über seine eigene Eifersucht war. »Dein Vater ist vollauf in der Lage, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.«
»Aber du verstehst ja nicht. Er ist viel zu gutgläubig. Er glaubt an das Versprechen der Reederei, in Dubai abgelöst zu werden. Aber die haben ihn schon öfter angeschmiert. Sie werden bestimmt keinen anderen Skipper besorgen, und dann wird es wieder der Persische Golf und der Krieg.«
»Ich habe ein Flugticket von Dubai für den 27. März«, widersprach Horner. »Und ich werde dieses Flugzeug nehmen, das weiß die Reederei. Wenn sie keinen Ersatzmann stellen, müssen sie den Ersten Steuermann zum Kapitän machen.«
Sie sah erleichtert aus, als sie sagte:
»Außerdem fühle ich mich verlassen. Auf dich bin ich auch böse, Jonas, wegen Amerika. Obwohl ich weiß, dass du nichts dafür kannst, du hast das Stipendium bekommen und musst natürlich die Chance nutzen.«
»Stimmt«, erwiderte Jonas. »Aber jetzt muss ich endlich los und was zum Essen einkaufen. Scheiße, der Laden hat schon zu.«
»Ich lade euch ins Restaurant ein«, schlug Hans Horner vor. »Ich lade euch ein, ich wohne im Parkhotel, dann essen wir dort.«
»Aber lieber Papa, mit dem Pullover kommst du da nicht in den Speisesaal.«
»Du hörst dich an wie deine Mutter«, sagte Hans lachend. »Keine Sorge, ich habe in meiner Tasche im Zimmer eine Jacke. Macht euch auch hübsch, dann nehmen wir ein Taxi.«