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Jonas dachte, er wäre vorbereitet gewesen, aber als er das Schwindel erregende Klettern die Leiter hinauf geschafft hatte und über die Sea Dolphins schaute, überkam ihn ein Gefühl von Unwirklichkeit. »Mein Gott«, sagte er, und Klara nickte:

»Ja, nicht wahr. Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, ich auch nicht, obwohl ich ja schon hier gewesen bin.«

Sie nahmen den Fahrstuhl zur Brücke hinauf, wo Horner in seinem sackartigen Pullover stand, umgeben von seinen Untergebenen, ernsthaften Männern in Uniform mit unterschiedlicher Anzahl von Tressen auf den Schultern.

»Lass dich nicht beeindrucken«, flüsterte Klara. »Dieser Pullover hat ihn zu einer Legende gemacht, und er genießt das.«

Jonas lachte, und im gleichen Moment entdeckte Horner sie, kam auf sie zu und umarmte beide. Jonas zuerst, dann Klara. Er stellte sie gewissenhaft allen vor, meine Tochter, mein Schwiegersohn, und nannte dann die Namen aller Männer: Erster Ingenieur Bodner, Erster Steuermann Karsborg …

Überrascht stellte Jonas fest, dass die Vorstellung der Rangordnung folgte und dass es Horner gelungen war, alle Namen in den wenigen Stunden am Morgen zu lernen. Falls er sie nicht von anderen Reisen bereits kannte.

»Wir sind mit unserem Durchgang noch nicht ganz fertig«, sagte er bedauernd. »Klara kann dir so lange zeigen, wie wir hier wohnen und leben. Ich komme in einer halben Stunde und nehme dich mit in die Maschinenräume.«

Klara führte Jonas herum, Etage für Etage. Papas Wohnraum und Schlafkoje, toll, was? Beim Ersten Steuermann und Ersten Ingenieur sieht es im Großen und Ganzen genauso aus. Die Offiziersmesse, die Mannschaftsmesse, Kino, Tischtennisraum, Pool, Fotolabor, Gymnastikraum, Hobbyraum.

Das Gefühl von Unwirklichkeit wuchs, der Kontrast zwischen der unmenschlichen Blechwelt draußen und dem Luxus drinnen war unfassbar. Die Einrichtung würde selbst seine Mutter ohne weiteres akzeptieren, aufwendig, geschmackvoll, skandinavisch. Es gab reichlich Kunst an den Wänden, die Klara fachmännisch als Schotten bezeichnete, helle, schwedische Gemälde anerkannter Künstler. Der Kinoraum hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei Jonas, roter Samt, dunkles Mahagoni.

»Ich glaube, das ist einem berühmten Kino in Stockholm nachgebaut«, sagte sie.

Der einzige Raum an Bord, der ihm real erschien, war die große Küche, ausgestattet mit allen erdenklichen Haushaltsgeräten und dem anschließenden Gefrierraum. Jonas hatte schon früher Restaurantküchen gesehen. Sie begrüßten den Koch, einen ganz umgänglichen Mann in den Vierzigern mit der hohen Mütze schräg auf dem Kopf. Er säuberte Fisch, Steinbutt, und bedauerte das verspätete Mittagessen.

»Hier gibts vor vierzehn Uhr kein Essen«, sagte er. »Alle werden vor lauter Hunger schlecht gelaunt sein. Was haben Sie gesagt: Sie sind Horners Tochter? Er ist in Ordnung, oder?«

»Er ist ein ganz prima Vater, das kann ich garantieren«, sagte Klara, und der Koch lachte und sagte, genau das bräuchte man auf so einem Tanker, einen Skipper, der ein prima Vater sei.

Zum Schluss setzten sie sich in Horners Wohnzimmer. Klara holte aus seinem Kühlschrank Bier und hatte es gerade eingeschenkt, als Hans auftauchte.

»Es hat Jonas die Sprache verschlagen«, sagte sie. »Er hat jetzt seit einer halben Stunde seinen Mund nicht mehr geöffnet, und das habe ich noch nie erlebt.«

Horner lächelte, meinte aber, Jonas sollte trotzdem den Maschinenraum und die Brücke sehen.

»Ich kann kaum noch stärker beeindruckt werden, als ich es schon bin«, bemerkte Jonas und wurde in den Fahrstuhl platziert, der sechs Stockwerke in die Tiefe fuhr. Viel verstand er nicht von den Erklärungen, die der Erste Ingenieur und Horner ihm gaben; er fühlte Angst und Bewunderung den Männern gegenüber, die sich zwischen Computern und den gewaltigen Maschinen so heimisch fühlten.

Sie beendeten ihre lange Wanderung auf der Kommandobrücke, und schauten von dort auf die drei Fußballfelder.

»Hier steht man also«, sagte Horner. »Ganze Nächte mitunter, wenn es kritisch ist. Wie jetzt, wenn wir durch den Ärmelkanal fahren. Das ist ein Albtraum für einen Tankerkapitän.«

Jonas nickte. Horner fuhr fort:

»Früher habe ich geglaubt, das alles hätte einen Sinn, welchen auch immer. Es wäre irgendwie von Bedeutung. Aber jetzt frage ich mich immer öfter, was in Gottes Namen ich hier eigentlich tue, was für ein Leben ich führe.«

»Wann kam diese Veränderung?«

»Ich weiß nicht. So vieles veränderte sich, als Jan starb, die Einschätzungen, der Glaube an die Zukunft, na, du verstehst schon.«

»Habt ihr hier in deinem Traum gestanden?«

Horner nickte, und Jonas sagte, dass er über den Traum nachgedacht habe, er werde Hans schreiben. Und wenn er den vollständigen Namen von Polansky bekäme, würde er nach ihm sehen und sich ein wenig informieren.

»Das ist wirklich nett von dir.«

Wieder in der Kajüte zurück, tauschten sie ihre Adressen aus, Jonas übergab Hans ein paar Bücher über und von Jung, und Hans sagte:

»So, jetzt sieh zu, dass du sie an Land kriegst, bei mir in der Familie kann keiner lange Abschiede vertragen.«

Als sie den Landgang hinuntergeklettert waren, weinte Klara; jedes Mal sei es gleich schlimm, meinte sie. Jonas lieh ihr ein Taschentuch, schnallte den Autogurt um sie fest und fuhr in die Stadt. Sie aßen ein einfaches Mahl in Jonas‹ Küche, beide waren müde, erschöpft.

Sie trösteten einander, wie Liebende es zu tun pflegen und fühlten sich miteinander wohl, lange und voller Genuss. Hinterher schlief Klara ein, während Jonas wach liegen blieb, besessen von dem Gedanken: O Scheiße, was für eine unmenschliche Verantwortung.