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Während Hans Horner mit der Sea Dolphin nach Dubai fuhr, geschah viel in Östmora. Die Post wurde ausgeraubt, die Pfarrersfrau wurde krank – das waren die Nerven, sagten die Leute –, die Missionsgemeinde bildete gemeinsam mit der evangelischen Staatskirche einen Chor, und die Fünfzehnjährigen in Kerstins Klasse bekamen Mopeds und rasten wie die Hooligans durch den Ort. Und dann kam der Frühling.

Er schlich sich wie immer heran, unentschlossen machte er zwei Schritte vor und einen zurück. Blumen und Vögel waren der Meinung, dieses Zögern sei vollkommen unbegründet, da der Frühling in diesem Jahr nur wenig Widerstand zu überwinden hatte, kein Frost im Boden, und Schnee lag nur noch auf den Nordabhängen.

»Ich glaube, er ist feige«, sagte Sofia.

Aber Kerstin war nicht ihrer Meinung, sie fand es gut, dass der Frühling vorsichtig war und nicht die Bäume zum Knospen verlockte. »Auch dieses Jahr ist das Meer hier an der Küste kalt, wie jedes Jahr«, sagte sie. »Und solange das Eis von Norra Kvarken nach Süden getrieben wird, kann man sich nicht auf die Märzsonne verlassen.«

Sie machten lange Spaziergänge in den Feldern um Östmora. Nach dem Besuch bei dem Alten auf dem Berg streiften sie jeden Tag zusammen an den Stränden entlang. Oft suchten sie sich die hoch gelegenen Wiesen aus, auf denen die Urzeitmenschen ihr Steinschiff errichtet hatten und wo das Wunder in der Kirche seinen Ursprung gehabt hatte. Es war noch zu früh für die wilden Stiefmütterchen, aber eines Tages sah Sofia die ersten Leberblümchen unter den alten Blättern hervorlugen. Und nur eine Woche später leuchteten die trotzigen kleinen Sonnen des Huflattichs auf den größten Felsen an den Südhängen.

Kerstin erzählte das Wenige, was man über die alten Steinschiffe wusste. Das größte und gewaltigste befand sich in Kåseberga, genau da, wo Schweden zu Ende ist, erklärte sie. Dort war der Häuptling begraben worden, sodass er meilenweit übers Meer schauen konnte.

»Falls es sich um ein Grab handelt.«

»Ich glaube, es ist eine Kirche«, sagte Sofia.

»Keine Kirche, es waren keine Christen. Aber du kannst trotzdem Recht haben. Vielleicht errichtete man die Steine an heiligen Orten, um die Himmelskörper zu studieren und den Göttern zu opfern.«

»Natürlich war es so, das weißt du genau«, sagte Sofia, und dann mussten beide lachen und sagten gleichzeitig: Auseinander halten!

Kerstin saß im Windschatten in der Sonne hinter dem großen Stein, sie hatte Hans‹ großen Dufflecoat an und fühlte plötzlich, wie warm ihr war. Und wie müde sie war. Sie blinzelte in die Sonne, schloss die Augen und schlief ein, und Sofia lächelte den Mann an, der mit einem großen Bärenfell über den Schultern über die Wiese auf sie zu kam. Als er herangekommen war, nahm er seine Kappe ab, seine Augen waren blau wie der Frühlingshimmel, als sein Blick ihren traf. Er grüßte mit einer Verbeugung, und Sofia verneigte sich ebenfalls, feierlich und gut gelaunt.

»Du bist weit gegangen«, sagte sie.

»Ja, sehr weit. Ich komme von Westen her, und ich bleibe über Nacht hier, um den Abstand zwischen den Sternen zu vermessen.«

»Bist du oft hier?«

»Viermal im Jahr. Das letzte Mal kam ich zur Wintersonnenwende. Und heute ist die Frühlings-Tagundnachtgleiche.«

Kerstin bewegte sich leicht, schüttelte sich ein wenig und sagte:

»Ich glaube, ich bin für eine Weile in der Sonne eingeschlafen.«

Sofia drehte sich nicht um, sie stand regungslos da und sah den Bärenfellmann in dem blauen Dämmerlicht verschwinden. Dann nahm sie Kerstin bei der Hand und begann mit dem Bergabstieg.

»Heute ist Frühlings-Tagundnachtgleiche. Was bedeutet das?«

Kerstin erklärte es ihr. Sofia hörte zu und fragte dann:

»Ist das viermal im Jahr?«

»Nein, zweimal. Es gibt einen Tag im Herbst, an dem sich das Jahr der Dunkelheit zuwendet. Und dann einen Tag, an dem die Dunkelheit besiegt wird. Ab jetzt werden die Tage länger sein als die Nächte.«

Sofia sah besorgt aus, als sie sagte:

»Aber es muss noch zwei andere geben, Oma.«

»Ja, natürlich, die Wintersonnenwende kurz vor Weihnachten und die Sommersonnenwende zur Mittsommernacht. Wenn wir zu Hause sind, können wir uns Hans‹ Globus angucken, damit du das besser verstehst.«

 

Daheim in der Küche drehte Kerstin den Globus, und Sofia nickte und versicherte ihr, dass sie verstehe. Aber sie war unaufmerksam, und Kerstin dachte, dass das Mädchen noch zu klein und die ganze Geschichte zu technisch und zu kompliziert sei. Sie aßen zu Abend, und dann wollte Sofia ins Bett gehen. Sie wollte früh einschlafen, sagte sie, und Kerstin, die wusste, was das bedeutete, wurde unruhig.

»Wenn die Leute sagen, sie wollten die Sache nochmal überschlafen, dann ist das eigentlich nur ein Sprichwort. Aber du machst das … wirklich. Worüber musst du jetzt nachdenken?«

»Geheimnis«, sagte Sofia, trank ihre Milch aus und verschwand die Treppe hinauf in ihrem Zimmer.

»Vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen«, rief Kerstin nach einer Weile.

»Schon gemacht. Oma, wo ist mein alter Teddy?«

»Im Schrank neben dem Bett. Ich will nur abdecken, dann komme ich.«

Aber als Kerstin kam, um sie noch einmal einzuwickeln und Gute Nacht zu sagen, schlief das Mädchen bereits, den alten Teddy dicht an die Brust gedrückt.

 

Sofia wachte um drei Uhr nachts auf, wie sie geplant hatte, zufrieden mit ihren Träumen. Jetzt musste sie darüber nachdenken. Sie schaute ihren Teddy an, schnaubte und warf ihn auf den Boden. Der Mann, den sie getroffen hatte, war nett gewesen, aber er war nicht gekommen, um sie zu trösten.

Frühlings-Tagundnachtgleiche. Sie kicherte leise, als sie daran dachte, dass er Omas Globus sicher albern gefunden hätte, genau wie all ihre Erklärungen. Seine Erde war keine Kugel, sie bestand aus endlosen Feldern, die sich unter der Sonne und den Sternen ausbreiteten.

Ich hätte ihn fragen sollen, warum er sich mir gezeigt hat, dachte sie. Warum habe ich das nur nicht getan?

Sie schloss die Augen und sank zurück gegen das Steinschiff auf dem Berg, in jenen Augenblick, als die Sonne untergehen wollte und ihre Oma schlief. Sie konnte ihn auf sich zukommen sehen und stellte ihre Frage, aber er antwortete nicht, lachte nur, und sie begriff, dass es dafür keine Worte gab, aber dass die Antwort mit dem Wunder in der Kirche zusammenhing.

Merkwürdig, dachte sie. Das Wunder hat eigentlich nur Unglück gebracht. Nein, nicht nur, denn es war doch unglaublich toll, dass der Pfarrer Gott hatte lachen hören. Aber Anders …

Dann dachte sie an Anders und an das, was Anfang der Woche geschehen war, am Montag. Da hatte sein Arzt Oma angerufen und gefragt, ob Sofia und sie zu ihm kommen könnten. Anders wollte etwas fragen, was nur Sofia wusste.

Oma war unruhig geworden.

Aber sie waren nach Uppsala gefahren und hatten bei dem Arzt zur verabredeten Zeit geklingelt. Anders wartete dort auf sie, und es ging ihm besser, er war nicht fröhlicher, aber ruhiger. Es hatte etwas Merkwürdiges in der Luft gelegen, als Oma und der Doktor sich begrüßt hatten, als hätten beide Angst. Aber Sofia hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie musste Anders genau ansehen.

Dann hatte der Arzt davon geredet, dass Sofia am Heiligabend, als sie mit Anders auf den Klippen gesessen hatten, wo das Boot fast auf Grund gelaufen wäre, etwas zu Anders gesagt habe. Der Doktor meinte, das, was Sofia gesagt hatte, sei wichtig, weil es in einem Traum wieder aufgetaucht sei. Aber Anders hatte den Traum wie auch das Gespräch vergessen. Ob sie sich erinnern könnte?

»Ihr müsst einen Augenblick warten«, hatte Sofia gesagt und sich verhalten wie immer, die Augen geschlossen und war in der Zeit zurückgewandert. Das war einfacher als üblich, weil es so eine schreckliche Zeit gewesen war, in gewisser Weise so gefährlich. Sie warf Kerstin einen Blick zu: Auseinander halten. Und dann sagte sie, dass sie das Zusammenträumen lange trainiert hatten und dass sie einmal Anders‹ Traum vom Engel geträumt hätte.

»Ich habe Anders gesagt, dass ich Angst vor seinem Traum hatte. Genau wie er vor meinem. Denn sein Engel war groß und irgendwie fließend. Aber das ging dann vorbei, die Angst, meine ich. Weil er nämlich so wunderbare Flügel hatte. Sie waren wie aus Seide. Und sie rochen so gut und wiegten mich sanft hin und her. Aber das Schönste war, dass es Musik gab, dass der Engel Geige spielte. Anders meint, er spielt etwas, was dieser Haydn sich ausgedacht hat, aber das stimmt nicht, es war viel schöner.«

Der Arzt sah zufrieden aus, aber viel schöner war, dass Anders so, ja, fast glücklich wurde. Weder sie noch ihre Oma hatten verstanden, was eigentlich geschehen war, aber sie verabschiedeten sich, und auf dem Heimweg im Auto hatte Sofia gesagt:

»Glaubst du, dass dieser merkwürdige Engel Anders‹ Schutzengel ist? Dass er es war, der Hans damals geholfen hat, als all das Schreckliche fast passiert wäre?«

Und Kerstin hatte geantwortet, dass das sicher nicht unmöglich war. »Wir wissen ja so wenig«, hatte sie gesagt, »wir wissen ja nicht, wie und warum Sachen und Dinge geschehen.«

Sofia war ihrer Meinung gewesen, hatte dabei aber gemerkt, dass Kerstin nicht an Anders und seinen Engel dachte, sondern an den Arzt, und warum sie ihn wieder getroffen hatte. Sie hatten sich schon früher gesehen, da war sich Sofia ganz sicher.

Als Kerstin sich am nächsten Morgen in Sofias Zimmer schlich, schlief diese ruhig.

»Schule, mein Mädchen. Komm frühstücken.«

»Oma«, fragte Sofia über ihrem Frühstück, »kannst du mir erklären, warum es in der Schule so langweilig sein muss?«

»Nein, das kann ich nicht. Obwohl ich über diese Frage mein ganzes Leben lang nachgedacht habe.«

Das Mädchen war über die Antwort so verblüfft, dass ihr fast die Müsliflocken in die Luftröhre kamen, aber im gleichen Augenblick klingelte das Telefon, und Kerstin sagte unruhig:

»Mein Gott, lass es nur nicht Hans sein, der beschlossen hat, mit nach Kharg zu fahren.«

Aber dem war nicht so, das erkannte Sofia an Kerstins höflicher Stimme; das sei nett, ja, natürlich, herzlich willkommen.

Dann legte sie den Hörer auf und sagte, das sei Doktor Stenström gewesen; Anders gehe es so gut, dass er das Krankenhaus verlassen könne, und der Doktor und Anders wollten sie am Nachmittag besuchen. Zusammen mit Katarina.

»Er ist nicht krank, wie Klara und Jonas befürchtet hatten. Er war nur ganz schrecklich verzweifelt«, sagte Kerstin.

Im Auto auf dem Weg zur Schule verabredeten sie, dass Sofia auf dem Heimweg in der Konditorei Kuchen kaufen sollte. Vielleicht würde sie es auch noch schaffen, die gröbste Unordnung zu beseitigen. Kerstin selbst hatte erst um halb vier Schluss, und der Arzt wollte um vier kommen.

»Verlass dich auf mich«, sagte Sofia, und Kerstin dachte, dass Sofia schon in vielerlei Hinsicht eine merkwürdige Zehnjährige war. Sie konnte wirklich sauber machen. Natürlich nicht so, dass es übertrieben sauber war. Aber schön, mit Blumen und allem an seinem Platz.