Der Doktor kam allein, pünktlich mit dem Glockenschlag. Anders und Katarina würden später kommen, der Junge wollte zunächst eine Weile in seinem Zimmer bleiben, um seinen Kassettenrecorder zu hören, sein Kurzwellenradio und seinen neuen CD-Player.
Der Arzt log, sah Sofia. Aber das machte nichts, sie mochte ihn dennoch, vor allem die alten Augen mit den vielen Lachfältchen drum herum. Als er seine Tasse Tee auf der Veranda bekommen hatte, die Aussicht bewundert und den ersten Haferkeks probiert hatte, sagte er, dass Sofia mit ihrem Bericht über den Engel eine große Hilfe gewesen sei. Es habe dem Jungen geholfen, sich daran zu erinnern, dass er eine eigene Welt hatte, die auf anderen Begriffen als den unseren aufgebaut war. »Die Blinden«, sagte er, »nutzen alte Signalsysteme, die wir nie trainiert haben.«
»Was sind das für Signale?«
Sofia war so interessiert, dass sie ihre Frage laut rief. Aber er war unverändert freundlich:
»Welche, die die Nase, die Ohren und nicht zuletzt die Haut aufnehmen kann. Sie riechen die Gefühle von Menschen, denn wer Angst oder Wut verspürt, sondert einen Geruch ab. Sie wenden ihr Gesicht einer Wand oder einem Baum zu und spüren so den Druck und hören das Echo. Wir denken nie daran, dass jeder Raum seine Geräusche hat, die von der Entfernung und dem Inhalt abhängig sind. Aber die Blinden wissen das. Ich glaube nicht, dass sie viel darüber nachdenken, sie lernen das einfach ganz natürlich und wenden diese Fähigkeiten vollkommen automatisch an.
Ihre Welt baut sich auf aus Geräuschen und Gerüchen, Berührungen und Bewegungen«, sagte er.
Als Sofia von dem Engel erzählte, habe sie damit diese Wirklichkeit wieder errichtet. Jetzt wisse Anders, dass er sie entwickeln musste.
»Das war tüchtig, dass du dich so gut erinnern konntest.«
»Dann ist er also nicht mehr böse auf mich?«
»Na ja, er ist eigentlich nicht böse. Er hat Angst vor dir. Aber ich glaube, das geht vorüber, wenn du deine Phantasie in Schach halten kannst.«
»Auseinander halten«, sagte Sofia und sah Kerstin an. Ihr Mund zitterte, und sie war kurz vorm Weinen, aber der alte Arzt strich ihr übers Haar und sagte, dass das sowieso irgendwann geschehen musste, dass alle blind geborenen Kinder verzweifeln würden, wenn sie begriffen, wie groß ihre Behinderung war.
»Gewöhnlicherweise geschieht das ja nicht mittels eines Wunders«, sagte er und lachte kurz auf. »Üblicherweise kommt die Erkenntnis im Mopedalter, wenn sie begreifen, dass sie niemals Moped oder Auto werden fahren können.«
»Ist das denn so schrecklich?«, fragte Sofia ironisch, aber im nächsten Moment klingelte es an der Tür. Katarina hatte einen großen Strauß Tulpen dabei, und der Arzt sah überrascht, dass Kerstin feuchte Augen bekam, als sie ihre Nase in die Blumen senkte und sich bedankte.
»Eine Vase, eine große Vase, Sofia«, sagte Kerstin und umarmte Anders. Sofia verschwand, Anders beeilte sich zu sagen, er wolle sich dafür entschuldigen, dass er die Ferien gestört hatte.
»Kapitän Horner ist bestimmt sauer auf mich«, sagte er.
»Ach was«, entgegnete Sofia, die mit der Vase zurückkam. »Er ist nie länger als eine Viertelstunde wütend.«
»Nun übertreibst du aber, wie immer.«
»Na gut, dann eben eine halbe Stunde.«
Kerstin, die immer noch den Jungen im Arm hielt, gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange, lachte mit den anderen und sagte:
»Das stimmt wirklich, Anders. Und außerdem war er in erster Linie auf sich selbst wütend.«
»Warum das?«
»Ich glaube, das lag daran, weil er solche Probleme hatte, alles zu verstehen. Wenn Hans Horner etwas nicht kapiert, wird er wütend, so eine Viertelstunde lang. Danach akzeptiert er, dass er ein Idiot ist. Er kommt in einer Woche heim, dann kannst du herkommen und mit ihm reden.«
Kerstin servierte den Tee. Als alle saßen, sagte der Doktor, dass sie gekommen waren, um über Anders und die Schule zu sprechen. Wie sie wüssten, wurden es ja immer weniger Schulkinder in Tomteboda, die sehbehinderten Kinder sollten in normale Schulen gehen, so war der Trend. Anders und er hatten lange darüber gesprochen und waren zu dem Entschluss gekommen, dass es für den Jungen das Beste sei, wenn er bei seinen Eltern wohnen und zu Hause Freunde finden könnte. Ob Frau Horner glaubte, dass die Östmora-Schule für Anders geeignet sei?
Dann sprachen der Arzt und die Lehrerin über Extraressourcen, über die Ausbildung der Lehrer, über die spezielle Pädagogik, die gefordert war, über Punktschreibmaschinen und Landkarten und anderes, was die Schule besorgen müsste. Kerstin wurde immer eifriger, aber gleichzeitig auch beunruhigt:
»Die Schule in Östmora ist nicht besser als andere. Überall sind die Kinder nervöser als früher. Wir haben große Probleme mit Mobbing und mit Kindern, die einfach rücksichtslos sind. Kinder sind ja immer egozentrisch, das sollen sie auch sein, das ist ganz natürlich. Aber heutzutage sind sie so anstrengend, ohne Regeln. Und es gefällt dir doch in Tomteboda, Anders?«
Anders lächelte schief und dachte, wie wenig sie doch begriff, diese Kerstin Horner. Er könnte ihr viel von der Heimmutter erzählen, die einen an den Haaren zupfte und verhöhnte. Und über die alten Tanten, die eisenhart auf Disziplin und Ordnung bedacht waren und die wahnsinnig wurden, wenn ein Schüler traurig war und weinte. Und über die Kameraden, die … Red du nur über Mobbing, dachte er. Aber laut sagte er:
»Doch. Es ist da sicher … ganz okay. Aber ich muss ja irgendwann auch unter die Normalen kommen.«
Und Stenström sagte, dass Frau Horner sicher eine ganze Menge über die Probleme wüsste, die in allen Internaten entstünden. Und dann fuhr er äußerst entschieden fort, indem er erklärte, Anders sei ein ganz gewöhnlicher Junge, der ganz normale Kameraden brauche und eine gewöhnliche Schule, und Kerstin und Katarina nickten einander zu und dachten beide, dass es sicher schwer werden würde, aber vielleicht doch das Richtige sei.
Nur Sofia freute sich ohne Einschränkungen:
»Dann kannst du im Kirchenchor mitsingen«, sagte sie triumphierend. »Der Pfarrer, du weißt, unser Pfarrer, ist dabei, einen großen Chor zusammen mit dem Pfarrer von deinem Vater zu organisieren, und die brauchen jemanden, der Knaben …-Opern singt, oder wie heißt das, Oma?«
»Knaben-Sopran.«
»Ja, genau.«
Der Doktor horchte auf. Der Pfarrer, das war doch dieser Holmgren, der Arzt hatte seine Predigt gelesen, und sie hatte ihm gefallen.
»Wir können zu ihm rüberlaufen und ihn fragen«, sagte Sofia, und Anders nickte, doch, das würde er gern versuchen.
Aber in allererster Linie wollte er den Pfarrer mit den glücklichen Augen treffen.
Als die Kinder fort waren, erzählte Kerstin, dass Holmgren den Chor für Anders organisierte, für ihn nahm er diese ganze schwierige Zusammenarbeit mit der Missionskirche auf sich. Er würde also überglücklich sein. Der Arzt sagte, dass er gern mit dem Pfarrer und dem Kantor reden würde, und Kerstin versprach, das zu vermitteln.
Katarina hatte wie üblich still dabeigesessen, aber jetzt sammelte sie ihren ganzen Mut und fragte:
»Hat Anders Ihnen erzählt, welche Beziehung er zu seinem Vater hat? Berglund sieht den Jungen als Gottes Strafe an, und das hat Anders zu hören bekommen, seit er klein war. Und jetzt, nach dem Selbstmordversuch, ist es noch schlimmer geworden. Für Berglund ist Selbstmord eine Todsünde.«
Katarina war aufgewühlt, aber der Arzt erwiderte nur ruhig, dass er Bescheid wisse. Dass Anders ihm alles erzählt habe.
»Das ist raus, und das ist gut so«, sagte er. »Gibt es hier im Ort jemanden, vor dem Berglund Respekt hat und der mit ihm einmal reden könnte?«
»Das wäre nur der Missionspfarrer«, sagte Katarina. »Aber er hat das schon gemacht, wie oft ist er im Laufe des Jahres zu uns gekommen und hat Berglund die Leviten gelesen, immer, wenn ich total verzweifelt war und ihn angerufen habe. Das hilft nichts. Der Pfarrer hat seinen Glauben, ich habe meinen, sagt Berglund. Ich drohe dann jedes Mal mit Scheidung, aber das ist nicht so einfach, denn ich weiß ja, dass die Scham ihn umbringen würde.«
Kerstin saß stumm da, das hatte sie nicht gewusst. Ihr war klar gewesen, dass Katarina es zeitweise nicht einfach mit ihrem Mann hatte. Aber dass er den Jungen quälte, nein!
Auch der Arzt wusste keine Worte des Trosts, er sagte nur: »Mein Gott, was für einen Gott einige doch haben!«
Als Stenström schließlich aufbrach, erklärte er Katarina, es sei weiterhin wichtig, dass Anders die zwei Tabletten täglich nehme, denn der Junge sei immer noch nicht aus der Risikozone. Und sie solle sofort anrufen, wenn es ein Problem gab. Zu Kerstin sagte er, dass sie sich doch noch von früher kannten und er sie gern wieder sehen würde.
»Ich bin jetzt pensioniert«, sagte er. »Ich nehme nur noch wenige Patienten an und habe viel Zeit. Also überlegen Sie es sich und rufen Sie mich gern an.«