Kerstin hatte in der folgenden Nacht Probleme, einzuschlafen. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Anders und seinem Vater. Und dann war noch die Unruhe wegen Sofia. Meinte Stenström, dass das Mädchen psychiatrische Hilfe brauchte?
In der ersten Pause rief sie ihn an, er freute sich, machte sich aber Gedanken wegen ihrer Frage. Vielleicht hatte er sich etwas unvorsichtig ausgedrückt; nach allem, was er gesehen hatte, war Sofia eine offene, nicht sehr kindliche Zehnjährige. Aber ihre besondere mediale Begabung wies darauf hin, dass sie verwundbar war, besonders jetzt, wo sie begriffen hatte, dass sie anders war.
Er lachte etwas geniert, als er sagte, seine eigene Neugier spiele bei seinem Angebot sicher auch eine Rolle. Er hatte die Teile zusammengefügt, und ihm war einiges klar geworden. Und er erinnerte sich schließlich an den Vater des Mädchens, der auch eine ungewöhnliche Begabung gewesen war.
»Deshalb hatte ich die Idee, dass Sie vielleicht jemanden brauchen, mit dem Sie reden können«, sagte er.
»Ich komme«, sagte Kerstin, überrascht darüber, dass sie selbst es auch gern wollte. Sie machten eine Zeit aus, 14 Uhr am gleichen Tag. Sie tauschte ihre Nachmittagsstunden mit einer Kollegin, suchte Sofia und sagte ihr rundheraus, dass sie zu einer ärztlichen Untersuchung nach Uppsala fahre.
»Zu Stenström«, sagte Sofia. »Das ist gut, denn ihr habt was gemeinsam.« Kerstin gelang es zu lachen, als sie sagte, es sei ungerecht, dass Sofia so viele Geheimnisse habe, sie selbst aber nie eins haben durfte.
»Das stimmt«, nickte Sofia. »Daran habe ich nie gedacht.«
Dann saß Kerstin also Stenström gegenüber und sagte, wie sie es sich im Auto zurechtgelegt hatte, dass sie sich fast immer um Sofia Sorgen machte und dass es jetzt, nach dem Wunder in der Kirche, noch schlimmer geworden war.
»Sie hat das zweifache Erbe«, sagte sie und erzählte von Klara, die ihre Wirklichkeit in Johannes‹ eigentümlichen Gemälden bestätigt gefunden hatte. Es gelang ihr auch, ihm zu sagen, dass er ihnen bei dem Treffen in Ulleråker sehr geholfen habe, dass sie und auch ihr Mann sehr oft an das gedacht hatten, was er damals gesagt habe.
Aber dann kam sie nicht weiter, weil sie weinen musste. Ein nicht aufzuhaltendes Weinen. Das war peinlich, sie tat ihr Bestes, um das Weinen zu stoppen, aber es lag nicht in ihrer Macht.
Stenström sagte nicht viel, er reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher und summte. Es gab so viel Wärme in diesem Summen, dass ihr Weinen zum Schreien wurde. Kerstin schämte sich, mein Gott, wie sie sich schämte. Nach einer Stunde ebbte das Weinen ab, und der Doktor sagte: »Jetzt brauche ich ein paar Fakten, und dann werde ich Sie krankschreiben, Frau Horner. Sie brauchen Ruhe und müssen versuchen, an sich selbst zu denken.«
Da erzählte sie vom Lotsen, von der ganzen schwierigen Situation mit dem Alten auf dem Berg, der sich weigerte zu sterben, sondern stattdessen ihr das Leben aussog. Und von Hans und seinen Träumen aus dem Krieg. Und von Klara, die sich nach ihrem Kind sehnte, aber keinen Weg zu Sofia fand. Und zum Schluss das Allerschlimmste, dass Klara ihr Sofia wegnehmen könnte, wann immer es ihr behagte. Wie jetzt, wo sie heiraten wollte.
Stenström summte wieder und schüttelte den Kopf. Dann erfuhr er, wie Klaras Psychose behandelt wurde, und Kerstin bekam einen neuen Termin, bereits zwei Tage später. Er nahm eine Blutprobe, die er analysieren lassen wollte, und schrieb auf die Krankschreibung: »Überanstrengung«, gab ihr die Hand und sagte: »Dann bis Donnerstag um zehn.«
Als Kerstin heimfuhr, war sie sonderbar erleichtert. Aber der Arzt ging zu seiner Frau, die Bildhauerin war und einen großen Raum auf dem Dachboden des alten Hauses gemietet hatte:
»Frauen sind nicht recht gescheit«, sagte er.
»Das stimmt«, sagte sie. »Wenn Frauen gescheit wären, würde die Welt stehen bleiben.«
Dann sah sie lange Zeit ihren Mann an, bevor sie fortfuhr:
»Und deshalb sind fast alle Frauen wütend.«
Kerstin konnte viermal zu Stenström gehen, bevor Hans heimkam. Es wurde nicht viel gesprochen, das meiste war Weinen und Jammern. Aber es half ihr, sie schlief des Nachts ruhig und kam besser mit dem alten Lotsen zurecht. Nur Sofia wusste von den Besuchen; ihrer Tochter Klara, die jetzt öfter anrief, erzählte Kerstin nichts davon.
»Sie fühlt sich allein, weil dieser Jonas jetzt in Amerika ist«, sagte Sofia und rümpfte die Nase. Kerstin stimmte ihr zu und hatte das Gefühl, dass sie einen großen Schritt tat. Sie war dabei zu lernen, dass es nicht ihre Aufgabe war, immer für andere eine Entschuldigung zu finden.
»Das ist nicht mein Bier«, sagte sie laut.
»Was für ein Bier?«
»Das Bier des Verständnisses«, sagte Kerstin kichernd.
Da lachte Sofia laut los und sagte mit ihrer erwachsenen Stimme, die sie manchmal hatte:
»Vergiss das nicht wieder, Oma. Vor allem nicht, wenn Klara und Hans nach Hause kommen.«
Kerstin fielen die Worte wieder ein, als sie Klara in Arlanda abholte und ihr kurz mitteilte, dass sie krankgeschrieben sei, weil sie Ruhe bräuchte.
»Das kannst du bestimmt gut gebrauchen«, sagte Klara. Das war alles, was sie sagte, und zum ersten Mal spürte Kerstin, wie wütend sie auf ihre Tochter war.
»Nicht wütend«, sagte Stenström am nächsten Tag. »Rasend, verflucht sauer, ausgenutzt – alles geleugnet und fein ordentlich im Laufe der Jahre aufgestapelt. Sie müssen Ihren Schattenvorrat kennen lernen, Frau Horner.«
Eine Weile später fiel Kerstin Hans ein.
»Mein Mann kommt übermorgen nach Hause. Darf ich ihn einmal nächste Woche mit herbringen?«
»Nur wenn er selbst auch will. Aber ich nehme jetzt keine Klienten mehr an.«
Kerstin nickte, sie wusste, dass Stenström im April mit seiner Frau nach Italien fahren wollte und dort den Sommer über blieb. Die ruhigen Stunden bei dem alten Arzt würden bald ein Ende haben. Das war schade.
Aber Hans würde den ganzen Sommer über daheim sein.