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Kerstin Horner blieb mit dem Hörer in der Hand stehen, überrascht und ein wenig erschrocken über Arenbergs Worte. Er war ein ruhiger Mann und ein guter Arzt.

Vernünftig. Aber Kerstin mochte ihn nicht.

Kerstin war Lehrerin. Sie hatte sich für diesen Beruf entschieden, weil sie an Kindern interessiert war.

Womit sie meinte, dass sie neugierig auf kleine Menschen war, auf ihre Gedanken und Meinungen. Und vielleicht in erster Linie auf ihren Zustand, diesen Ewigkeitszustand, wie sie es nannte.

Das sagte sie natürlich nicht laut; wovon sie sprach, als sie noch jung war, und woran sie glaubte, das waren die in jedem Kind schlummernden Möglichkeiten. Aber der Glaube ging in der Schule verloren. Wie die Ewigkeit.

Ausläuten, einläuten.

Sie war noch nicht einmal fünfunddreißig Jahre alt gewesen, als sie den üblichen Auffassungen nachgab. Aber durch alle Berufsjahre hindurch hatte sie sich die Gabe erhalten, das Besondere bei jedem Kind zu sehen und zu hören.

Jetzt legte sie den Hörer auf, schüttelte den Kopf und ging zu ihren Schreibheften zurück. Sie saß davor, ohne sich konzentrieren zu können. Ihr Blick wanderte durch das Fenster hinaus, durch die Zweige des Birnbaums und weiter auf die weißen Felder mit den langen Schatten. Ihre Gedanken gingen zu Sofia.

Dem gesegneten Kind.

Eigentlich hatte sie genau das Kind, von dem sie immer geträumt hatte, dachte Kerstin. Es hat eine Phantasie, die die Welt zum Glühen bringt, und ein Herz mit weit aufgerissener Tür, groß wie die Tür zum Viehstall.

Und dennoch diese Unruhe.

Wie so oft dachte sie an den Abend, als Sofia verschwunden war. Dunkelheit, peitschende Märzwinde, Matsch. Das Kind war zum Mittagessen nicht nach Hause gekommen und auch nicht zum Abendbrot. Kerstin war an den Strand gegangen, um sie zu suchen.

»Sofia, Sofia!«

Ihre Taschenlampe hatte nur wenig in der Dunkelheit um die Felsen am Meer ausrichten können.

Groß, schwarz, dröhnend.

Und dann sah sie Johanssons Haus dort draußen, das Licht der Fenster und das Kind, das ihr entgegensprang.

»Ich habe mich verlaufen.«

»Aber hier läufst du doch immer herum.«

»Da war Licht in einem Fenster, und ich wollte an die Scheibe klopfen.«

»Und warum hast du es dann nicht getan?«

»Es war das falsche Fenster.«

Dann hatte das Kind seine Hand in ihre geschoben:

»Oma, sei nicht böse.«

Sie schüttelte Sofia, drückte sie aber schließlich so fest, dass ihr fast der Atem ausblieb.

Sie hatten sich im Gegenwind auf der Heide hingehockt. In der Dunkelheit lauerte der Wind mit scharfen Spitzen. Sie waren gelaufen, hatten eine Abkürzung über die Äcker genommen. Der Schlamm spritzte um ihre Stiefel herum.

Am Küchentisch bei Butterbroten und heißem Kakao sagte Kerstin dann:

»Du weißt doch, dass ich immer wütend werde, wenn ich Angst habe.«

Der Blick des Mädchens wurde ganz leer. Aber Kerstin ließ nicht locker.

»Was meintest du damit, dass es das falsche Fenster war?«

Sofias Augen waren auseinander gerutscht, wie immer, wenn sie lügen wollte. Doch dann sagte sie ganz logisch:

»Als ich gesehen habe, dass es Johanssons Haus war, wusste ich ja, wo ich war. Da konnte ich nach Hause finden.«

Ihr Blick war wieder klar, und sie sah Kerstin in die Augen:

»Es ist doch alles gut, Oma.«

»Ja, natürlich, mein Kind, alles ist gut.«

In diesem Moment gab es Hoffnung, als könnten ihre zwei Welten einander treffen. Sofia hatte angefangen zu erklären.

»Weißt du, ich bin ganz normal auf dem Weg gegangen. Da habe ich plötzlich gehört, wie der große Berg, weißt du, die Wand, zu mir gesprochen hat.«

»Gesprochen?«

»Ja, nein, er hat geflüstert. So, dass ich ihn nicht so gut verstehen konnte. Da habe ich meine Hand auf die untersten Steine gelegt und gesagt: Sprich lauter. Aber die Steine haben gesagt, das kann der Berg nicht.«

Dann ein lautes Lachen, und die Mädchenstimme fuhr fort:

»Und dann hat der Berg die Welt angehalten. Der Wind stand still, und die Wellen haben nicht mehr gegen die Klippen geschlagen. Das war so spannend, dass ich fast tot umfiel.«

Das Mädchen zitterte, sodass der Kakao in der Tasse in seiner Hand überschwappte.

Kerstin hatte ganz still am Küchentisch gesessen.

»Der Berg denkt sehr langsam«, hatte Sofia gesagt. »Das kommt daher, weil er so alt ist, weißt du.«

Kerstin hatte ihr nicht antworten können, also fuhr das Mädchen mit seiner Geschichte fort.

»Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich den Berg verstanden habe. Ich sollte auf ihn klettern und nach Norden gehen. Da oben war ein Weg, ein langer Weg. Der leuchtete, weißt du. Aber er war steil, der Berg, meine ich. Manchmal kam ich nur auf allen vieren voran.«

Sie flüsterte, und ihr Blick war weit weg, als sie fortfuhr:

»Ich habe einen Vogel gehört und dachte, dass er in dem Garten singt, von dem der Berg erzählt hatte. Aber dann wurde es ganz plötzlich dunkel. Und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Deshalb bekam ich Angst und bin einfach drauflosgelaufen.«

Kerstin hatte immer noch kein Wort gesagt, aber sie musste blass ausgesehen haben, denn Sofia hatte gesagt:

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Da hatte Kerstin sich zusammengerissen und Worte gefunden.

»Nein, nein. Ich bin nur etwas müde.«

Das Kind verzog seine Mundwinkel vor Verachtung, und die Augen sagten: Du lügst. Sie hatte Recht, denn Kerstin hatte wirklich ein Gespenst gesehen, einen Mann, der Sofia ähnlich war, in einem Zimmer mit Gittern vor dem Fenster. Dieser Mann hatte voller Eifer behauptet, er könne mit den Steinen auf dem Tisch vor sich reden. Er hatte einen Stein nach dem anderen angehoben, an ihm gelauscht und gesagt: Nur ich kann sie hören und verstehen.

Hinter ihm konnte sie Klara erkennen, auch sie vom Berg verzaubert.

Eine halbe Stunde später hatte sie das Kind ins Bett gebracht. Dann hatte sie sich aufs Sofa im Wohnzimmer gesetzt und versucht, ihr Herz, das unnatürlich schnell schlug, zur Ruhe zu bringen.

 

Den ganzen Sommer über hatte Kerstin sich bemüht, das Gespräch zu vergessen. Warum kam ihr die Geschichte heute wieder in den Sinn, während das Kind sicher in seinem Zimmer schlief, in dem die Adventskerze ruhig und anheimelnd brannte?

Sie schlich sich die Treppe hinauf, über den Flur, und machte die Tür einen Spalt weit auf. Sofia schlief.

Aber hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich ihre Augen. Sie träumt, soll sie lieber weiterträumen.

In der Küche kochte Kerstin Tee, wärmte Milch und schmierte Butterbrote.

»Hallo, es ist Zeit aufzuwachen. Und etwas zu essen.«

Das Mädchen schien nicht mehr so heiß zu sein, vielleicht war das Fieber gesunken. Wie üblich war sie sofort wach, sah erstaunlich zufrieden aus und sagte jubelnd:

»Wir haben es geschafft. Wir sind durchs Dach der Kirche hinausgeflogen.«

Im gleichen Moment klingelte es an der Tür.

»Fang schon an zu essen, ich mache auf.«

Sie hörte ein zweites, ungeduldiges Klingeln, als sie die Treppe hinunterging. Dennoch nahm ihr Körper sich seine Zeit, und sie dachte überrascht, dass die Unruhe wie Kleister in ihren Kniegelenken saß.

Es war Åke Arenberg:

»Ich bin gerade hier vorbeigekommen und habe gedacht, ich könnte mir schnell mal Sofia ansehen.«

»Das ist wirklich nett, aber es geht ihr schon viel besser.«

»Außerdem wollte ich das Telefongespräch erklären.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Kerstin scharf.

»Das Unheimliche daran ist«, fuhr der Doktor fort, »dass ich sie mit eigenen Augen gesehen habe, Sofia und Anders, wie sie durchs Kirchendach geflogen sind.«

Seine Stimme klang schrill, ganz anders als sonst. Kerstin hatte auf der Treppe einen Schatten gesehen, das Mädchen lauschte. Sie legte einen Finger auf den Mund und sagte:

»Lass uns lieber in der Küche weiterreden.«

Sie schlug die Küchentür mit Schwung zu und ließ sich schwer auf einem Stuhl nieder.

Die Worte prasselten nur so aus dem Doktor heraus, und immer wieder kam er darauf zurück, dass er es selbst gesehen hatte.

»Mit eigenen Augen«, sagte er.

»Das wird deinem Ruf schaden«, sagte sie schroff.

»Meinst du nicht, dass ich daran auch schon gedacht habe.«

»Und was schlimmer ist: Es wird den Kindern schaden.«

»Deshalb bin ich ja hier«, sagte er flehend. »Ich möchte mit gutem Gewissen bescheinigen können, dass beide Kinder krank in ihren Betten lagen.«

Kerstin ging vor ihm die Treppe hinauf, als er sagte:

»Was Anders betrifft, ist die Sache klar. Er hat so hohes Fieber, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann.«

Kerstin dachte unruhig an Sofias Besserung, beruhigte sich aber sofort, als sie die Tür zum Mädchenzimmer geöffnet hatte. Denn dort lag Sofia mit fieberheißen Wangen und brennenden Augen.

Nachdem der Arzt gegangen war, zufrieden, weil er eine Infektion in Nase und Rachen, hohes Fieber und hohen Puls festgestellt hatte, sagte Kerstin entschlossen: »Jetzt erzählst du mir die Wahrheit.«

»Welche Wahrheit?«, fragte Sofia. »Ich bin krank, und ich habe geträumt.«

Sie schloss ihre Augen im selben Moment, als Kerstin ihr Schielen bemerkte. Danach schlief sie. Und dann klingelte das Telefon. Es war die Lokalzeitung, und Kerstin fauchte:

»Wenn Sie unschuldige Kinder in diese Räubergeschichte reinziehen, werde ich Sie verklagen.«