Am selben Nachmittag, als Hans Horner nach Hause kam, saß Anders mit Karl Erik Holmgren in der Kirche. Sie saßen in der vordersten Bank, auf den gleichen Plätzen wie Anders und Sofia am ersten Advent im Traum.
Sie sagten nicht viel, aber der Pfarrer hielt die Hand des Jungen in seiner, und beide hatten ihre Augen auf den Altar und zum hellblauen Gewölbe hinauf gerichtet. Hin und wieder brach der Junge das Schweigen.
»Ich habe Ihre Predigt auf Band gehört. Haben Sie rausgekriegt, was Gott mit dem Wunder gewollt hat?«
»Nein, ich weiß nicht viel mehr als damals. Nur dass es gut für mich war.«
Dann erzählte er von seinen Schwierigkeiten, zu glauben und wie er ausgerechnet an diesem Adventsmorgen um ein Zeichen gebetet hatte.
»Und mein Gebet wurde erhört, und ich wurde froh«, sagte er.
»Ich weiß, dass Sie froh waren«, sagte der Junge. »Ich habe Ihr Gesicht gesehen, als Gott lachte.«
»Du hast es also auch gehört?«
»Ja, natürlich habe ich es gehört. Es war ja ein ziemlich lautes Lachen.«
Karl Erik war aufgekratzt. Bestätigt, dachte er, bestätigt. Aber der Junge fuhr fort:
»Sie wissen, Blinde hören besser als andere.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, es war ein lautes Lachen. Dann müssen doch die anderen es auch gehört haben.«
»Ja, das ist merkwürdig«, gab Anders zu.
Der Pfarrer war lange Zeit still, bis er sich endlich traute, die Frage zu stellen:
»Aber dann weißt du auch ganz sicher, dass es Gott gibt.«
»Ja, mag sein. Darüber habe ich nicht nachgedacht. Da war so viel anderes. Und außerdem ist es ja nur umso schlimmer, wenn es ihn gibt, denn dann war er es, der mich blind gemacht hat.«
Der Junge war aufgewühlt, Karl Erik schwieg. Soweit er aus seinen Gesprächen mit dem Missionspfarrer verstanden hatte, hatte dieser, wie so viele Diener der Kirche, biblische, unumstößliche, törichte Erklärungen für alles. Der Junge hatte sie sicher bis zum Überdruss zu hören bekommen.
»Antworten Sie doch«, schrie Anders.
»Ich habe keine Antwort. Ich begreife es auch nicht.«
Das war die richtige Erwiderung, er fühlte es an der Hand, die seine drückte. Schließlich sagte Karl Erik, als wolle er sich selbst überzeugen:
»Aber wir werden das Lachen nicht los, weder du noch ich.«
»Nee. Und noch was anderes. Ich habe Ihr Gesicht gesehen, es ist das einzige Gesicht, an das ich mich noch genau erinnere. Sie wissen, ich habe vorher nie verstanden, woher die, die sehen können, wissen, wie sich Leute fühlen, und das fast sofort. Bei mir dauert das seine Zeit, und oft liege ich falsch.«
Die Hoffnungslosigkeit in der Stimme traf den Pfarrer, und er fand kein Wort des Trostes: Gott, hilf mir jetzt, hilf mir!
»Mein Gesicht war das einzige, das du gesehen hast?«
»Ja. Obwohl das sonderbar ist.«
»Ja. Das ist so merkwürdig, dass es etwas bedeuten muss. Es deutet auf einen Zusammenhang hin, etwas, was wir verstehen müssen. Anders, ich überlege, ob wir uns nicht der Antwort auf die Frage nähern, was Gott mit seinem Wunder wollte.«
Der Junge atmete heftig, er war sehr bewegt.
»Aber Gott würde doch so etwas nicht für einen … kleinen blinden Pups wie mich tun. Der sich eklig benimmt, lügt und nie an jemand anderen als an sich selbst denkt.«
»Quatsch«, widersprach der Pfarrer. »So denkt er nicht.«
»Das ist das Merkwürdigste, was ich je gehört habe. Sind Sie eigentlich Christ?«
»Ich versuche es nur so gut ich kann. Aber so viel habe ich jedenfalls verstanden, dass auch sonst niemand Christ ist, in der Form, wie Christus es gemeint hat.«
Anders wurde steif vor Verblüffung, sammelte sich dann aber:
»Gott mag nur die, die glauben und die gut sind. Das habe ich mein ganzes Leben lang gehört.«
»Ich weiß, das lernen die meisten von uns. Aber das stimmt nicht, Anders. Gott mag jeden Menschen, die Widerlinge und Mörder, alle. Und erst dadurch werden die, die es wissen, gut, verstehst du?«
»Ja, schon möglich. Vielleicht fange ich langsam an zu verstehen.«
Diesmal dauerte das Schweigen lange, vielleicht ganze fünf Minuten ließ Karl Erik Holmgren den Jungen in Ruhe. Dann sagte er fast schüchtern:
»Wollen wir zusammen beten, Anders?«
»Ja. Was sollen wir beten?«
»Wir nehmen das alte, übliche Gebet, du weißt schon. Und du, denk daran, was Jesus über den Himmel gesagt hat, dass er in uns ist.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du musst nicht versuchen, es zu verstehen. Denk nur daran, wenn wir das Gebet sprechen.« Anders nickte, und bereits nach der ersten Zeile lachte er: »Vater unser, der du bist im Himmel …«
Sie blieben nach dem Gebet noch eine Weile sitzen, aber dann sagte Holmgren, sie müssten jetzt wohl aufbrechen, sonst würde Anders‹ Mutter möglicherweise unruhig werden.
Der Junge sagte, er habe so viel zu denken bekommen, dass sich alles in ihm drehe. Und der Pfarrer erklärte, ihm gehe es ebenso, und er wolle sich gern bald wieder mit ihm treffen.
»Pass auf, wir machen es so«, sagte er. »Jeden Abend um sieben Uhr versuchen wir uns hier in der Kirche zu treffen. Wenn einer von uns verhindert ist, dann betet der andere allein.«
»Ich bin nie verhindert.«
»Aber ich möglicherweise, weißt du, Begräbnisse und so.«
»Ich verstehe. Und ich verspreche es. Wenn Sie nicht kommen, bete ich auch für Sie.«
»Danke.«
Auf dem kurzen Heimweg durch den alten Ort sagte Anders mit heiserer Stimme:
»Das wird eine Hölle werden mit meinem Vater. Er mag Sie und die Staatskirche nicht. Und außerdem glaubt er, dass ich blind geworden bin, weil Gott ihn strafen wollte. Deshalb schämt er sich so schrecklich meinetwegen.«
»Aber das ist doch ziemlich dumm.«
Zum ersten Mal an diesem Abend verlor Holmgren die Fassung und fühlte sofort, dass das für den Jungen, der seinen Vater verteidigte, nicht gut war:
»Er glaubt es eben und kann nichts dafür. Ich habe viel an ihn gedacht, als ich sterben wollte. Aber schließlich habe ich begriffen, dass auch das nicht richtig ist, weil Vater Selbstmord als eine Todsünde ansieht.«
»Wusstest du das schon seit langer Zeit?«
»Solange ich mich erinnern kann. Er hat mich immer als ein Unglück bezeichnet. Am schlimmsten ist es, wenn sie sich darüber streiten, Mama und er, wenn sie glauben, dass ich schlafe. Mama ist so wütend und so traurig, dass ich gedacht habe, ich würde ihr helfen, wenn ich …«
»Aber das ist nicht wahr.«
»Nein«, gab der Junge zu, »das ist nicht wahr. Jetzt weiß ich das. Wenn mein Vater nicht zu Hause ist, vielleicht wollen Sie, wenn Sie Zeit haben und so …«
Aber Berglunds Lastwagen stand auf dem Hof, also verabschiedeten der Pfarrer und der Junge sich an der Pforte.