39

Früh am nächsten Morgen brachte Kerstin Klara zum Bahnhof nach Uppsala. Fast die ganze Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander, Kerstin dachte, dass das, worüber sie reden sollten, zu gewaltig für eine kurze Autofahrt war. Klara hatte sich vorgenommen, nach dem Psychiater zu fragen, merkte aber, dass sie es gar nicht wissen wollte.

»Pass auf dich auf, Mama«, sagte sie, als sie sich verabschiedeten, das war alles, was gesagt wurde, und das war erbärmlich, dachte Kerstin, als sie sich in den dichten Morgenverkehr einfädelte.

 

Währenddessen ging Hans im Haus und im Garten herum. Das hatte ihm immer ein tiefes Gefühl der Befriedigung gegeben. Wieder sehen und wieder erobern, erinnern und planen. Aber heute wollte die Freude nicht so recht aufkommen:

Ich werde auch dieses Jahr die Brücke nicht reparieren.

Er dachte an Jonas‹ Brief: »Glücklich in einer beschützten Ecke der Welt leben.«

Wie zum Teufel sollte das möglich sein?

 

Als Kerstin zurückkam, sagte er:

»Wir verkaufen diese Hütte, wenn dein Vater stirbt. Und fangen an einem neuen Ort an.«

Kerstin wurde so froh, dass es ihre Angst nur verstärkte. Er hatte doch gewusst, dass sie immer schon Östmora verabscheut hatte, alle Fäden zur Vergangenheit, all den Klatsch und all die Verpflichtungen. Aber er hatte ihren Bedürfnissen gegenüber die Augen verschlossen. Das Haus und der Ort waren für seinen Pakt mit dem Teufel wichtig gewesen.

»Du musterst ab?«

»Ja.«

»Auch wenn sie dir nur so einen Scheißjob im Reedereibüro anbieten können?«

»Die meisten anderen kommen mit dem Neun-bis-fünf-Trott ja auch zurecht. Es ist wohl langsam an der Zeit, erwachsen zu werden. Kerstin, musst du deshalb weinen?«

Sie entschuldigte sich, konnte ihre Tränen aber nicht zurückhalten. Es war wie bei Stenström, sie hatte die Kontrolle über ihre Gefühle verloren.

»Ich weine sicher auch vor Freude«, sagte sie trotzig. Da schmunzelte er und trug sie die Treppe hinauf und entkleidete sie.

Ein paar Stunden später sagte Kerstin: »Unsere Körper sind sehr viel klüger als wir.« Er war im Großen und Ganzen ihrer Meinung, erklärte aber, dass sie mehr als nur die Freude ihrer Körper gemeinsam hätten, es war auch das Allerinnerste jenseits der Gedanken und Beschlüsse.

Kerstin nickte, mehrmals und sehr ernst:

»Es stimmt wohl, dass der Körper mehr von der Seele weiß als die Gedanken. Das ist mir sehr deutlich geworden bei den Sitzungen bei Doktor Stenström. Weißt du, ich rede fast nicht mit ihm, meistens weine ich. Und schreie. Anfangs habe ich mich schrecklich geschämt, aber dann hat er gesagt, dass es nur gut ist, dass ich sehr tüchtig bin, weil ich mich traue. Das stimmt so nicht, er ist es, der tüchtig ist. O, Hans, er hat so ein wunderbares Summen.«

Sie versuchte es nachzumachen, hmm, hmmmm, aber das klang so albern, dass sie selbst lachen musste. Hans lachte nicht mit, er stöhnte vor Verzweiflung.

»Woran denkst du, Hans?«

»Ich denke nicht, ich schäme mich so, dass ich Bauchschmerzen kriege.«

 

Als sie aufstanden und sich anzogen, sagte Kerstin leise: »Du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen. Es gehören immer zwei dazu, zur Entscheidung und zur Rollenverteilung.

Du hast es doch selbst gestern gesagt: ›Hans fährt zur See und Kerstin ist lieb, dann wird alles gut gehen.‹«

»Aber warum hast du mitgemacht, Kerstin?«

»Darüber habe ich auch nachgedacht. Zum einen ist das ein gängiges Muster, zumindest für Frauen. Sie müssen lieb sein, damit es sie überhaupt gibt. Und andererseits …«

»Ja?«

»Es gibt ja eine merkwürdige Sache, die wir beide gemeinsam haben. Du wie ich haben ein großes Loch, wo andere ihre Kindheitserinnerungen haben. Und wenn man sich nicht daran erinnert, wie man zu dem wurde, der man ist, dann hat man vielleicht gar keine Wurzeln. Verstehst du, was ich meine?«

Er nickte, doch, darüber hatte er auch schon oft nachgedacht. Aber sie, die doch hier in Ruhe und Frieden aufgewachsen war, sie musste doch …

»Wer war meine Mutter? Hans, wie war sie? Warum ließ sie es zu, dass Papa so primitiv, so egoistisch war?«

»Wahrscheinlich war sie wie du, selbstaufopfernd.«

Sie konnte die Wut in seiner Stimme hören, bevor er aus dem Zimmer und die Treppe hinunterrannte.

 

Sie zog sich an, ihre Hände hatten Mühe mit der langen Hose und dem Pullover. Aber als sie in die Küche kam, wo Hans saß und auf den Garten starrte, war sie ruhig und entschlossen:

»Jetzt ist aber gut, Hans Horner. Es ist möglich, dass ich wie meine Mutter bin. Aber du bist verdammt nochmal nicht wie der Lotse. Versuche das in deinen Schädel zu kriegen und lass es dabei bewenden.«

Das half, sein Gesicht entspannte sich, er lachte, umarmte sie und sagte:

»Denk nur, welchen Effekt ein Fluch haben kann, wenn er aus dem Mund einer Person kommt, die sonst nie flucht. Du hast Recht, Kerstin, ich bin verdammt nochmal nicht wie dein Vater. Aber ich kann nur schwer darüber hinwegkommen, dass ich dich als etwas Selbstverständliches betrachtet habe, etwas, um das man sich nicht sorgen muss.«

»Das war ein Kompliment, Horner.«

»Du bist nicht recht gescheit, Kerstin.«

»Doch, endlich werde ich es. Jedenfalls ein bisschen.«

»Jetzt rufe ich Stenström an.«

»Die Nummer steht im Telefonverzeichnis auf dem Schreibtisch.«

 

Als Hans zurückkam, war er besorgt. Der Arzt wollte am Nachmittag nach Östmora fahren, um Anders ein letztes Mal vor seiner Reise nach Italien zu sehen. Er wollte außerdem Karl Erik Holmgren besuchen und versuchen, mit Anders‹ Vater im Haus des Missionspfarrers ins Gespräch zu kommen. Er rechnete damit, gegen fünf Uhr fertig zu sein, und dann wollte er zu Horners hinüberkommen. Aber er wollte mit Hans allein sprechen.

»Du hast ihn doch wohl zum Essen eingeladen?«

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Männer«, sagte Kerstin und rief den Doktor an, der sich für die Einladung bedankte, aber sagte, dass er nicht viel Zeit habe und eine Tasse Kaffee genügen würde.

»Vielleicht isst er ja nicht mit seinen Patienten«, sagte Kerstin.

 

Aber Hans hörte gar nicht zu, er dachte an das, was Stenström gesagt hatte, dass er bis zum Herbst leider keine Zeit für einen neuen Patienten habe. Aber dass er gern ein Gespräch unter vier Augen mit Hans Horner führen würde. Über Frau Horner.

Er fühlte, wie eine alte Angst aus dem Bauch emporstieg, durch den Brustkasten bis in den Kopf. Wo sie allen Gedanken ein Ende bereitete, alles wurde leer und kalt.

»Ich gehe eine Weile raus«, sagte er zu Kerstin, die gerade die Vorbereitungen fürs Mittagessen begann.

»Wir essen in einer halben Stunde.«

Stenström kam zur verabredeten Zeit, er war müde, aber ruhig.

»Wir führen als Allererstes unser Gespräch«, sagte er zu Hans, als wüsste er von Horners Seelenpein.

Sie gingen in die kleine Bibliothek im ersten Stock. Hans fragte:

»Ein Drink?«

»Ich könnte schon einen ordentlichen Whisky gebrauchen. Aber ich fahre Auto, deshalb muss ich ablehnen. Berglund hat mich fast geschafft, es ist schon merkwürdig, wofür alles einige Gott benutzen können.«

Es dauerte eine Weile, bis Hans Horner begriff, dass der Arzt von Anders‹ Vater sprach, aber dann musste er lachen und sagte:

»Ein ordnendes Prinzip für eine ganze Reihe neurotischer Symptome. So was könnte ich selbst auch gebrauchen.«

Stenström lachte, und Hans sagte:

»Aber vielleicht ist es Ihnen ja trotzdem gelungen, Berglund einen Schreck einzujagen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Obwohl ich von beiden Pfarrern reichlich Unterstützung hatte. Dieser Holmgren ist gut, und er hat mittlerweile ein enges Verhältnis zu Anders. Deshalb kann ich den Jungen mit gutem Gewissen verlassen.«

Sie sprachen eine Weile über Italien, über das Haus, das die Stenströms in der Toskana besaßen.

»Dort ist es jetzt Frühling und alles blüht«, sagte der Arzt sehnsüchtig, und Hans dachte: Gleich werde ich verrückt und schreie ihn an. Stenström fühlte die Unruhe:

»So, eigentlich wollten wir ja über Frau Horner sprechen. Sie ist eine starke kleine Person, und es besteht keine größere Gefahr für sie. Es sind eigentlich nur ein paar praktische Dinge, die ich gern besprochen hätte.«

Hans hatte das Gefühl, als beginne sein Herz wieder zuverlässig zu arbeiten, die Kälte wich, und der Kopf füllte sich mit Fragen.

»Es war gut, dass sie zu mir gekommen ist«, fuhr Stenström fort. »Üblicherweise funktionieren Frauen ja immer weiter, bis ihr Körper rebelliert und sie irgendeine Krankheit bekommen. Ich glaube, dieses Risiko ist überstanden. Aber sie braucht viel Freude, Sahnetorten und Honig. Sie ist ein wenig anorektisch.«

»Magersucht?«

»Nein. Aber sie hat die Tendenz dazu. Also viel Bewegung und viel Essen. Was Sie hinsichtlich ihrer schwierigen Lage mit dem Vater machen können, weiß ich nicht, aber versuchen Sie, einen Teil der Besuche bei ihm zu übernehmen. Soweit ich verstanden habe, ist Sofia bei dem Alten eine große Hilfe.«

Hans nickte.

»Und damit komme ich zu dem, was wohl Frau Horners größte Sorge ist. Sie betrifft Sofia. Nicht das Mädchen selbst, es ist mir gelungen, diese Unruhe abzubauen. Das Kind ist ja bezaubernd und äußerst interessant.«

Hans stimmte ihm zu, das spürte er selbst. Auch seine Beunruhigung bezüglich Sofia war geringer geworden. Stenström fuhr fort:

»Aber Ihre Frau hat große Angst davor, dass das Mädchen Ihnen und ihr weggenommen werden könnte, jetzt im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Mutter heiraten will. Ich kann nicht beurteilen, wie groß das Risiko ist, aber Ihre Frau hat in einer sehr intensiven Aussprache Sofia versprochen, sich um sie zu kümmern, falls sie krank werden sollte. Danach ist ihr klar geworden, dass sie gar nicht die rechtliche Grundlage für ihr Versprechen hat. Sie ist ja eine Frau, die ihr Wort hält. Und dem Mädchen eng verbunden.«

Hans war wütend und überrascht zugleich, sagte jedoch ruhig:

»Ich werde sofort die Sache mit meinem Anwalt besprechen. Und eine Adoption einleiten. Das wird keine Schwierigkeit sein, meine Tochter und mein Schwiegersohn sehen sicher ein, dass es so das Beste für das Kind ist.«

»Dann hoffen wir, dass sich das regelt«, sagte der Arzt, und danach gingen sie hinunter zu dem bereitgestellten Kaffee.

 

Hans brachte Sofia ins Bett, und Kerstin hörte die beiden kichern wie immer, wenn sie bei ihrer langen Fortsetzungsgeschichte vom Messer Oskar waren, das die Gabel Selma liebte, aber dem es nie gelang, im gleichen Fach wie sie in der Küchenschublade zu liegen. Aber als Hans das Mädchen gut zudeckte und ihr einen Gute-Nacht-Kuss gab, flüsterte sie:

»Was hat der Doktor über Oma gesagt?«

»Dass sie nicht krank ist, nur müde. Dass sie viel Freude, Sahnetorten und Honig braucht.«

»Aber das ist doch Quatsch, Hans. Sie mag weder Sahnetorten noch Süßigkeiten.«

Hans lachte, streichelte Sofia die Wange und sagte, dass der Arzt das sicher symbolisch gemeint habe.

»Und wie?«

»Honig ist wohl das Gleiche wie Liebe, meinst du nicht? Und die Sahnetorte, ja, das bist bestimmt du, Sofia, der Klecks Sahne auf dem Brei.«

»Und was ist der Brei?«

»Tja, weißt du … Das ist wohl das, was Kerstin und ich aus unserem Leben gemacht haben. Jetzt schlaf gut, mein Schatz.«

Sofia hörte, wie zufrieden er klang, und rief ihm hinterher:

»Das ist ein ganz, ganz guter Brei, Hans.«