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Am nächsten Tag sagte Anders nach dem Abendgebet zu dem Pfarrer, dass er sich wohl bei Hans entschuldigen und ihm dafür danken müsse, dass er ihm das Leben gerettet habe. Aber ihm graute davor:

»Ich habe Angst vor ihm.«

»Dann könnte ich ja mit dir gehen.«

»Das wäre feige.«

»Dann musst du es wohl allein durchstehen.«

Das war ein neuer Gedanke, Anders dachte lange darüber nach. Man konnte sehen, dass er Angst hatte. Der Pfarrer spürte seine Qual.

»Genau das ist es, was Mut ausmacht, Anders. Zu wagen, etwas durchzustehen, wovor man Angst hat. Ich rufe jetzt einfach den Kapitän an.«

 

Horner hatte schlechte Laune, er erwartete den Besuch von aufgebrachten Umweltschützern, die nach einer Ölverschmutzung im Winter den Strand gesäubert und Seevögel gerettet hatten.

»O Mann«, sagte Holmgren. »Das wird nicht einfach werden, denn die suchen einen Sündenbock. Die Leute waren stinksauer, als das passiert ist. Und ich verstehe es ja, das muss ein widerlicher und deprimierender Job gewesen sein.«

Horner lachte verbittert. Holmgren hörte Kerstin im Hintergrund reden, der Kapitän sagte: »Einen Augenblick bitte.« Als er zurückkam, erklärte er: »Meine Frau meint, ich bräuchte einen Pfarrer, um nicht ausfallend zu werden. Können wir es nicht so machen, dass Sie jetzt gleich mit dem Jungen kommen, und dann so nett sind und noch hier bleiben, wenn die Umwelthyänen zum Angriff übergehen?«

Holmgren willigte lachend ein. »Wo treffe ich Sie?«

»Am Anleger. Ich werde mich dort hinsetzen und überlegen, wie ich sie verflucht nochmal auszählen kann.«

»Noch etwas. Seien Sie nicht allzu nachsichtig mit Anders. Er muss es lernen, Verantwortung zu übernehmen.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Horner. »Ich habe nie begriffen, was mit christlicher Vergebung gemeint ist.«

 

Scheint ein ziemlich harter Bursche zu sein, dachte Holmgren und ärgerte sich, dass er das über Anders gesagt hatte. Aber jetzt gab es kein Zurück. Sie gingen zu Horners Haus weit draußen auf der Landzunge und fanden, wie verabredet, den Kapitän am Anleger.

Der nahm den Jungen spontan in den Arm und sagte voller Wärme: »Ich habe gehört, es geht dir besser, Anders.« Der Junge war angespannt, sammelte jedoch die Worte im Mund und spuckte sie aus:

»Ich muss dir danken, dass du mir das Leben gerettet hast. Und mich entschuldigen, weil ich mich so dumm benommen habe.«

»Aber Anders, das versteht sich doch von selbst. Jeder Mensch rettet das Leben anderer, wenn es möglich ist. Du und ich, wir müssen uns jetzt nur gegenseitig zu erklären versuchen, was passiert ist und warum. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich glaube, ich weiß nun, warum ich ausgerastet bin und so wütend auf dich wurde. Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du sterben wolltest.«

Anders wurde so eifrig, dass sich seine Worte überschlugen:

»Das war wie ein Sog«, sagte er. »Der war viel stärker als ich, ich konnte ihn irgendwie überhaupt nicht steuern. Obwohl es schön war, als wir gesegelt sind, als du mir gezeigt hast, wie man den Wind und die Wellen spüren und verstehen kann. Ich war wie gespalten. Aber der Sog war stärker als alles andere, verstehst du?«

»Ich versuche es, Anders. Ich glaube, dass es mir so langsam gelingt. Gut, dass du es mir erzählt hast. Und jetzt will ich dir erklären, warum ich so verflucht wütend wurde. Mit zwölfjährigen Jungen umzugehen ist schwierig für mich. Vielleicht weißt du, dass ich einen Sohn hatte, der nur wenig jünger war, als er durch einen betrunkenen Autofahrer starb. Die Trauer hört nie auf. Und sie bringt die ewig nagende Frage mit sich, warum das Leben so ungerecht ist.«

»Wie bei mir, warum ich blind bin«, flüsterte der Junge, und Horner stimmte ihm zu:

»Ich kann gut verstehen, dass du viel darüber nachdenkst.«

»Pastor Holmgren hat gesagt, dass es darauf keine Antwort gibt, zumindest keine, die wir verstehen. Man muss damit leben, so gut man kann.«

»Ja.«

Sie saßen alle drei auf dem Anleger, die beiden Männer schauten auf das Wasser hinaus. Anders lauschte den Wellen und spürte die Kälte der Eisschollen, die draußen auf dem Meer trieben.

»Es gibt noch etwas, was du wissen sollst, um mich besser zu verstehen«, sagte Hans nach einer Weile. Und dann erzählte er von dem Zehnjährigen in Hamburg, der zu spät zum Essen heimkam und dessen Familie inzwischen in einem Bombenkrater verschwunden war.

»Ich erinnere mich nicht mehr an viel, denn der Schock hat mich gelähmt. Doch ich wollte trotz allem leben, ich habe gestohlen, um etwas zum Essen zu haben, und monatelang in Ruinen gelebt. Das war schrecklich, Anders, Kadaver und Leichengestank, mein Gott. Schließlich fand ein alter Freund der Familie mich und schmuggelte mich an Bord eines Schiffes. So bin ich in Schweden gelandet, wo ich eine Tante hatte, die sich um mich kümmerte. Begreifst du nun, dass dein Flirt mit dem Todesengel mich zum Wahnsinn getrieben hat, Junge?«

Anders versuchte zu verstehen und spürte, dass er etwas erfahren hatte, worüber er lange und gründlich nachdenken musste. Dann rief Kerstin sie, die Umweltschützer sollten gleich kommen. Auf dem Weg zum Haus hielt Anders Horners Hand fest. Dann sagte er ganz überraschend:

»Aber was hattest du denn zu erledigen, warum bist du so lange von zu Hause fortgeblieben, wenn es doch so gefährlich damals war mit den Bomben und dem Krieg?«

Hans blieb stehen, vollkommen überrascht. Doch jetzt rief Kerstin erneut, und sie mussten sich beeilen.

Kerstin Horner hatte wie immer auf der Terrasse gedeckt, Obst und erfrischende Getränke bereitgestellt. Sie war angespannt, und ihre Augen flehten Hans an, er möge sich beherrschen. Aber sein Blick versprach ihr nichts.

»Sofia bringt dich nach Hause, Anders. Es wird bald dunkel, und Katarina macht sich sonst Sorgen.«

»Aber Pastor Holmgren …«

»Er hat versprochen, noch hierzubleiben, um Hans zu unterstützen.«

»Das ist in Ordnung«, sagte Anders. Die beiden Kinder verschwanden und im gleichen Moment rollten die ersten Autos auf den Hofplatz.

 

Der junge Mann, der das Wort führte, beschrieb zunächst die Ölkatastrophe. Dann erzählten sie alle gleichzeitig von ihren Bemühungen, die halb toten Meeresvögel zu retten, von diesem hoffnungslosen Job, Felsen und Buchten zu säubern, von Pflanzen, die eingegangen waren, von der Kälte, der Schufterei, ihrer Wut. Sie sagten, sie hätten Protestschreiben an alle denkbaren Behörden abgefasst. Aber niemand schien sich verantwortlich zu fühlen. Jetzt wollten sie wissen, was ein Kapitän auf hoher Fahrt sich dachte, wenn er in den empfindlichen Schärengürtel fuhr und dort seine Tanks reinigte?

Hans biss die Zähne zusammen und erklärte, er vermute zunächst einmal, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe.

Sofort wurde er unterbrochen: »Verflucht nochmal, was für ein Unfall denn!« Weit und breit sei kein Tanker auf Grund gelaufen oder als vermisst gemeldet worden.

Hans versuchte angestrengt, ruhig zu bleiben. Es gab noch andere Arten von Unfällen oder besser gesagt Missgeschicken. Jemand konnte dem Computer den falschen Befehl gegeben haben …

»Haben Sie Tanks auf See gereinigt, Kapitän?«

»Nein, Gott sei dank haben meine Schiffe Zwischentanks für das Spülwasser. Aber es ist schon vorgekommen, dass in der Nordsee so ein Missgeschick passiert ist.«

»Und das sagen Sie so einfach, ruhig und zynisch?«

»Nein, ich habe dabei absolut kein gutes Gefühl.«

Für einen Moment hatte er sie entwaffnet, aber bald übernahm ein anderer wütender junger Mann das Wort.

»Sie wissen doch selbst nur zu gut, dass es wahrscheinlich vorsätzlich geschah. Die spülen das Zeugs nachts in Meer, verschwinden und kümmern sich einen Scheißdreck um die Konsequenzen.«

»Wenn dem so war, dann geschah es auf Befehl von Männern, die Macht haben und die Welt allein nach dem Prinzip lenken, dass ein Job ein Job ist. Die Männer an Bord haben dem nicht viel entgegenzusetzen. Sie unterstehen dem Seerecht, und das ist ein quasimilitärisches Abhängigkeitsverhältnis.«

»Eichmann hat gesprochen.«

Jetzt verließ Horner das Verständnis, und Wut stieg in ihm auf.

»Da gibt es einen Unterschied. Eichmann hat nie selbst im Zug zur Vernichtung gesessen. Ein leeres Tankschiff ist voll mit Gasen, mit explosiven und unsichtbaren Gasen. Wenn du es nicht gasfrei kriegst, riskierst du selbst, in die Luft zu fliegen.«

Hans‹ Stimme war eiskalt, und plötzlich wurde er laut.

»Es ärgert mich, dass ihr alle so verflucht unschuldig seid«, dröhnte er. »Was macht ihr denn selbst, bitte schön? Auf meinem Hof stehen an die zehn Autos, ich nehme an, die fahren mit Luft. Und lassen keinerlei Dreck in die Luft ab. Ihr alle zusammen fahrt nachher wieder heim, wo Gott oder irgendeine andere unschuldige Energie euch wärmt und heißes Wasser für die Geschirrspülmaschine und die Dusche herbeizaubert. Denn von euch ist doch sicher niemand ein Ölkonsument, dazu habt ihr ja viel zu sauber gewaschene Hände und ein zu gutes Gewissen.«

Es wurde still, eine peinliche Stille, und Horner beruhigte sich ein wenig, bevor er fortfuhr:

»Sie müssen mich entschuldigen, aber wie die meisten Seeleute glaube ich, Landratten haben oft eine fürchterliche Doppelmoral. Angenommen, diese Tankerbesatzung hat einen Fehler begangen oder die Tanks auf Befehl hin gespült, so kann ich Ihnen versichern, dass es ihnen dabei verdammt dreckig geht. Sie wissen zumindest, dass sie schuld sind und schlafen nachts bestimmt nicht besonders gut.«

»Hans«, sagte Kerstin flehend.

»Nein, lass mich. Jetzt hält keiner mich auf. Ich fahre seit dreißig Jahren zur See. Als ich jung war, war das Meer sauber und die Welt schön, frisch und lebendig. Jetzt ist überall Dreck, im Kielwasser schwimmen tote Fische, eine Tierart nach der anderen verschwindet. Mein Gott, Sie sollten den Persischen Golf sehen. Oder die Einfahrt nach Rio. Oder die Delaware-Mündung, in der es keinen Lachs mehr gibt, da sieht es verdammt beschissen aus, und die Wale sind schon seit langer Zeit verschwunden. Schauen Sie sich in Ihrer eigenen Stadt um, sehen Sie diese verfluchten Tankstellen, die breiten Straßen, den Autoverkehr, der die Luft auffrisst. Und den Wald, der stirbt. Schauen Sie sich um, und gehen Sie anschließend nach Hause und waschen Ihre Hände in Unschuld. Versuchen Sie, sie so sauber zu kriegen, dass Sie sich einbilden können, es sei ja nicht Ihr eigener Geiz, der die wesentliche Ursache für diese neue schreckliche Welt darstellt.«

Er besann sich einen Augenblick, und seine Stimme klang eher traurig als wütend, als er fortfuhr:

»Jetzt fahren die Tanker bald unter Piratenflagge mit asiatischer Mannschaft, die sich einen Scheißdreck um die Umweltprobleme der westlichen Welt kümmert. Ich verstehe sie gut, sie haben viele Gründe, Rache nehmen zu wollen. Aber Sie hier sind es, die daran verdienen werden, der Ölpreis wird sinken, und Sie können sich in die Schlange an den Tankstellen einreihen, die ihre Preise um ein paar Öre pro Liter senken werden. Es gibt das Risiko, dass der Ölteppich in Ihrem Wasser sich ausbreiten wird. Aber zwischen beiden Ereignissen sehen Sie keinen Zusammenhang, niemand sieht den Zusammenhang, der ein so reines Gewissen hat.«

Inzwischen waren selbst den Wütendsten die Argumente ausgegangen. Horner bemerkte noch kurz, er habe gesagt, was er zu sagen hatte, und keinerlei Interesse an einer weiteren Diskussion. Er wolle ihnen abschließend nur noch einen Rat mit auf den Weg geben:

»Richten Sie Ihre Wut auf die Politiker und fordern Sie, dass die Reeder gezwungen werden, die Gesetze, die es ja gibt, auch zu befolgen. Und denken Sie darüber nach, worin Ihre persönliche Verantwortung besteht.«

»Die meisten von uns hier bekommen die Wärme aus dem Kraftwerk Forsmark«, sagte eine junge Frau.

»Schön für Sie«, sagte Hans, und seine Stimme troff vor Hohn. »Sie müssen ja nicht an den Abfall denken. Sie sind ja nicht gezwungen, beispielsweise etwas über die Barentssee zu wissen, wo die Russen ihre ausgebrannten Kernbrennstäbe versenken. Da liegen sie und werden auf Jahrtausende hinaus Radioaktivität von sich geben. Und das ist gar nicht weit von uns entfernt.«

»Ich weiß«, erwiderte die Frau. »Und deshalb habe ich auch Schuldgefühle.«

 

Bevor sie aufbrachen, fragte die junge Frau noch:

»Sie haben gesagt, Sie waren in Rio. Ist es dort wirklich so schön wie auf den Fotos?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Horner. »Ich sehe nie viel von der Stadt. Es sind zu viele Straßenkinder im Weg.«

»Jetzt ist es genug, Hans.« Kerstin war aufgestanden und führte die Gäste durch den Flur auf den Hof und brachte sie zu ihren Wagen. Als sie zurückkam, sagte sie:

»War das nötig? Diese jungen Leute gehören zu den besten ihrer Generation, sie sind kritisch und verzweifelt.«

Darauf konnte Horner nicht antworten. Der Pfarrer kam ihm zuvor und sagte, dass er gern von Horner lernen würde, wie man eine ordentliche Strafpredigt hält. Hans bot ihm etwas zu trinken an und nahm selbst einen doppelten Whisky. Als er ihm zuprostete, dachte er: »Mein Gott, ein durch und durch richtiger Mensch. Und außerdem noch Pfarrer.«

Kerstin schlief an diesem Abend früh ein, während Hans wach dalag. Aber es waren nicht die jungen Umweltschützer, die ihn beschäftigten, sondern die Frage, die Anders ihm gestellt hatte. Was hatte ein Zehnjähriger in einer bombenbedrohten Stadt so weit von zu Hause zu tun? Wen hatte er besucht?