Jonas hielt in Finnerödja an und meinte fast, die Erdbeeren im Kiefernwald hinter dem Wirtshaus riechen zu können. Es war Ende Juni und der Sommer zeigte sich hartnäckig von seiner besten Seite.
Er entschied sich fürs kalte Büfett, er wollte nicht ausgehungert bei Klaras Mutter ankommen. Sie würde sicher Selbstbeherrschung und Souveränität von ihm erwarten.
Er war nervös. Nicht so sehr, weil er Kerstin kennen lernen sollte. Das Bild, das Klara ihm vermittelt hatte, war geprägt durch Eifersucht, da war er sich sicher. Nein, die Unruhe betraf das Kind. Und Hans Horner. Horner hatte lauter widersprüchliche Gefühle bei Jonas geweckt.
Es war eine Mischung aus Neid, Eifersucht und Bewunderung. Aber in allererster Linie Zuneigung. »Alle verlieben sich in Papa«, hatte Klara gesagt, »dir wird es auch nicht anders ergehen.«
Ihm war gar nicht der Gedanke gekommen, dass etwas Wahres an diesen Worten sein könnte. Sie drückten ja vor allem die Verbundenheit zwischen Klara und ihrem Vater aus, infantil und stark gefühlsmäßig geladen. Schneewittchen – sie hatten darüber ihre Scherze gemacht.
Doch das Märchen sagte kein Wort über den König, über Schneewittchens Vater und den Mann der Königin. Und bis jetzt hatte Jonas nie darüber nachgedacht. Wer der König war, war nicht von Interesse. Die entscheidende Person war der Prinz, der das Mädchen mit einem Kuss zu neuem Leben erweckte, weit entfernt vom Revier des alten Herrschers.
Und das war er, der Prinz. Daran gab es keinen Zweifel. Seine Liebe würde den Tankerkapitän ausstechen und Klara erwachsen genug machen, die Verantwortung der Königin zu übernehmen. Das war ihm so einfach erschienen – bis zu dem Tag, als Horner in Jonas‹ Küche stand, abwusch und vollkommen wehrlos dastand. Wie es nur ein Held kann, der bereits den Drachen besiegt hat und weiß, dass er niemanden sonst zu fürchten hat. Direkt in Jonas‹ lebenslange Sehnsucht nach einem Vater war er hereingetrampelt, dieser Horner.
Jonas tröstete sich mit Käsekuchen, verzichtete auf den Kaffee und ging eine Treppe hinauf zur Toilette. Während er sich das Gesicht und die Hände wusch, sagte er zu seinem Spiegelbild: Jetzt geht es um Sofia.
Als er sich den Sicherheitsgurt umschnallte und auf die E18 einbog, hatte er seine Unruhe wieder unter Kontrolle. Und als er ein paar Stunden später an Uppsala vorbeifuhr und die Straße nach Östmora fand, war er voller Zuversicht. Er würde sich nicht von Klaras magischen Bildern vom Bergkönig, der weißen Königin und dem außergewöhnlichen Kind anstecken lassen.
»Genau auf der Straßenkuppe, wenn du die Kirche sehen kannst, musst du nach rechts abbiegen, am Hafen entlang«, hatte Klara gesagt. »Dann fährst du immer geradeaus, über die Hügel, bis zum letzten Haus auf der Landzunge.«
Jonas verpasste die Abfahrt; er hatte ein Auto dicht auf den Fersen und konnte nicht rechtzeitig blinken. Also fuhr er auf die Haltebucht der Bushaltestelle und blieb dort eine Weile stehen. Sah die Kirche und schaute sie lange an.
Verfluchter Mist.
Dann wendete er und folgte der verschlungenen Straße zur Küste. »Das letzte Haus, es ist weiß, mit einer Glasveranda über zwei Etagen, du kannst es gar nicht verfehlen.«
Natürlich war es ein hinreißendes Haus. Schöne Zwanzigerjahrearchitektur, gut gepflegt. Und dann die Lage mit dem geschlossenen Birkenhain zum Meer hinunter, lichtgrün, glitzerndes Wasser.
Verfluchter Mist.
Er bremste auf dem Hofplatz, neben einem klapprigen alten Saab, der ihn tröstete. Im nächsten Moment entdeckte er Klara, die aus dem Haus stürmte, die Treppe hinunter. Sie geht nicht, dachte er. Sie fliegt.
Sie blieben lange ineinander verschlungen stehen. Als er sie schließlich küsste, wusste er, dass das Märchen Recht hatte, der Kuss des Prinzen würde die Schatten besiegen. Seine eigenen und ihre.
»Sie müssen ja schnell gefahren sein«, sagte eine Stimme hinter ihm, und ohne Klara loszulassen, drehte er sich um und blickte in zwei große graue Augen unter schweren Augenlidern in einem fein geschnittenen Gesicht. Sie war sonnengebräunt, die braune Haut stand in eigentümlichem Kontrast zu dem Silberhaar im Pagenschnitt.
Verfluchter Mist, dachte er und sagte es dann:
»Sie sind genauso schön, wie die Gerüchte es behaupten.«
Sie lachte, errötete ein wenig, sagte:
»Ich weiß nicht, welche Gerüchte Sie gehört haben, aber das haben Sie nett gesagt.«
Dann kam wie immer bei Müttern das Gespräch aufs Essen, sie hatten ihn noch nicht so frühzeitig erwartet, Hans und Sofia waren zum Fischen unterwegs, sie wollten ihm frischen Hering vorsetzen.
Jonas unterbrach sie:
»Ich habe unterwegs was gegessen. Aber ein Kaffee wäre nicht schlecht.«
»Ich setze die Kaffeemaschine in Gang«, sagte Kerstin. »Ihr könnt ja inzwischen das Gepäck reinbringen.«
Aber Klara und Jonas wechselten wortlos einen Blick und liefen dann gemeinsam durch den Birkenhain zum Meer. Rasch zog sie ihn mit sich zwischen die Felsen ihrer Kindheit, wo sie beide sich ihrer Kleider entledigten und das taten, wonach sie sich seit mehr als einer Woche gesehnt hatten. Nur die wilden Stiefmütterchen in den Felsenspalten schauten ihnen zu.
Anschließend schwammen sie, das Wasser war überraschend kalt.
»Wir haben hier keinen Golfstrom«, sagte Klara.
»Jetzt wird deine Mutter unruhig werden«, sagte er.
»Nein, sie kann die Leute ganz gut in Ruhe lassen.«
Also ließen sie sich von der Sonne trocknen, bevor sie sich wieder anzogen und zurück zum Haus gingen. Kerstin hatte in der Fliederbeerlaube gedeckt, es lagen sieben verschiedene Kekssorten auf einem Kuchenteller, wie bei jeder guten Hausfrau, dachte er erleichtert.
»Was sagt man in so einem Moment«, fragte Kerstin lachend. »Willkommen in der Familie, ist das richtig so?«
»Sagen Sie lieber, wie Sie sich fühlen«, erwiderte Jonas, der jetzt sicher und siegesgewiss war.
»Gern«, sagte Kerstin. »Ich freue mich so sehr, dass es nicht ganz gescheit ist.«
»Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Nein, aber ich kenne Klara. Und ich habe Klara noch nie so glücklich gesehen.«
»Aber Mama, nun werde nicht gleich sentimental.«
Klaras Ton war sanft und neckend. Es gab keine Spannung zwischen den beiden Frauen, dachte Jonas. Nicht hier, nicht jetzt.
Sie brachten Jonas‹ Tasche in Klaras altes Jugendzimmer, eine der Glasveranden. In der Mitte der Längswand stand ein breites Doppelbett, und als Jonas überrascht guckte, sagte Kerstin:
»Das hatten wir auf dem Dachboden, es ist alt und knarrt ein wenig.«
»Wir haben umgeräumt«, erklärte Klara.
Ein paar Stunden später konnten sie Hans Horners Boot sehen, nicht viel mehr als ein Kahn mit einem einfachen Sprietsegel, das an der Brücke anlegte. Die Zehnjährige sprang geschmeidig an Land und machte das Boot fest, sicher in Armen und Beinen. Ihr schien die Sonne direkt ins Gesicht, als sie sich vom Poller erhob und einen spähenden Blick zum Haus hinüberwarf. Jonas holte tief Luft:
»Mein Gott, wie ähnlich sie dir ist, Klara.«
»Ja, im Guten wie im Schlechten«, stimmte Klara zu. »Jonas, sie ist ziemlich irritiert wegen uns beiden, weil wir heiraten wollen.«
»Das ist doch klar. Ich bin auf Abweisung gefasst.«
Jetzt konnten sie Hans Horner im Flur hören.
»Jonas.«
Hand in Hand mit Klara ging Jonas hinaus, um ihn zu begrüßen und spürte eine Welle der Freude, als Horner ihn umarmte. Mit ihm werde ich keine Schwierigkeiten haben, dachte er.
Sofia trödelte, Kerstin rief sie, Hans meinte leise, dass das wohl nicht so einfach werde, und Jonas nickte, lächelte und konnte noch schnell sagen, jetzt sei es am wichtigsten, sie beide in Ruhe zu lassen.
Dann kam sie herein, alle Stacheln ausgefahren. Sie war zart, fast durchscheinend, wie ein zerfließendes Wesen in einem Traum, dachte Jonas, schwieg aber. Sie war eine Zehnjährige in einer schwierigen Situation.
»Hallo«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie ergriff sie nicht, sondern legte ihre Hände auf den Rücken und sah ihn lange trotzig an. Dann sagte sie:
»Du siehst aber nicht besonders aus.«
»Daran kann ich nichts ändern«, sagte er. »Du dagegen bist schön wie eine Elfe.«
»Daran kann ich auch nichts ändern.« Ihre Stimme war ebenso feindlich wie zuvor, aber sie sah zufrieden aus. Dann konzentrierte sie sich und sagte:
»Vor dem Essen mit dem ganzen Gequatsche wollte ich dir noch was Wichtiges sagen. Du wirst nie mein Vater werden.«
»Aber Sofia, ich habe dir doch erklärt, dass Jonas … nicht den Platz von Hans einnehmen wird«, warf Klara nervös ein.
»Klara.«
Jonas‹ Stimme klang hart, und Sofia lachte.
»Ach, hast du es auch schon gemerkt«, sagte sie. »Dass Klara ziemlich doof ist und man ihr deutlich die Meinung sagen muss. Das ist der Fehler bei Kerstin und Hans, dass sie das beide nicht können.«
Mein Gott, dachte Jonas, warum haben sie gesagt, sie wäre kindlich für ihr Alter. Aber Sofia fuhr unbeirrt fort:
»Hans ist mein Großvater, nicht mein Vater. Mein Papa ist ein berühmter Maler, von dem zu reden sich niemand hier im Haus traut. Er ist tot, aber ich spreche jeden Tag mit ihm.«
Jonas konnte die Stille im Zimmer hören, sie war greifbar und so voller Ängste, dass es wehtat. Aber er konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf das Kind und sagte:
»Das ist ja sonderbar, Sofia. Weißt du, mir geht es genauso. Mein Papa verschwand noch vor meiner Geburt, und niemand in meiner Familie hat seither auch nur ein Wort über ihn verloren. Dennoch wusste ich genau, wer er war, dass es ihm nicht gut ging und dass er allein draußen im Wald gestorben ist. Ich konnte auch mit ihm reden, manchmal konnte ich ihn trösten, aber meistens hat er mit mir gesprochen.«
»Was hat er denn gesagt?«
»Nun ja, meistens so was, was Väter immer zu ihren Kindern sagen, dass sie artig sein sollen, fleißig und so weiter.«
»Das macht meiner auch«, flüsterte Sofia überrascht. Sie war blass, ihre Lippen zitterten, als sie fortfahren wollte. Doch dann zögerte sie.
»Nein«, flüsterte sie, »nein, ich traue mich nicht.«
»Dann lass es doch lieber«, meinte Jonas.
»Es gibt eine Schlucht zwischen zwei Bergen, schrecklich tief, weißt du? Wenn man springt, kann man in die Tiefe stürzen.«
»Und was passiert dann?«
»Es gibt einen nicht mehr. Und jetzt sind es zwei, die jeweils auf einer Seite auf der Bergspitze stehen und sich zurufen können.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Jonas, und seine Stimme klang nachdenklich und ernsthaft. »Meinst du, dass ich springen kann? Ich bin ja schwerer als du, aber dafür habe ich längere Beine.«
»Nützt das was?«
»Doch, ich denke schon. Denn ich würde ja nicht springen, wenn ich den anderen nicht mitbekäme.«
Sofia war jetzt so ängstlich, dass Jonas ihr sagte:
»Wir warten ab, Sofia. Wir denken gründlich darüber nach. Erst wenn wir lange genug darüber nachgedacht haben, tun wir es.«
»Du tust es, ich nicht.«
»In Ordnung, ich springe.«
Plötzlich ging sie auf ihn zu und starrte ihn lange an. Jonas setzte sich auf die Treppe und erwiderte ihren Blick, lange Zeit.
»Ich glaube, ich muss eine Weile schlafen«, sagte Sofia schließlich.
»Willst du mit mir schlafen gehen?«
Jonas nickte.
»Wenn ich schlafe, erfahre ich viel, weißt du. Und wenn du neben mir liegst und auch schläfst, dann kann ich sagen, ob …«
»Ob du mich magst?«
»Ja.«
Er wandte sich Kerstin zu und sagte ihr, sie solle sich nicht beunruhigen.
»Essen Sie ruhig inzwischen, wie geplant.«
Sie bewegten sich alle drei wie Puppen, als sie in die Küche gingen, und plötzlich taten sie Jonas Leid, und er sagte zu dem Mädchen:
»Geh dich schon mal waschen, Sofia. Dann machen wir einen Mittagsschlaf.«
Als das Mädchen die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, blieb er in der Küchentür stehen und sagte schnell, dass er die Situation unter Kontrolle habe und sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Kerstin brachte aber kein Wort heraus, Hans nickte, während Klaras Augen groß und dunkel vor Angst waren.
»Klara, du kannst mir vertrauen.«
Sie entspannte sich ein wenig.
Die Zehnjährige kroch dicht neben Jonas ins Bett und flüsterte:
»Man kann so gut denken, wenn man schläft.«
»Nicht nur das, man bekommt auch neue Ideen.«
Im Wohnzimmer stand der große Tisch, gedeckt mit den schönsten Gläsern, dem guten Geschirr, Kerzen und Blumen. Später, dachte Kerstin. Sie aßen stehend an der Küchenanrichte, kalte Frikadellen, ein Butterbrot. Niemand sagte ein Wort, alle drei hatten den gleichen Gedanken: Woher konnte sie das wissen? Sie hatte nie nach ihrem Vater gefragt, keinerlei Neugierde gezeigt. Sie hatten sich auf den Tag vorbereitet, an dem die Fragen kommen würden, abgesprochen, die Wahrheit zu sagen. Eine kurze Liebesgeschichte, dann die Krankheit, zuerst der Wahnsinn und dann Krebs. Und danach sein Tod, bevor Sofia ein Jahr alt war.
Im Laufe des letzten Jahres waren sie häufiger über seinen Namen gestolpert. Johannes Anderssons Durchbruch als Maler war erst lange nach seinem Tod gekommen. Vor ein paar Jahren hatte es eine Gedächtnisausstellung gegeben, Kerstin und Klara hatten beide die Besprechungen gelesen und gedacht, dass man über die Toten doch immer so freundlich rede.
Kerstin hatte überlegt, nach Stockholm zu fahren, um sich die Ausstellung anzusehen, hatte sich die Sache aber noch einmal überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass sie das doch nicht wolle. Klara hatte die gleiche Idee gehabt, sich aber nicht getraut.
Natürlich hätten wir über ihn reden sollen, dachte Kerstin, natürlich hätten wir Sofia mit zu der Ausstellung nehmen sollen. Hans nahm ein Bier, Klara flüsterte, dass sie gern einen Whisky hätte. Er zögerte eine Weile, holte dann die Flasche und nahm auch selbst einen.
Der Alkohol gab Klara Mut, sie schlich sich zur Veranda, spähte durch die Tür, kam zurück und sagte verblüfft:
»Sie schlafen. Alle beide. Ruhig, als wenn nichts gewesen wäre.«
»Ist es vielleicht ja auch nicht«, sagte Hans Horner. »Jedenfalls werden Sofia und Jonas Freunde werden, wenn das vorbei ist.«
Sie stellten das Essen in den Kühlschrank und sprachen sich ab, die Kartoffeln zum Essen zu braten. Dann konnten sie nur noch warten; sie setzten sich ins Wohnzimmer, die Ohren zur Verandatür gerichtet. Es dauerte eine Stunde, bis eine klare Mädchenstimme fragte:
»Jonas, hast du geträumt?«
»Ich glaube schon. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber wir sind gesprungen, und wir haben es geschafft.«
»Genau das Gleiche habe ich auch geträumt. Ach, Jonas, ich habe solchen Hunger. Wenn sie jetzt alles schon aufgegessen haben?«
Kerstin erhob sich aus dem Sessel und ging in die Küche, dicht gefolgt von Klara. »Ich brate das Fleisch, du kannst dich um die Kartoffeln kümmern. Der Salat ist fertig, die Erdbeeren gewaschen. Aber wir müssen frische Sahne schlagen.«