Die Unterhaltung bei Tisch verlief stockend. Fäden wurden gesponnen und aufgenommen, doch immer nur für kurze Zeit. Keiner hielt stand.
»Ihr habt nie erzählt, wie ihr euch kennen gelernt habt.«
Das war Hans, der diesen Faden auswarf, und Jonas, der sich schuldig an der gespannten Stimmung fühlte, überwand sich und beschloss, sein Bestes zu tun. Er erzählte, wie er in seiner ersten Vorlesung in der medizinischen Fakultät gesessen und große Probleme gehabt habe, etwas mitzubekommen. Ein wippender blonder Zopf vor ihm hatte ihn abgelenkt.
»Ich kann immer noch nicht begreifen, was mich an diesem Zopf so angezogen hat«, sagte er und brachte damit alle zum Lachen. »Aber als sie sich endlich umdrehte, wusste ich, dass es um mich geschehen war. Es war eine hoffnungslose Liebe, es waren schreckliche Monate, in denen ich unglaublich froh war, sie zu sehen und gleichzeitig vollkommen verzweifelt. Alle Jungs umschwärmten sie, und ich, ich war so unbedeutend.«
»Nein, Jonas«, protestierte Klara. »Das stimmt nicht, kein Wort. Wir wussten beide … Und außerdem waren um dich herum auch nicht gerade wenige Mädchen.«
»Und dennoch wurde es in all den Jahren nichts mit euch?«, fragte Kerstin.
»Aber Mama, du weißt doch, dass ich so viel zu verbergen habe.«
»Bin ich es, die du verbergen musst?« Sofias Stimme klang plötzlich wieder so streng wie am Nachmittag.
»Nein«, antwortete Jonas. »Klara hat mir beim ersten Mal, als wir allein waren, von dir erzählt. Dass es sich so lange hingezogen hat, das hat andere Gründe. Mich hat es erschreckt, dass Klara so tüchtig war, so verflucht kompetent. Sofia, wenn du meinst, deine Mama wäre dumm, dann solltest du einmal eine Nacht bei ihr sein, wenn sie Dienst hat. Mein Gott, Klara, erinnerst du dich an die Unglücksnacht damals?«
Klara nickte stolz und dankbar. Jonas erzählte von dem Bereitschaftsdienst, als fünf Autos auf der E6 zusammengestoßen waren und zwei tote und vier schwer verletzte Menschen in die Unfallaufnahme von Uddevalla gebracht wurden. Jonas und zwei andere Kollegen hatten getan, was sie konnten, während eine Krankenschwester den Oberarzt in der Chirurgie suchte.
»Sie konnte ihn nicht erreichen, also übernahm Klara das Kommando. Das waren reichlich komplizierte Geschichten, aber Klara operierte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ich habe ihr assistiert, voller Angst wie ein Hase und grün vor Neid. Als der Chirurg endlich auftauchte, meinte er, er hätte es auch nicht besser machen können, und alles sprach dafür, dass die Verletzten überleben würden.«
»Und da hast du gesagt, das sei einzig und allein Doktor Horners Verdienst.«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur noch an die Stunden danach, als ich versucht habe, einzuschlafen, es aber nicht konnte. Da habe ich beschlossen, nicht Chirurg zu werden, weil dessen Verantwortung so unmenschlich groß ist.«
»Das wusste ich gar nicht«, sagte Klara überrascht. »Du hattest doch schon immer einen Hang zur Psychologie. Du hast oft ganze Vorlesungen über Freud und Jung gehalten.«
Sie lachten, aber der Boden brannte ihnen unter den Füßen, weshalb Jonas die Geschichte abkürzte.
»Erst als wir uns in Göteborg wieder trafen und alles zwischen uns einfach stimmte, da traute ich mich, sie zu fragen. Und ich wäre vor Glück fast die Treppen hinuntergefallen, als sie ja sagte.«
Jetzt konnten alle mitlachen. Hans erhob sein Weinglas und sagte, dass Klaras Familie fast ebenso glücklich sei wie Klara, dass Jonas sich da auf der Treppe getraut hatte, die Frage zu stellen. Und Sofia nahm an dem Willkommenstrunk teil, schaute Klara jedoch lange über den aufsteigenden Blasen in ihrem Limonadenglas an.
»Das klingt ja, als ob du auch aus zwei Menschen bestehst«, sagte sie. »Warum bist du zu Hause denn so kindisch, wenn du in deinem Job so tüchtig bist?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Klara.
»Ich glaube, alle Menschen werden kindisch, wenn sie ihre Eltern treffen«, sagte Kerstin und erzählte, wie jämmerlich sie selbst sich verhielt, wenn sie sich mit ihrem Vater traf. Obwohl er doch alt war und niemand etwas tat.
Jonas sah sie neugierig an und wandte sich dann Sofia zu, als er sagte, alle Menschen hätten verschiedene Personen in sich, und es sei wichtig, davon zu wissen. Und sie zu akzeptieren, wie sie nun einmal waren.
Sofia machte große Augen, sagte aber nichts, und Jonas fuhr fort:
»Ich finde es außerdem gut, wenn man darauf achtet, dass sie einander kennen lernen, sich Hallo sagen und so, wenn sie sich treffen«, erklärte er und zwinkerte Sofia zu.
»Aber Erwachsene machen das doch nicht«, widersprach Sofia.
»Nein, vielen ist die eine oder andere Figur peinlich, sie möchten sie dann am liebsten im Dunkel des Vergessens verstecken.«
»Machst du das auch, Oma?«
Kerstin sah verblüfft das Kind an, überlegte:
»Das kann schon sein, Sofia. Aber ich übe immer wieder, diese Personen anzunehmen. Ich kann nicht sagen, dass ich das kleine Kind mag, das da dem alten Opa um die Beine springt und versucht, es ihm recht zu machen. Aber ich weiß ja, dass es das Kind gibt. Und ich kann es verstehen.«
»Das meine ich nicht«, entgegnete Sofia. »Ich meine diese Hexe, die manchmal so schrecklich flucht. Und die Wahrheit sagt.«
Es ging ein Engel durch den Raum, während Kerstin und Sofia einander ansahen. Aber schließlich begann Hans zu lachen. Und nach einer Weile stimmte auch Klara ein.
»Aber Mama. Jetzt weiß ich, wie du das schaffst. Du redest beispielsweise mit einem Vater, der Probleme mit seinem Kind hat. Und dann hörst du dir alle seine blöden Erziehungsregeln an, versuchst hier und da etwas geradezurücken und ihn dazu zu bringen, einige Veränderungen zu versprechen. Und wenn er gegangen ist, dann sagst du klar und deutlich, an niemanden gerichtet: ›Am liebsten würde ich diesen beschissenen Kerl beim Schlafittchen packen und ihm seine ganzen Prinzipien in den Arsch stecken.‹«
»Tue ich das?«
»Du kannst dich noch schlimmer ausdrücken«, bestätigte Hans. »Ich werde nie vergessen, wie wir meine Tante in Skåne besucht haben, und du warst so nett und lieb, dass ich dich verachtet habe. Aber auf dem Rückweg im Auto zum Hotel hast du gesagt: ›Bei allen guten Geistern, ich glaube, diese Scheißnazihure hat es mit dem Satan getrieben!‹«
»Wirklich?«
»Aber Kerstin, du erinnerst dich doch noch, der Taxifahrer hat geglaubt, du wärst betrunken.«
»Ja, das weiß ich noch. Und dass du was gesagt hast, was ich nicht verstanden habe.«
»Ich habe gesagt, wenn jemand schon mal die Wahrheit sagt, dann denkt man gleich, er oder sie wäre besoffen.«
»Oder verrückt«, fügte Jonas hinzu.
Es wurde spät, alle waren müde.
Als Sofia gute Nacht sagte, flüsterte sie Jonas zu, sie sei sicher, dass sie bereits gesprungen sei.
»Morgen ganz früh bist du dran.«
»Okay«, sagte er, und Sofia ging in ihr Zimmer hinauf. Auf halbem Weg drehte sie sich jedoch noch einmal um, kam zurück und gab Jonas die Hand. Sie war kalt und feucht vom Schweiß.