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Klara kam allein im Auto zurück. Die anderen waren zu Åke gefahren, um sich dessen Boot auszuleihen, sagte sie. Hans hatte ihn am Tag zuvor angerufen. Horner wollte Jonas mit auf eine Segeltour in den äußeren Schärengürtel und nach Åland mitnehmen.

»Wer ist Åke?«

»Erinnerst du dich an den Polizisten, der uns damals geholfen hat? Seitdem sind wir miteinander befreundet.«

Sofia und Jonas waren schnell fertig geworden, jetzt waren sie verschwitzt und schmutzig.

»Uns fehlt nur noch der Tisch im Wohnzimmer«, sagte Jonas. »Vielleicht kannst du ihn mit weißer Decke und Sektgläsern decken.«

»Natürlich. Darf ich auf die Veranda?«

»Nein, möglichst nicht. Ich möchte gern, dass Sofia dabei ist, wenn du hineingehst.«

Die Verandatür war verschlossen. Der Vorhang war vorgezogen. Klara akzeptierte die Antwort und sagte:

»Dann geht jetzt erst mal duschen. Und zieht euch was Sauberes an.«

Gut, dass es Sekt gab, dachte sie, als sie die langstieligen Gläser vorsichtig aus dem guten Schrank herausholte. Sie hatte einen trockenen Mund und unangenehmes Herzklopfen. Aber der Boden lag bewegungslos unter ihren Füßen, und sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass sie sich auf Jonas verlassen konnte.

Das Kind zeichnete, so viel hatte sie verstanden. Heimlich. Und jetzt sollte das Heimliche der Welt gezeigt werden, und plötzlich begriff Klara, was das bedeutete.

Meine kleine Sofia. Wirst du das schaffen?

Aber das Mädchen hatte in keiner Weise ängstlich ausgesehen, als sie die Treppe zum Badezimmer hinaufgelaufen war. Wenn ich das gewesen wäre, wenn ich … wenn alles aufgedeckt worden wäre, ich wäre auf der Stelle tot umgefallen. Oder in den Berg geflohen.

 

Klara blieb lange mit dem letzten Glas in der Hand stehen, ihre Hand zitterte. Als Jonas zurückkam, nahm er ihr das Glas ab; er stellte es auf den Tisch und küsste sie:

»Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest.«

»Aber Jonas, das wird ja eine öffentliche … ja, als ob man sich entblößt.«

»Nein. Sofia hat nichts zu verbergen.«

Die Worte drangen in sie ein und taten weh. Genau darum geht es, dachte sie. Genau darum geht es immer wieder.

Jetzt kam Sofia die Treppe heruntergehüpft, sie trug das einzige Kleid, das sie besaß, mit blauen Blumen auf weißem Grund, mit weitem Rock.

»Kannst du mir hinten die Schleife binden?«

Mit unsicheren Händen band Klara eine große Rosette.

»Meine Güte, was hast du für Angst«, sagte Sofia, drehte sich um und umarmte Klara.

»Du bist ein richtiger Angsthase«, sagte sie. »Es kann doch nicht mehr passieren, als dass sie alles schlecht finden. Und du weißt, niemand würde das sagen, weil doch alle nett zu Kindern sind.«

Jonas lachte, und dann nahm er beide an die Hand und öffnete die Verandatür. Klara ging feierlich wie in einer Kirche direkt auf die größte Zeichnung zu, die genau gegenüber dem Eingang an die Fensterscheibe geklebt war. Dort blieb sie stehen, wie sie vor langer Zeit in einer Ausstellung in Uppsala gestanden hatte. Und genau wie damals dachte sie, dass das hier ihre Welt sei, so sah sie aus, so strahlend reich und anders war sie.

Dann dachte sie nicht mehr, und sie war dort, in der Zeichnung. Wie ein verzaubertes Kind ging sie zwischen den hohen Bergen auf dem Weg zum Meer, das blau in der Sonne glänzte, weit hinten. Alles hatte eine Stimme, die Felsen und die Bäume sangen für sie von Elfen und Engeln, von Zuversicht und Gott. Es war ein Gesang ohne Worte, es gab nichts zu interpretieren oder zu verstehen.

Langsam fühlte sie Jonas‹ Arm um ihre Schultern, drehte sich zu ihm und flüsterte:

»Genauso war es, Jonas.«

»Ich glaube, ich weiß es.«

Sofia sah die beiden an. Zärtlichkeit war in ihrem Blick:

»Kleine Mama«, sagte sie.

Nur in ganz außergewöhnlichen Augenblicken wurde Klara Mama genannt. Jetzt kamen ihr die Tränen; Jonas wischte sie ab und schickte Sofia, Küchenpapier zu holen. Dann trockneten sie die Tränen gemeinsam, und Klara weinte. Hemmungslos.

»Was sollen wir machen, Jonas?«

»Wir sollen uns freuen.«

»Aber bald kommen die anderen zurück, und sie kann doch nicht so aussehen.«

Jetzt musste selbst Klara lächeln.

»Keine Sorge. Ich gehe ins Bad und wasch mir das Gesicht mit kaltem Wasser.«

Aber als Klara ihr Gesicht im Badezimmerspiegel erblickte, kamen die Tränen zurück, und Jonas sagte, sie solle sich am besten eine Weile hinlegen. Er brachte sie in Sofias Zimmer, half ihr ins Bett und bat das Mädchen, noch eine Decke zu holen.

»Nach einer Weile wird sie frieren«, sagte er.

»Eine Tablette«, bat Klara, aber Jonas schüttelte den Kopf.

»Es ist gut, dass du weinst. Das ist das Beste, was dir seit langem passiert ist. Außer der Tatsache, dass du mich kennen gelernt hast, natürlich.«

Darüber konnten sie alle drei lachen.

»Du musst allein runtergehen und die Gäste empfangen. Wir kommen später.«

Sofia zögerte:

»Ich kann die Flasche nicht öffnen.«

»Bitte Hans darum.«

»Okay.«

 

Nach einer halben Stunde kam Jonas allein herunter, Klara schlief, erklärte er. Als er sah, dass Sofia alle Erdnüsse aufgegessen hatte, zischte er:

»Dududu!«

»Wir haben noch mehr«, sagte das Mädchen und lief in die Küche.

»Das war schon merkwürdig, dass Klara so geweint hat«, sagte sie, als sie zurückkam. »Verstehst du, warum?«

»Ich glaube schon. Wenn das hier vorbei ist, werde ich es dir erklären.«

»Ich weiß schon. Sie hat so eine Riesenangst vor der verborgenen Welt. Und deshalb kann sie so schlecht mit mir reden.«

»Sofia, das ist aber ein Geheimnis.«

»Das kann wohl kein Geheimnis sein, wenn du es schon gewusst hast.«

»Doch, denn nur du und ich wissen davon. Und so soll es bleiben, bis wir mit ihr darüber reden können.«

»Versprochen«, sagte das Mädchen.

 

Durch die Lücken zwischen den Zeichnungen auf den Verandafenstern konnten sie sehen, wie das Boot an der Brücke anlegte, ein Maxi 84.

»Nicht schlecht«, sagte Jonas. »Ihr müsst gut bezahlte Polizisten hier an der Küste haben.«

»Er ist inzwischen mindestens Kommissar«, erklärte Sofia. In ihrer Stimme klang ein Ton der Zurechtweisung mit, und Jonas sah ein, dass er den verdient hatte. Aber er dachte gleichzeitig, dass dieses Kind einen immer wieder überraschen konnte.

»Du, Jonas, lass uns den Pfarrer anrufen. Ich mag ihn gern. Aber du musst mit ihm sprechen.«

»Bist du schüchtern?«

»Ja.«

Während das Boot anlegte, rief Jonas Karl Erik Holmgren an, der in seinem Büro saß und Formulare ausfüllte. Er freute sich über die Einladung und versprach, etwas später zu kommen. Dann füllte sich das Haus mit Stimmen, und Jonas gab Åke und seiner Frau die Hand. Hans öffnete die Champagnerflasche mit genau dem richtigen feierlichen Knall.

»Du musst die Begrüßungsrede halten«, sagte Jonas zu Sofia.

»Ich, ich bin doch erst zehn.«

»Sofia.«

»Na, okay. Dann eröffne ich hiermit meine erste Kunstausstellung. Es war Jonas‹ Idee, also müsst ihr euch bei ihm beschweren, wenn ihr enttäuscht seid. Das war die Rede.«

»Prima«, sagte Jonas, er öffnete die Türen zur Veranda und verbeugte sich feierlich:

»Willkommen!«

 

Åke und Ragnhild traten zuerst ein, gingen umher und verstummten. Dann kam Hans. Bleich und verkniffen betrachtete er lange jedes einzelne Bild.

»Gefallen sie dir?«

»Gefallen ist nicht das richtige Wort.«

»Aber warum siehst du so traurig aus?«

Er nahm das Mädchen auf den Arm, wie früher, als sie noch klein war, und versuchte es ihr zu erklären:

»Man hat ein Kind, ein kleines Mädchen. Und plötzlich macht sie einen Sprung nach vorn, von einem weg. Oder, ja … eher an einem vorbei. Das ist gleichzeitig schön und traurig, Sofia.«

»Du bist vielleicht dumm. Nie, niemals werde ich von dir wegspringen.«

Kerstin hingegen saß in dem alten Korbsessel in der Verandaecke, ihre Augen waren größer als je zuvor. Sie weinte, nicht lautstark wie Klara, nein, still und leise. Hans ging zu ihr und setzte ihr Sofia auf den Schoß:

»Das sind Freudentränen, Sofia.«

»Ich weiß, Oma.«

Sofia hatte Karl Erik Holmgren entdeckt und sprang davon, um ihn zu begrüßen. Der Pfarrer sah elegant aus, kam in seinem Talar; er nippte nur an seinem Glas, musste noch zu einer Beerdigung.

»Diese Zeichnung hier ist für Sie«, sagte Sofia. »Sie kriegen sie, obwohl Jonas gesagt hat, ich dürfe keine verkaufen oder verschenken. Aber Sie sollen sie haben.«

Karl Erik betrachtete lange die Zeichnung, bevor er Gott in dem strahlenden Licht unter dem blauen Gewölbe seiner Kirche lachen sah.

»Also hat noch einer das gehört«, sagte er so leise, dass nur Sofia es verstehen konnte.