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Erst am späten Nachmittag brachen die Gäste auf. Jonas bot sich an, Åke und seine Frau nach Hause zu fahren, aber Kerstin ließ nicht mit sich reden:

»Nein, ich möchte, dass du hierbleibst. Außerdem bin ich die Einzige, die keinen Wein getrunken hat, und das ist gut so, falls die Polizei der Polizei in die Hände fällt.«

Klara war während des Festes aufgewacht, hatte die Tränenspuren überpudert, so gut es ging, und alle begrüßt. Sie war blass und still gewesen, aber als Sofia sie umarmen wollte, hatte sie abgewehrt:

»Nicht jetzt.«

Sie hatte mit dem Pfarrer gesprochen, ihm für seine Predigt gedankt und sich getraut zu fragen:

»Was denken Sie, was das vorstellen soll?«

Ihre Hand hatte auf die Zeichnungen gezeigt, aber sie selbst schaute sie nicht an.

Karl Erik brauchte gar nicht nachzudenken:

»Gottes Welt«, sagte er.

 

Als der Abend kam, waren alle in Horners Haus müde. Sie aßen in der Küche, die Reste vom Vortag. Hans schaute Kerstin unruhig an, sie konnte kaum noch die Augen offen halten.

»Es ist zwar erst acht, aber ich glaube, Kerstin und ich gehen ins Bett.«

»Wir gehen alle ins Bett«, sagte Jonas, aber Sofia protestierte, sie wollte reden. Also gingen Jonas und Klara mit dem Mädchen auf die Veranda und legten sich gemeinsam in das große Doppelbett. Klara spürte die Anforderung und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie sie akzeptierte.

Sie würde erzählen.

Sie begann mit Jans Tod und fuhr dann mit ihrer eigenen Krankheit fort.

»Ich hatte solche Angst, Sofia.«

Dann kam sie zu dem Sommer, den sie allein verbrachte, als sie in der Kunstausstellung in Uppsala Johannes‹ Gemälde gesehen hatte.

»Das war einfach unglaublich.«

Sie erzählte ausführlich, alles, was sie noch von Johannes wusste, die Liebe, seine Bude in Vaksala, die Scheune am Waldrand.

»Er wurde immer kränker, außerdem trank er unmäßig. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass er Alkoholiker war.«

»Wie mein Vater«, sagte Jonas.

Sofia weinte ein bisschen, aber sie wollte mehr hören, alle Details über Johannes, wie er aussah, wie er sprach.

»Seine Stimme war tief und sehr schön«, sagte Klara.

»Ich weiß.«

»Er wagte sich zu weit hinein, Sofia. Zum Schluss fand er nicht mehr den Weg zurück zu der äußeren, der normalen Wirklichkeit.«

Sofia dachte an das, was Kerstin sie gelehrt hatte, und sagte:

»Er konnte sie nicht auseinander halten.«

»Ja, das stimmt, das konnte er nicht mehr. Und schließlich musste ich einsehen, dass nicht einmal ich wirklich für ihn existierte, ich war eine Phantasie, die er geschaffen hatte. Er musste ins Krankenhaus, Sofia, es war schrecklich, aber es musste sein. Und da entdeckten sie, dass er Leberkrebs hatte, eine Krankheit, die Alkoholiker oft kriegen. Und dann …«

»Und dann?«

»Dann merkte ich, dass ich schwanger war. Ich habe mich gefreut, Sofia, obwohl ich erst achtzehn war und noch keine Ausbildung hatte. Ich habe dann alles geplant, wie ich nach Stockholm gehen würde, mir irgendeinen Job suchen, eine billige Einzimmerwohnung nehmen und dich in die Krippe geben würde. Aber dann kam Kerstin mit ihrem Vorschlag, du weißt, ich hatte gerade einen Platz in der medizinischen Fakultät gekriegt.«

»Das war ja nur gut so«, stimmte Sofia zu. »Ich hätte nicht gern in Stockholm gewohnt und wäre den ganzen Tag im Kindergarten gewesen. Und dann wärst du keine Ärztin geworden.«

Zum ersten Mal konnte Klara lachen:

»Und ich hatte Angst, du würdest mir das vorwerfen«, sagte sie.

»Warum hast du immer so schnell diese Riesenangst? Und warum sprichst du dann nicht lieber darüber, fragst und so, damit du weißt, was ich denke?«

»Ich weiß es nicht, Sofia. Obwohl ich heute eine Ahnung bekommen habe … dass es daran liegt, weil ich so viel zu verbergen habe. Und das Schlimme ist, dass ich nicht so recht weiß, was ich eigentlich verberge. Aber das hängt mit dem zusammen, was ich dir erzählt habe, mit der Zeit, als ich verrückt war und in den Berg gegangen bin.«

»Du hast was im Berg versteckt?«

»Ich glaube, das stimmt.«

»Aber dann musst du nur wieder zurückgehen und es suchen.«

»Sofia, das traue ich mich nicht. Nicht dorthin. Alles, aber nicht dorthin.«

Sie schrie. Sofia bemerkte nüchtern, sie solle leise sein, damit sie Hans und Kerstin nicht wecke. Jonas sagte, dass Klara es irgendwann, sicher bald, wagen würde. Aber es müsste sie jemand dabei begleiten.

»Das bist du natürlich, Jonas, du gehst mit ihr.«

»Nein. Ich kann das nicht, Sofia. Man ist nicht stark genug, wenn man denjenigen, den man begleitet, zu gern mag. Aber ich kenne eine Frau, die solche Reisen schon oft gemacht hat und immer gemeinsam mit den Verlaufenen den Weg zurück gefunden hat.«

»Das ist merkwürdig«, sagte Sofia, und dann blieben sie eine ganze Weile still liegen. Schließlich sagte Klara, ihr sei klar geworden, dass Sofia die Begabung ihres Vaters geerbt habe.

»Talent ist ja etwas, was man erben kann«, sagte sie. »Aber dass du derart ähnlich wie er malst, dass ihr die gleiche Technik habt, das ist schon sonderbar.«

»Nein, das ist überhaupt nicht merkwürdig. Denn er hat mir das ja beigebracht.«

Eifrig erzählte Sofia von dem Foto von Johannes‹ Gemälde, das sie in Klaras Zimmer gefunden und mitgenommen hatte und dann in ihrem heimlichen Zimmer hinterm Spiegel versteckte. Und wie sie es hervorgeholt, lange angesehen und dann mit Johannes gesprochen hatte, der sie in den Farben unterrichtete, und dass vorn die Dinge groß und hinten klein gemalt wurden.

»Über die Perspektive?«

»Genau, so heißt das. Er hat noch viel mehr erzählt, er hat mir beigebracht, wie man sieht. Die Farben zum Beispiel, wie viele tausend Sachen grün sind. Und wann das Rot flach wird. Vom Meer, das seine Farbe vom Himmel kriegt und sie verstärkt, von den Bergen, wie sie ururalte Geheimnisse in sich verbergen, aber dass man sie sehen kann, wenn man sie lange anguckt und dann genauso lange die Augen zumacht. Schließlich malt man sie, wie man sie mit geschlossenen Augen gesehen hat. Ist das nicht toll?«

Klara war stumm vor Verwunderung. Schließlich flüsterte sie:

»So hat er nie mit mir gesprochen.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass er betrunken und krank war. Jetzt ist er tot, gesund, nüchtern und so.«

»Sofia, wie hast du rausgekriegt, wie er heißt?«

»Ich habe mir ja das Bild unter deinem Bett geschnappt. Ich hatte es lange an der Wand in meinem Versteck hängen, ich mochte es so gern. Und als ich sieben oder so war, jedenfalls hatte ich schon lesen gelernt, da habe ich das gleiche Bild in Omas Zeitung gesehen. Auf der ersten Seite. Ich habe die Zeitung mit in mein Versteck genommen und alles gelesen, was da stand, und als ich seinen Namen wusste, konnte ich ihn zum ersten Mal rufen. Er kam sofort und hat mir alles erzählt, das Gleiche, was du heute Abend gesagt hast. Er hat dir gegenüber ein schlechtes Gewissen, Klara, und er nervt mich immer, dass ich lieb zu dir sein soll. Deshalb tut es mir so schrecklich Leid, dass ich das nicht sein kann.«

Klara lag wie eine Salzsäule im Bett, die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber der Arzt in ihr dachte: Das nehme ich ihr nicht ab, das ist töricht und wahnsinnig. Selbst Jonas war verstummt, und es dauerte eine volle Viertelstunde, bis er bemerkte, dass Sofia eingeschlafen war. Vorsichtig trug er sie die Treppe hinauf und legte sie in ihr eigenes Bett.

Sie wachte nicht auf.

Klara wartete mit aufgerissenen Augen auf ihn:

»Nun, Doktor Jonas Nyström, möchte ich gern das Gutachten eines Experten der Psychiatrie hören.«

»Der würde sagen, es handelt sich um Projektion. Und Teilpersönlichkeiten. Aber ich … ja, ich bin mir da nicht so sicher, Klara.«

»Du bist also offen für das Unerklärliche.«

»Wir wissen doch so wenig.«

»Aber zumindest so viel: Ein Toter ist ein Toter ist ein Toter.«

Jonas schwieg, er dachte an seinen eigenen Vater und an die Gespräche, die er mit dem Toten geführt hatte, als er noch ein Kind war. Projektionen, ja. Aber auch etwas, das er verloren hatte und eine nie zugegebene Trauer über den Verlust.

Sie zogen sich aus und gingen ins Bett. Er streichelte sie, es fand sich keine Lust zwischen ihnen, aber Jonas spürte eine große Zärtlichkeit.

 

Am nächsten Morgen suchte Klara Kerstin im Badezimmer auf. Kerstin stellte die Dusche ab und wickelte sich in ein Badelaken, während Klara ihr erzählte, wie Sofia in der Zeitung über Johannes‹ Ausstellung gelesen und sich alles zusammengereimt hatte.

»Also hat alles eine natürliche Erklärung«, sagte Kerstin erleichtert.

»Ja. Und noch was, Mama. Ich habe geglaubt, du hättest das Foto von Johannes‹ Gemälde weggenommen. Deshalb bin ich dir jahrelang böse gewesen.«

»Aber Klara. Du weißt doch, dass ich nie etwas stehle. Oder heimlich wegnehme.«

»Ja. Ich hätte es wissen müssen. Wahrscheinlich wollte ich nicht so weit denken. Verzeih mir.«

 

Nach dem Frühstück wollte Kerstin sich ausruhen. Sofia und Klara sollten die Spuren der Ausstellung und des Fests aufräumen, und Hans und Jonas machten einen Tagesausflug in den Schärengürtel. Horners Augen verloren sich in der Meeresweite, als Jonas ihm erzählte, wie der tote Künstler das Kind malen gelehrt hatte. Er dachte an seine Mutter, die er nie betrauert und immer vermisst hatte.

Schließlich sah er Jonas an und wagte die Frage:

»Glaubst du, dass es möglich ist, Jonas. Dass es die Toten gibt?«

»Ja, aber nicht so buchstäblich wie Sofia es sieht. Sie leben sicher in unserer Psyche in irgendeiner Form weiter. Wie Kräfte, die sich abspalten und eine eigene Gestalt annehmen können.«