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Am nächsten Tag besuchte Jonas Katarina und Anders, zusammen mit Klara. Der Junge freute sich, das sah man daran, wie vertraulich er mit Klara sprach.

»Auf den Kanarischen Inseln habe ich mich wie ein Idiot benommen. Zum Glück warst du mit, denn du hast alles von Anfang an verstanden.«

»Ich hatte mit Doktor Stenström gesprochen.«

Er lachte, das verschlossene Gesicht lebte auf.

»Es ist schön, dich wieder lachen zu hören, Anders. Hast du von Stenström Hilfe bekommen?«

»Ja. Er hat es geschafft, dass ich schließlich doch alles verstanden habe. Und dann ist was Schönes passiert. Ich habe mich mit dem Pfarrer angefreundet.«

»Mit Karl Erik Holmgren?«

»Ja.«

Anders stolperte fast über die Worte, als er erzählte, wie er und Holmgren sich jeden Abend in der Kirche trafen und unterhielten.

»Nichts Anstrengendes oder so wie bei dem Doktor. Meistens reden wir nur darüber, was am Tag passiert ist und was wir denken und so weiter. Er mag das auch, ich meine, er redet nicht so zu mir wie die Erwachsenen meistens, sondern eher wie ein Kumpel.«

»Aber er spricht sicher auch über Gott und so?«

»Nein, er spricht nicht über Gott, sondern darüber, wie wenig wir von allem überhaupt begreifen. Er sagt, Gott sei zu groß, als dass wir ihn verstehen könnten, dass die Menschen, wenn sie über ihn reden, ihn nur verkleinern.«

»Das habe ich auch immer gedacht«, sagte Jonas, und Anders wandte sein Gesicht der Stimme zu und sagte:

»Toll. Kaum zu glauben, weil du doch Arzt bist.«

Klara lachte ärgerlich auf, der Junge verstand es sofort und erklärte trotzig:

»Wir beenden unser Gespräch jeden Abend mit einem Vaterunser.«

»Ich würde gern einen Abend mal mit dabei sein. Meinst du, das wäre möglich?«, fragte Jonas.

»O ja. Er mag dich, er hat mir gestern von dir erzählt und von Sofias vielen Zeichnungen, die du hervorgeholt hast. Er hat eine von ihr gekriegt, er hatte sie mit in der Kirche und hat mir erzählt, was sie darstellt. Aber das darf ich nicht sagen, denn das ist ein Geheimnis.«

 

Katarina rief, der Kaffee sei fertig. Sie setzten sich in ihre Küche, und Jonas sagte, die Küche und das Haus, ja das ganze Pfarrdorf sei schön. Und Anders erzählte, wie das Dorf im 17. Jahrhundert von den Russen niedergebrannt und dann wieder aufgebaut worden war, dicht um die Kirche herum. Deshalb sahen sich die Häuser alle so ähnlich.

»Das ist interessant«, sagte Jonas. »Und das erklärt auch, warum die Häuser sich so dicht an die Kirche drängen.«

»Als suchten sie Schutz, meinst du?«, sagte Anders. »Daran habe ich nie gedacht.«

»Das habe ich auch oft überlegt«, erklärte Katarina. »Die Russen haben nie irgendwelche Kirchen in Brand gesteckt. Deshalb war es ja nur logisch, die Häuser möglichst dicht um die Kirche herum zu platzieren, als man sie nach dem Brand wieder aufbaute.«

 

Als sie aufbrachen, begleitete Katarina sie bis zum Gartentor. Zu Jonas sagte sie, Klara sei wirklich ein feines Mädchen, schön und tüchtig. Sie habe Klara schon immer gemocht. Für einen Moment fiel ein Schatten auf ihr Gesicht.

»Warum bist du dann traurig?«, fragte Jonas.

»Ach, das ist dumm von mir. Und schon lange vergessen. Aber als ich Anders erwartete, da habe ich gedacht, es würde … ein Mädchen werden. Wie Klara.«

Als Katarina eine Weile später in ihrer Küche abwusch, dachte sie, dass er ziemlich gefährlich sei, dieser Jonas. Er sah aus wie ein großer Junge, deshalb war man nicht auf der Hut. Und ehe man sich’s versah, hatte man Dinge gesagt, die nicht gesagt werden sollten, die kaum gedacht werden durften.

 

Auf dem Weg nach Hause hielt Jonas Klara fest bei der Hand, schweigend beschäftigt mit der alten Frage nach der Grausamkeit und Ungerechtigkeit des Lebens. Sie gingen am Kai entlang, Jonas versuchte aus dieser Stimmung herauszukommen, den schönen Hafen voll Freude zu betrachten. Aber es gelang ihm nicht. Mitten auf dem Kai blieb er stehen, umarmte Klara und küsste sie:

»Ich glaube, ich habe ganz vergessen zu sagen, wie glücklich ich bin, dass dieses süße, tüchtige Mädel mich haben will.«

»Jetzt halt aber die Klappe, Jonas. Es reicht, dass du mich hier in aller Öffentlichkeit küsst. Wenn die Leute auch noch sehen, dass ich losheule, ist der Skandal perfekt.«

Jonas musste lachen, aber als sie zu den neuen Häusern am Berghang auf der Südseite des Hafens hinaufgingen, fragte Klara:

»Willst du wirklich in die Kirche gehen und dort beten?«

»Ja. Und auch ein wenig reden. Hör zu, Klara, mir ist etwas eingefallen. Erinnerst du dich an den Aufbau des Gehirns und die verschiedenen Zentren …«

Den ganzen restlichen Heimweg sprachen sie eifrig über das Gehirn. Zu Hause stießen sie auf Kerstin und Hans und breiteten denen ihre Theorien aus. Kerstin nickte eifrig. »Das ist gut«, sagte sie. »Das kann dem Jungen helfen zu verstehen.«

Aber Sofia fand es lächerlich, und Hans sah aus, als wäre er der gleichen Meinung.

 

Lange vor sieben saß Jonas in der Kirche und schaute zu dem hohen Gewölbe hinauf. Es war eine schöne Kirche, die Mauern aus dem zwölften Jahrhundert, der Rest aus dem siebzehnten Jahrhundert, irgendwann zu Anfang unseres Jahrhunderts hell, aber pietätvoll renoviert.

Holmgren kam vor dem Jungen, er begrüßte ihn und schien nicht überrascht zu sein. Anders hatte ihn angerufen und gesagt, dass Jonas an diesem Abend dabei sein wollte. Sie sprachen leise über den gestrigen Tag und über Sofias Talent. Holmgren sagte, dass nicht ihr Geschick ihn so beeindruckt hätte, künstlerisch begabt seien ja viele. Aber ihr Einfühlungsvermögen in …

»… Gottes Welt«, ergänzte Jonas. »Klara hat mir erzählt, dass Sie das gesagt haben. Ich bin ganz Ihrer Meinung, aber doch etwas beunruhigt. Sie begibt sich weit ins Grenzland hinaus, um ein Motiv zu gestalten.«

»Und was riskiert sie dabei?«

»Ein Schritt zu weit, und sie kann im Chaos landen.«

Der Pfarrer nickte finster:

»Bereits Stagnelius wusste, dass das Chaos dicht neben Gott existiert. Sofias Mutter, nein, ich meine, ihre Großmutter ist beunruhigt. Sie hat mich im Winter gefragt, ob ich für das Mädchen beten wolle.«

»Wirklich? Hat Kerstin das getan? Das ist schön, ich wusste nicht … Ich hoffe, Sie tun es.«

»Jeden Tag«, sagte der Pfarrer, und da hörten sie den leisen Schlag von Anders‹ weißem Stock. Er setzte sich still zwischen sie.

»Wovon habt ihr geredet?«

»Von Sofia. Jonas macht sich ihretwegen Sorgen.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Anders und wandte sich eifrig Jonas zu. »Ich selbst habe eine Riesenangst vor ihr. Sie ist so eine, die man früher als Hexe bezeichnet hat.«

»Es gab auch gute Hexen«, entgegnete Jonas streng. »Sofia ist sehr lieb. Sie ist anders geboren, genau wie du, Anders. Und du hast sicher auch schon erlebt, dass andere vor dir Angst haben. Die Leute haben vor allem Angst, was ungewöhnlich ist.«

Anders errötete heftig. Der Pfarrer sagte:

»Deshalb mochtet ihr euch wohl auch so gern. Ihr habt euch zueinander hingezogen gefühlt, weil ihr beide anders seid.«

Anders war lange Zeit still, erinnerte sich. Wie sie über Träume und Gott gesprochen hatten, über Geheimnisse, von denen niemand sonst etwas erfahren sollte. Seine Stimme klang belegt, als er endlich sagte:

»Es war schön mit ihr zusammen. Ich hatte es noch nie so schön vorher. Aber dann hat sie mich sehen lassen, und … und dann habe ich solche Angst gekriegt.«

»Ich glaube, du bist vor allem traurig geworden.«

»Ja, vielleicht. Ich wusste gar nicht richtig, was es heißt, blind zu sein, bis …«

Nach einer Weile legte Jonas seinen Arm um die Schulter des Jungen:

»Anders, hör mal zu. Ich habe über etwas nachgedacht. Weißt du, eigentlich sehen wir gar nicht mit unseren Augen, sie nehmen nur das Licht, die Farben und so auf. Aber das Bild entsteht hier.«

Er drückte leicht mit der Hand gegen Anders‹ Hinterkopf, bevor er fortfuhr.

»Hier liegt das Sehzentrum im Gehirn. Da du nie durch deine Augen irgendwelche Signale aufgenommen hast, ist dein Sehzentrum reichlich untrainiert. Verstehst du?«

»So ungefähr«, sagte der Junge, war aber ganz gespannt.

»Hier«, erklärte Jonas und führte die Hand des Jungen an seine eigene Schläfe, »liegt das Hörzentrum. Mit dem Hören ist es nämlich genauso, wir hören nicht mit den Ohren, die nehmen nur Geräusche auf und leiten sie weiter dorthin, wo sie zu Sprache, Windrauschen oder Musik werden. Wenn jetzt du und ich nicht diese harte Schale drum herum hätten, und wir unsere Gehirne untersuchen könnten, würden wir ganz bestimmt etwas Merkwürdiges entdecken. Dein Sehzentrum ist sicher unterentwickelt und klein, weil ihm die Übung fehlt. Aber dein Hörzentrum ist garantiert in besserem Zustand als meines.

Und jetzt stell dir vor, ich wäre taub, hätte nie einen einzigen Laut gehört. Und dann höre ich plötzlich für eine kurze Zeit ein großes Symphonieorchester, das spielt schrecklich laut in mir. Was denkst du, was da passieren würde?«

»Du würdest eine Heidenangst kriegen.«

»Ja, natürlich. Und wenn ich später über Musik nachdenken würde?«

»Dann würdest du versuchen, dich daran zu erinnern.«

»Genau. Und du weißt, wie es mit den Erinnerungen ist, sie wachsen, verändern sich und trügen. Besonders, wenn es sich um intensive und überraschende Erlebnisse handelt. Ich würde wahrscheinlich überhaupt nicht bedenken, dass mein Hörzentrum so untrainiert ist, dass es gar keine Nuancen und Melodien unterscheiden kann.«

»Aber ich habe ja zum ersten Mal eine ganze Menge überhaupt verstanden, was Abstand ist und so. Und das Gesicht des Pfarrers, das werde ich nie vergessen.«

»Das ist sicher wahr, Anders. Es gibt auf jeden Fall Details, die du erkannt hast und die du nie vergessen wirst. Trotzdem glaube ich nicht, dass du auf der Grundlage der paar Minuten jetzt beurteilen kannst, wie die Welt wirklich aussieht, Anders.«

»Du meinst, ich soll nicht so traurig sein über alles, was ich nicht erleben kann.«

»Natürlich sollst du traurig darüber sein, dass du nicht sehen kannst. Aber wenn du glaubst, dass die Welt immer so schön ist, wie du sie in dem Schwindel erregenden, wunderbaren Augenblick in der Kirche erlebt hast, so kannst du schnell dein Defizit für größer halten, als es ist. Denn die Welt ist auch hässlich, Anders. Sie ist voll mit hässlichen Dingen und hässlichen Menschen. Es gibt ebenso viel Hässliches, wie es falsche Töne gibt.«

»Das habe ich mir nie überlegt, aber du hast sicherlich Recht. Darüber muss ich nachdenken.«

»Ich auch«, sagte der Pfarrer. »Schön, dass Sie gekommen sind, Jonas.«

Nach einer Weile sagte der Pfarrer, sie wollten ihr Treffen in der Kirche wie immer damit beenden, das Vaterunser zu beten. Jonas nickte, faltete seine Hände, und Anders sagte:

»Du musst an das denken, was Pastor Holmgren mir hier beim ersten Mal gesagt hat: Jesus hat gesagt, der Himmel ist in uns. Das macht alles so anders, weißt du. So viel einfacher zu verstehen.«

»Das klingt gut«, sagte Jonas. »Das werde ich nicht vergessen.«

 

Und dann beteten sie gemeinsam das alte Gebet, und Jonas fühlte sich sonderbar befreit und stark, als er am Hafen entlang heimging.

 

Bei Horners war man dabei, das Boot für eine große Fahrt zu beladen, Klara und Hans freuten sich beide darauf, Jonas Ålands Schärengürtel zu zeigen. Kerstin sprach am Telefon mit Katarina und bat sie, ihre Topfpflanzen zu gießen und die Post reinzulegen, weil Inger wie üblich den Sommer über fort war.

Bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen, fuhren Kerstin, Sofia und Jonas zu dem Alten auf dem Berg. Überrascht bemerkte Jonas, wie Kerstin in der Küchenwand verschwand, während Sofia den Alten aus seiner Isolierung herausholte.