Erst muss es mir besser gehen«, sagte das Kind streng zu sich selbst, um nicht in Panik zu geraten. »Dann werde ich nachdenken.«
Sie schlief eine ganze Stunde lang.
Dann hörte sie, wie ihre Oma am Telefon sprach, und erinnerte sich, dass sie das Telefon den ganzen Abend lang durch ihren Schlaf hindurch klingeln gehört hatte.
Arme Oma.
Jetzt hatte sie kein Fieber mehr und konnte klar denken. Ich muss mit dem Anfang beginnen, dachte sie und wurde unsicher. Denn wo zum Teufel war der Anfang?
Sie beschloss, dass es der Tag gewesen war, an dem sie sich mit Anders angefreundet hatte. Solange sie denken konnte, war sie neugierig auf ihn gewesen, hatte überlegt, was er dort drinnen in seiner Dunkelheit wohl sah. Eine andere Welt musste das sein, vielleicht wie die Welt des Bergs oder des Brachlands, hatte sie sich überlegt.
Unheimlich und wunderbar.
Eines Tages wollte sie ihn fragen. Deshalb wartete sie freitagsabends auf den Bus, mit dem er von seiner Schule kam, wo er die Woche über wohnte. Oma hatte ihr erklärt, dass sehbehinderte Kinder in eine Spezialschule gehen und mit den Fingern lesen lernen mussten.
Aber nie konnte sie ihn ansprechen, denn immer waren seine Eltern an der Haltestelle und verschwanden schnell mit ihm im Auto.
Einige Zeit später hörte sie jemanden erzählen, dass Anders jeden Samstagmorgen ganz allein zum Kiosk ging, Süßigkeiten kaufte, bezahlte und alles. Das war Marta aus dem Geschäft, die das erzählte, und sie war ganz überrascht: Wie ein normales Kind, sagte sie.
Also wartete Sofia an einem sonnigen Samstagmorgen im Frühling vor dem Kiosk. Er kam mit seinem weißen Stock an, rechter Fuß vor und Stock nach links, linker Fuß vor und Stock nach rechts. Das sah elegant aus, fand Sofia.
»Hallo«, sagte sie, als er eingekauft hatte. »Ich bin es, Sofia dort hinten vom Hügel, weißt du. Ich möchte so gern wissen, was du siehst, wenn du träumst.«
»Ach«, sagte der Junge, »ich träume von Engeln, großen, weißen mit langen Flügeln, in die sie mich einhüllen können.«
»O Mann«, sagte Sofia, neidisch und beeindruckt.
So wurden wir Freunde, dachte Sofia.
Sie ging mit ihm heim zu seiner Mutter, die dabei war, die Betten zu machen.
»Wie schön«, sagte sie, »dass du eine Freundin gefunden hast.«
Und dann bekamen sie Saft, und die Mutter schlug vor, sie könnten ihn doch im Garten trinken. Sie saßen unter einem alten Apfelbaum, und genau zu dieser Zeit blühte und duftete er, und es summte von Bienen.
»Kannst du mit den Bäumen reden?«
»Natürlich«, sagte der Junge. »Kannst du das nicht?«
»Nein, nur schlecht«, antwortete Sofia und fühlte sich unterlegen. Aber dann fiel ihr der Märzabend ein.
»Einmal hat der Berg zu mir gesprochen.«
»Und was hat er gesagt?«
Sofia erzählte die ganze Geschichte, deshalb konnte sie den schmählichen Schluss schlecht auslassen:
»Und deshalb habe ich nie erfahren, was der Berg wollte.«
»Aber warum bist du nicht wieder hingegangen und hast gefragt?«
Sofia dachte über die Antwort nach und sagte überrascht:
»Ich habe alles Oma erzählt, und sie hat Angst gekriegt.«
»O Mann«, sagte der Junge, »den Erwachsenen sollte man nie was erzählen.«
»Aber was machst du denn, wenn sie fragen?«
»Natürlich lügen.«
»Mir sieht man es an, wenn ich lüge. Ich schiele dann.«
»Das kannst du dir abtrainieren«, sagte der Junge. Und dann rief er ins Haus, dass er sich bei Sofia zu Hause die neugeborenen Kätzchen angucken wollte.
»Hat Kerstin denn eine Katze?«, fragte seine Mutter.
»Na, das wissen doch alle«, antwortete der Junge. »Komm, wir gehen.«
»Sei vorsichtig«, sagte die Mutter, und Sofia nahm Anders bei der Hand und verabschiedete sich. Sie war ganz erschöpft vor Bewunderung. So, dachte sie, so möchte ich auch lügen können.
Sie gingen den Waldweg zum Berg hinauf, und Sofia merkte sich gut, was Anders sagte. Dass nicht alles in seiner Welt dunkel war, er sah Licht, das sich veränderte. Und dass er den Blick nach innen richten konnte und dort Farben, Bäume und Blumen und natürlich den Himmel sehen konnte. Er musste seinen Blick nur so ausrichten: Sie blieben stehen, und Sofia schaute genau zu, wie Anders seine Augen öffnete und sie schräg nach oben rechts wandern ließ.
»Da kann ich sehen, in mir. Verstehst du?«
»Natürlich«, sagte Sofia.
Nach einer Weile wagte sie zu flüstern:
»Kannst du die Toten auch sehen?«
»Nee, konnte ich noch nie. Kannst du das?«
»Ich habe es versucht«, erklärte sie. »Im letzten November, an Allerheiligen, weißt du. Denn in der Nacht stehen die Toten auf, um Östmora anzugucken. Aber ich habe keine gesehen.«
»Wohin gehen sie denn?«
»Zu ihren alten Häusern und Gärten. Sie wollen sie angucken, und dann wollen sie die Lebenden grüßen. Aber die Lebenden sind nie da, und ihr Haus hat keinen Eingang. Dann werden die Toten traurig.«
Jetzt hatten sie den Berg erreicht. Sie gingen bis nah an die Steilwand und blieben still, ganz atemlos, stehen.
Leider schwieg auch der Berg.
»Vielleicht ist das Wetter zu schön«, sagte Sofia, aber Anders, der sein Ohr an die Bergwand gelegt hatte, hieß sie schweigen.
»Jetzt flüstert er«, sagte er.
Sofia presste ihren Kopf fest an den Berg, hörte aber nichts.
»Ich kann viel besser hören als du«, sagte der Junge.
»Was sagt er denn?«, fragte das Mädchen.
»Das Gleiche, was er zu dir gesagt hat. Wir müssen raufklettern.«
Sofia schaute die steile Wand hoch und dachte, dass das gefährlich sei für einen Jungen, der nicht sehen kann.
»Ich sehe mit den Fingern«, sagte Anders. »Ich habe in jeder Fingerspitze tausend Augen.«
Zum ersten Mal kam Sofia der Gedanke, dass Anders angab, und ihr fiel ihr Versprechen ein, vorsichtig zu sein.
»Das machen wir morgen«, sagte sie. »Ich werde Hans‹ Seil ausleihen, das hängt unter der Kellertreppe. Und dann klettern wir wie die Bergsteiger im Fernsehen.«
Anders willigte ein und langsam gingen sie wieder nach Hause.
Sofia hatte ein fotografisches Gedächtnis, sie konnte sich Stück für Stück den Fernsehfilm von den französischen Alpen ins Gedächtnis zurückrufen. Am Abend wusste sie genau, wie sie es machen musste. Sie würde zuerst hinaufklettern, das Seil am Fels befestigen, sich dann wieder hinunterlassen und das Seil um sich selbst und Anders knoten.
Aber am nächsten Morgen regnete es, und nicht einmal Anders konnte sich für einen Ausflug freilügen. Sie mussten bis zum nächsten Samstag warten.
Das war eine lange Woche, doch als der Samstag kam, strahlte die Sonne über Östmora. Sofia hatte auch noch das Glück, dass ihre Oma etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Kerstin wollte Sofia eigentlich mitnehmen, gab aber schnell auf, als das Mädchen sagte, sie wolle mit Anders einen Ausflug machen.
»Aber du bist vorsichtig, nicht wahr?«, war ihr einziger Kommentar.
»Wir wollen nur spazieren gehen.«
Sofia lachte zufrieden, als sie sich jetzt im Bett daran erinnerte. Anders hatte ihr bereits beigebracht zu lügen, ohne dabei zu schielen.
Dann erinnerte sie sich weiter.
Sobald Kerstins Auto den Hof verlassen hatte, war Sofia in den Keller gelaufen, hatte das Seil und Hans‹ alten Rucksack geholt, der an der Decke der Tischlerwerkstatt hing. Er war groß, dennoch bekam sie das Seil kaum hinein.
»Was um alles in der Welt hast du da im Rucksack?«, fragte Anders‹ Vater, als sie ihn auf dem Gartenweg vor Berglunds Haus traf.
»Saft und Butterbrote«, sagte Sofia schnell und stellte zum zweiten Mal an diesem Morgen fest, dass sie nicht schielte. Aber er sah sie zweifelnd an, deshalb musste sie erklären:
»Anders und ich wollen einen Ausflug machen.«
»Das ist aber nett von dir, dass du dich um Anders kümmerst«, sagte er. Aber da wurde Sofia wütend:
»Das ist überhaupt nicht nett. Wir haben viel Spaß zusammen.«
Berglund ist nicht dumm, dachte Sofia, als sie im Bett lag, ihren Erinnerungsfilm abspulte und sah, dass es ihm peinlich war.
Es war ein schöner Tag, dieser Maisamstag. Sofia tat, wie sie geplant hatte, und den Berg hinauf kam sie ohne jedes Missgeschick.
Dort erstrahlte die Welt in Blau.
»Oh, Anders, hast du jemals so viele wilde Stiefmütterchen gesehen!«
Der Junge stand ruhig da, schnupperte gegen den Wind. Dann legte er sich in die Herrlichkeit und strich mit den Händen über die Blumen.
Jetzt sieht er mit den Fingern, dachte das Mädchen.
Die Stiefmütterchen liefen ihnen die Pfade über den Berg entlang voraus, die Abhänge hoch wuchsen sie in jeder Spalte in der kargen Erde, ergossen Gelb und Lila über die rauen, grauen Steine.
»Ich hätte nie geträumt, dass es auf der Welt so viele Blumen geben könnte«, sagte Sofia.
Hand in Hand, ohne ein Wort zu sagen, als wollten sie nicht stören, gingen die Kinder den Pfad hinauf. Nach einer Weile nahm die Herrlichkeit ein Ende, während der Pfad sich weiter durch hohes Gras wand.
Dann wurde der Grund wieder karger. Sie liefen über Heideboden, Stiefmütterchen wuchsen hier und da in kleineren Grüppchen, und hoher Wacholder zeichnete sich gegen den Himmel ab. Weit unten hörten sie das Meer gegen die Felsen schlagen.
»Wacholder«, sagte Anders. »Riechst du ihn?«
Sofia ging näher heran und rieb die Zweige, um den Duft besser erschnuppern zu können.
»Wie die Buttermesser in Omas Schublade«, sagte sie.
Hier und da zwischen dem Wacholder lagen Felsen, große Brocken, von Riesen hingeworfen, sagte Sofia, aber Anders wusste Bescheid.
»Das waren keine Riesen, das waren die Gletscher der Eiszeit.«
»Ach was«, sagte das Mädchen. »Mit den Riesen ist es viel witziger.«
Sie kletterten auf einen großen Stein und setzten sich dort in die Sonne, zufrieden mit ihrem Abenteuer. Anders fand, dass es wie in der Kirche war, irgendwie feierlich.
»Ich war noch nicht oft in der Kirche«, sagte das Mädchen.
Da sang er einen Psalm für sie: »Felsen, der du zerbrachst für mich«. Strophe für Strophe sang er, und Sofia saß verzaubert da.
»Bei jedem flüchtigen Atemzug,
und wenn ich eines Tages sterbe,
wenn ich in ein unbekanntes Land gehe,
wenn ich vor deinem Richterstuhl stehe:
Felsen, der du zerbrachst für mich,
lass mich in dir mich
verbergen.«
Die helle Jungenstimme klang aus, und Sofia saß noch lange still da, bis sie sagte:
»Dieses Lied habe ich noch nie gehört.«
»Diesen Psalm«, sagte Anders, aber das Mädchen wollte nicht unterbrochen werden.
»Aber ich weiß, wovon es handelt. Ich habe mich auch schon einmal im Berg versteckt, als ich klein war. Ich bin direkt hineingegangen, kannst du dir das vorstellen?«
»Und wie war es da drinnen?«, fragte der Junge überrascht.
»Das ist ja das Schlimme«, sagte Sofia. »Ich kann mich nicht mehr dran erinnern. Es ist etwas passiert, aber es hat keine Spuren hinterlassen. Und es fällt mir nicht mehr ein. Kannst du die letzte Strophe nicht noch einmal singen?«
Anders sang, und Sofia unterbrach ihn ganz aufgeregt, als er zu »wenn ich in ein unbekanntes Land gehe« kam.
»So war es«, schrie sie, »genau so.«
»Aber das Lied handelt doch von den Verstorbenen.«
»Du bist vielleicht blöd«, sagte das Mädchen. »Ich bin doch schließlich lebendig.«
»Ja, natürlich«, sagte der Junge.
»Das Dumme ist nur, dass ich wirklich in den Berg gehen könnte, wenn Hans mir helfen würde. Alle Berge öffnen sich ihm, denn er ist der Bergkönig. Aber er wird nur wütend, wenn ich ihm das sage.«
Eine Weile später begannen sie über Gott zu sprechen und waren sich schnell darüber einig, dass sie überhaupt nicht verstanden, worüber die Erwachsenen redeten. Anders, der mit seinen Eltern von klein auf in die Kirche ging, flüsterte:
»Ich werde dir sagen, was ich glaube. Aber das darfst du nie jemandem erzählen.«
»Ich schwöre«, sagte das Mädchen.
»Ich glaube, die Erwachsenen verstehen es auch nicht, die tun nur so. Und wenn sie beten, dann tun sie so, als würde Gott ihnen antworten.«
»Aber er hängt doch da in der Kirche an einem Kreuz«, sagte Sofia. »Ich habe ihn selbst gesehen. Beim Weihnachtsgottesdienst. Wir gehen immer zum Weihnachtsgottesdienst, wenn Hans zu Hause ist.«
»Wirklich?«, fragte der Junge verwundert und begann zögernd zu erzählen, dass er manchmal den Verdacht hatte, mit der Kirche seiner Eltern stimmte irgendwas nicht. Aber vielleicht gab es Gott ja in der richtigen Kirche, in der alten mit dem hohen Turm.
So hatte es also angefangen, dachte Sofia, während sie in ihrem Bett lag und sich erinnerte, nur einmal von Kerstin gestört, die hereinkam, um nach ihr zu schauen, bevor sie selbst ins Bett ging. Sofia tat, als schliefe sie, ihr war aber klar, dass ihre Oma das merkte.
Sie hatten den Weg erreicht, der den Berg hinunterführte, den gleichen Weg, auf dem Sofia sich verlaufen hatte. Also mussten sie nicht den Steilhang hinunterklettern. Und auch nie wieder hinauf. Ihnen war der Zugang zum Geheimnis des Bergs durch ihr heldenmütiges Klettern gleich am ersten Tag gestattet worden.
Danach kamen sie immer wieder, an jedem Wochenende im Frühling und in den Sommerferien fast täglich. Und sie unterhielten sich immer wieder über Gott und die Kirchen.
Aber am meisten sprachen sie über ihre Träume. Sofia war neugierig auf Anders‹ Engel mit den großen weißen Schwingen, und Anders wollte mehr wissen über Sofias besten Traum, den mit dem Boot, das des Nachts, wenn es noch dunkel war, man aber schon den ersten Schimmer des Morgengrauens sehen konnte, über die Fluten glitt.
Eines Tages beschlossen sie auszuprobieren, ob sie zusammen träumen konnten.
Sie fingen an zu üben, jeden Abend zur gleichen Uhrzeit einzuschlafen. Und dann verabredeten sie, welchen Traum sie träumen wollten.
Zwei Wochen lang glückte es ihnen nicht, aber in der Nacht zum achtundzwanzigsten Juni trieb Anders mit dem Boot des Mädchens über die Fluten. Und Sofia sah ihn auf der Ruderbank sitzen, die Hand im Wasser, den Blick fest in ihren vertieft.
Und Anders konnte sehen!
Das war so hoffnungsvoll, dass sie aufwachte.
Sie weinte fast, als sie jetzt im Bett lag und sich daran erinnerte, wie glücklich sie gewesen waren, als sie sich am nächsten Tag trafen, wie äußerst erstaunt Tante und Onkel Berglund ausgesehen hatten, als Sofia den Gartenweg heruntergewirbelt war und mit Anders im Arm getanzt hatte.
Danach haben wir uns das mit der Kirche vorgenommen.
Sie hatten Pläne geschmiedet. Zuerst waren sie sich einig, dass der Traum beweisen sollte, dass es Gott gab: Sie würden in der ersten Reihe sitzen. Wenn die Gemeinde den Psalm sang, würden sie sich zur Decke erheben und Jesus mit sich nehmen. Das Gewölbe würde sich öffnen, wenn sie mit ihm gen Himmel flögen.
»Das müsste sich doch machen lassen, wenn er irgendwelche Macht hat«, hatte Sofia gesagt.
Aber zunächst musste Anders ganz genau wissen, wie die Kirche aussah. Sie stand den Sommer über offen, wenn die Touristen durch Östmora fuhren, und die Kinder schlichen sich hinein und setzten sich ganz vorn hin.
Sofia beschrieb – die Farben, die Höhe, das Gewölbe, den Altar, die Teppiche, die Kerzenständer – Detail für Detail. Anders nahm alles auf und nickte jedes Mal, wenn ihm eine Sache vollkommen klar geworden war.
Es gab nicht viele Touristen, sodass sie fast immer ungestört blieben.
Im August gelang ihnen der gemeinsame Traum zum zweiten Mal, und Sofia sah Anders‹ Engel. Er war unförmig, grau und merkwürdig, sodass sie anfangs Angst hatte. Aber dann merkte sie, wie gut er roch, und plötzlich hörte sie die Musik.
»Er hat Geige gespielt«, erzählte sie überrascht Anders, der stolz wie ein König nickte.
»Haydns Violinsolo«, sagte er.
»O Mann«, sagte das Mädchen beeindruckt.
Sie erzählte ihm nicht, dass sie Angst gehabt hatte.
Dann begann die Schule, und sie konnten nur noch an den Wochenenden üben. Sie hatten beschlossen, bis zum ersten Advent zu warten. Wegen des Kirchenlieds, das so gut passte: »Bereitet den Weg für den Herrn! Die Berge versinken, die Tiefen erheben sich.«
Am schwierigsten war es, die Zeit hinzubekommen. Wie sollten sie mitten am Tag während der Hauptmesse schlafen und träumen? Aber wie üblich hatte Sofia die Lösung: Sie müssten halt die Grippe kriegen.
»Aber vielleicht klappt das nicht«, sagte Anders, der nicht gern krank war.
»Ach was«, winkte Sofia ab, »im Dezember haben alle Leute Grippe.«
Und auch damit hatten sie Glück, Anfang Dezember lag halb Östmora daheim und schniefte.
»Siehst du«, sagte Sofia am Telefon. »Das sind die höheren Mächte, sie halten zu uns.«
Alles hatte wie am Schnürchen geklappt, abgesehen davon, dass die Leute in der Kirche sie gesehen hatten. »Wer um alles in der Welt hätte das ahnen können«, sagte Sofia laut und starrte fragend in die Winternacht. Dann schlief sie ein.
Am folgenden Morgen war sie fieberfrei, musste aber noch im Bett bleiben, hatte Kerstin gesagt, die mit Tante Inger in dem Anbau abgesprochen hatte, dass diese nach dem kranken Mädchen sehen und ihr etwas zu essen bringen sollte.
Die Zeit war knapp. Kerstin hatte kaum ihr Auto angelassen, als Sofia bereits Berglunds Nummer wählte. Und seufzte, seine Mutter war zu Hause.
Anders gehe es besser, sagte sie. Aber er schien so traurig.
»Grüß ihn von mir«, sagte Sofia. Das war der Code, dass Anders anrufen sollte, sobald seine Mutter zur Arbeit im Supermarkt gegangen war.
Sie hatte eine unruhige halbe Stunde – warum war er traurig? Er kümmerte sich doch sonst auch nicht darum, was die Leute redeten, das war er gewohnt.
Dann rief er an, und das wurde fürchterlich. Doch, er hatte alles gesehen, die Kirche, das Kreuz mit Jesus, das Dach, das sich öffnete. Und nie hätte er gedacht, dass die Welt so erschreckend sein könnte.
»Es war so furchtbar«, sagte er. »Grelle Farben und Unmengen von Licht, die wehtaten. Und laut und gefährlich.« Nie, niemals wollte er in dieser Welt leben.
»O Scheiße«, schrie er, »o Scheiße, was für eine Welt.«
Dann sagte er noch etwas Sonderbares:
»Es gibt keine Barmherzigkeit«, und legte den Hörer auf. Sofia weinte und versuchte sich an den Traum mit dem verschwommenen Engel zu erinnern.
War er barmherzig gewesen? Sie wusste es nicht, verstand nicht so recht, was das Wort eigentlich bedeutete.
Sie weinte, bis schließlich Tante Inger kam und rief, dass sie jetzt für das kranke Küken etwas zu essen mache. Und als sie mit ihrer ekligen Grütze hochkam, sagte sie:
»Das ist ja schlimm, was für rote Augen du hast und wie verschnupft du bist.«