Sie waren um Åland gesegelt und nahmen Kurs nach Osten auf Kökars Schärengürtel zu. Der Sommer goss Sonne übers Meer und die Inseln, während das Radio mit Tiefdruck und steifen Brisen drohte.
Es ging ihnen gut. Jonas‹ Freude an dem kargen Schärengürtel widersprach seinen Erwartungen, aber es klang fast traurig, als er sagte:
»Das erinnert mich an Bohuslän, als ich noch ein Kind war, so ruhig und friedlich.«
Sie angelten. Kerstin zog einen drei Kilo schweren Lachs heraus. Das war fast mehr, als sie essen konnten. Und außerdem fehlte ihnen der Dill.
Am vierten Tag gingen sie auf Föglö an Land, um Proviant aufzunehmen. Im Laden trafen sie einen Fischer, der sagte, der Nordwind sei im Anmarsch, den dürfe man nach der Hitzewelle nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Im Radio war weiterhin nur vom Tiefdruck aus dem Westen die Rede, aber Hans glaubte eher der einheimischen Bevölkerung und fragte Jonas, ob sie nicht lieber nach Mariehamn fahren sollten. Kerstin ging telefonieren, und als sie zurückkam, sagte sie, die Altenpflegerin in Östmora habe berichtet, dass der Lotse seit ein paar Tagen kaum noch ansprechbar sei.
»Ich rufe Arenberg an«, erklärte Klara und verschwand. Sie sah beunruhigt aus, als sie zurückkam. Der Arzt hatte unumwunden gesagt, es gehe mit dem Alten zu Ende, und das könne sehr schnell ablaufen.
Es war später Nachmittag, als sie von Föglö ablegten, und hellblaue Sommernacht, als sie die Landzunge von Herrö passierten. Es ging voran, sie hatten kräftigen nordwestlichen Wind, der von Stunde zu Stunde zunahm. Sie holten einige Segel ein, fuhren aber weiter, und gegen vier Uhr morgens sahen sie die Lichter von Mariehamn.
»Die Frage ist, ob wir es wagen, bis Ekerö weiterzufahren«, sagte Hans. »Von dort geht direkt eine Fähre nach Grisslehamn. Und dann sind es nur noch ein paar Meilen nach Hause.«
Kerstin, die in der hinteren Koje in der Kajüte lag, kletterte über die schlafende Sofia, steckte ihren weißen Kopf durch die Luke und erklärte:
»Ich nehme von Mariehamn ein Taxi nach Ekerö.«
»Okay«, sagte Hans. »Wir nehmen ein Taxi, du und ich. Jonas und Klara bringen das Boot nach Hause, wenn das Unwetter vorbei ist.«
»Ai, ai, Käptn«, sagte Kerstin lächelnd.
Aber Jonas hatte Einwendungen.
»Das ist keine gute Idee, Hans. Es ist viel besser, wenn die Frau Doktor mit Kerstin fährt.«
»Und niemand, nicht einmal du, Papa, kann mich daran hindern«, sagte Klara, die auch nicht hatte schlafen können.
»Ich fahre mit Mama, keine Widerrede.«
Kerstin sah Klara an und sagte, das sei lieb von ihr.
»Aber Jonas und du, ihr sollt doch auch noch ein bisschen Urlaub allein für euch haben.«
»Kerstin«, sagte Jonas nur, und das genügte.
Bei der Einfahrt hatten sie harten Seitenwind. Sofia wachte auf und schimpfte: Wollt ihr das Boot kentern lassen? Fröstelnd kroch sie auf Kerstins Schoß.
»Oma, ist es gefährlich?«
»Nein, gar nicht. Gleich sind wir im Windschatten vom Hafen.«
»Aber irgendwas Bedrohliches liegt in der Luft.«
»Ja, weißt du, das liegt daran …«
Ohne zu zögern erzählte Kerstin ihr, dass ihr Opa im Sterben lag und dass Klara und sie an Land gehen würden, ein Auto nach Hammarland nehmen und weiter nach Ekerö fahren würden, wo sie die erste Fähre zu nehmen dachten.
»Ich komme mit«, sagte Sofia.
»Das ist lieb von dir.«
Es wurde fast unheimlich ruhig, sobald sie die Hafenmole passierten, und das Boot richtete sich auf. Jonas machte es fest, Hans sprang an Land, um ein Taxi zu besorgen und Åke anzurufen, den er bitten wollte, sie in Grisslehamn zu erwarten. Aber eine schläfrige Ragnhild erklärte, dass Åke dienstlich fort sei, es hatte erneut einen Bankraub im Nachbarort gegeben. Hans entschuldigte sich; er fluchte und zögerte eine Weile, bevor er die Nummer des Pfarrers wählte.
Fünfmal klingelte es, bevor der Pfarrer antwortete und Hans sich klarmachte, dass es kaum fünf Uhr war. Aber Karl Erik sagte ruhig, er würde sich um die Fährenzeiten kümmern und rechtzeitig mit seinem Wagen in Grisslehamn stehen.
Gegen Mittag trafen sie bei dem Alten auf dem Berg ein. Er atmete in kurzen Zügen und war weit weg. Aber als Sofia ihre Hand in seine legte, kehrte er in die Wirklichkeit zurück:
»Ich komme und gehe, Sofia.«
Klara maß den Puls und versuchte, das Herz abzuhorchen. Der Lotse jammerte bei jeder Berührung.
»Er ist ausgetrocknet«, sagte sie der müden Hauspflegerin, die die Nacht über bei ihm gewacht hatte.
»Ja, er weigert sich, etwas zu trinken.«
»Dann muss er an den Tropf. Ich werde mit dem Krankenhaus sprechen.«
»Klara«, flüsterte Kerstin. »Ich habe ihm versprochen, dass er zu Hause sterben wird.«
»Natürlich, aber wir müssen uns eine ganze Menge ausleihen.«
Ein paar Stunden später hatte Klara alles, was sie bestellt hatte, ein Krankenhausbett, einen Tropf, Medikamente.
Arenberg kam und bestätigte, dass es das Herz war und eine Lungenentzündung. Natürlich könnte er ihm Antibiotika geben, aber …
»Nein«, entschied Klara. »Das machen wir nicht. Aber Sie hätten ihm den Tropf legen können.«
Arenberg fuhr vor den Blitzen in Klaras Blick zurück, brummte vor sich hin und sagte, er rechne damit, dass sie jetzt die Verantwortung übernehme.
»Warum braucht er einen Tropf«, fragte Sofia, mit vor Mitleid verzerrtem Gesicht, als Klara die Nadel in die Hand stach, die bereits voller blauer Flecke war.
»Er braucht Nahrung und Flüssigkeit. Weißt du, es tut furchtbar weh, wenn der Körper hungert und austrocknet.«
Kerstin hatte in ihrem alten Kinderzimmer geschlafen, sie war von Klara ins Bett geschickt worden, die sich ihretwegen schon seit dem frühen Morgen Sorgen gemacht hatte. Ihre Mutter war empfindlicher, als Klara gedacht hatte. Sie wandte sich Sofia zu:
»Wenn wir es schaffen wollen, dann müssen wir uns ablösen. Abwechselnd Wache halten. Deshalb möchte ich, dass du jetzt ein paar Stunden schläfst, während ich hier sitzen bleibe und gucke, ob der Tropf wirkt. Dann wecke ich dich, damit ich ein bisschen schlafen kann.«
»Und Oma?«
»Die lassen wir sich ausruhen.«
»Ist sie auch krank?«
Klara hörte die Angst in der Stimme des Kindes.
»Nein, aber sie ist schrecklich müde.«
Als das Mädchen gegangen war, dachte Klara, sie hätte doch … zu blöd, dass ich Stenström nicht angerufen habe, mich nicht erkundigt habe. Hat er irgendwelche Untersuchungen gemacht, oder kümmert er sich einzig und allein um die Psyche? Verdammter Scheiß, warum bin ich so hoffnungslos, wenn es um Mama geht? Oma ist an Krebs gestorben, es gibt ihn also in der Familie.
Dieser eklige Alte, der jetzt ruhiger atmete, hatte seine Tochter nicht erkannt. Was war das für ein Gefühl für Kerstin? Klara wusste es nicht. Sie ist ja so verflucht verschlossen.
Ich hätte fragen können, das und vieles andere. Warum können wir nie miteinander reden? Sie liebt mich, das weiß ich ja. Sicher ist sie genauso traurig wie ich, dass es so zwischen uns ist. Mama, meine liebe Mama.
Für einen Augenblick versuchte Klara es mit der alten Ausrede. Kerstin hatte sich immer nur etwas aus Jan gemacht. Und aus Sofia, dem Kind, für das sie durch Feuer und Wasser gehen würde. Aber das klappte nicht mehr, Jonas hatte ihr die Waffen aus der Hand geschlagen.
Scheiße auch das.
Sie muss laut gesprochen haben, denn der Alte wachte auf und fragte:
»Warum fluchst du, Sofia?«
»Ich bin nicht Sofia. Ich bin es, Opa, Klara.«
Er war so überrascht, dass er die Augen aufschlug, sie ansah und seine ganze Kraft sammelte:
»Was machst du hier?«
»Ich versuche dir zu helfen.«
»Du bist doch nie zu etwas nütze gewesen. Eine Schlampe bist du, und das warst du schon immer.«
Und du bist widerlich bis zum letzten Augenblick, dachte Klara, und horchte sein Herz ab, das weiter klapperte, jetzt in etwas ruhigerem Takt.
Nach zwei Stunden weckte sie Sofia und fiel selbst ins Bett. Aber sie konnte nur kurz schlafen, dann stand das Mädchen vor ihr und sagte:
»Er muss pinkeln. Und er weint, weil er nicht ins Bett pinkeln will.«
»Wecke Kerstin.«
Kerstin war bereits auf dem Weg nach unten, und gemeinsam hoben sie den Alten auf den Toilettenstuhl, den Klara ausgeliehen hatte. Aber es kam nichts, und der Alte schrie laut, dass er wieder ins Bett wolle.
Die Prostata, dachte Klara. Er nimmt ja seit Jahren Östrogen dagegen. Ich hätte dran denken sollen. Laut sagte sie:
»Ich fahre schnell ins Krankenhaus, er braucht … er muss katheterisiert werden. Dann kriegt er einen Plastikbeutel, in den der Urin läuft.«
»Fahr mit«, sagte Kerstin zu Sofia. »Nimm mein Portemonnaie und lauf zum Konsum. Kauf was zu essen, was Leichtes. Wir brauchen ja Lebensmittel, du kannst selbst gucken …«
»Das schaffe ich schon, Oma. Würstchen, Eier und so. Brot und Butter.«
»Und Kaffee, Sofia. Vergiss um Gottes willen nicht den Kaffee.«
Der Alte schlummerte wieder ein, erschöpft. Kerstin saß allein an seinem Bett; sie hielt seine Hand und dachte, dass alles zu spät sei. Sie würden nie das Gespräch führen, das sie seit vielen Jahren plante. Jetzt geht er weg, und ich weiß nicht, wer er war.
Sie wollte weinen, konnte es aber nicht. Als Klara zurückkam, schickte sie Sofia und Kerstin in die Küche, wo die beiden den Alten vor Schmerzen schreien hörten. Aber Klara sah zufrieden aus, als sie zurückkam, es war gut gelaufen.
»Ich habe es geschafft«, sagte sie. »Es ist etwas verzwickt bei so alten Organen.«
»Jetzt machen wir uns Essen«, sagte Kerstin. »Sofia hat eingekauft. Sobald wir gegessen haben, musst du schlafen, Klara.«
Die Tage und Nächte vergingen gleichförmig für die drei im Lotsenhaus, es wurde sonderbar eintönig, Stunde um Stunde verging, ohne dass etwas geschah. Am Morgen des dritten Tages sahen sie, dass der Sturm abzog. Das Meer wurde ruhiger, nur die eine oder andere Brandung schlug noch gegen die Klippen unterhalb des Hauses.
»Heute Abend kommen Hans und Jonas«, sagte Kerstin lächelnd.
Doch schon am Nachmittag konnten sie die Maxin auf ihrem Weg zu Horners Anleger sehen.
»Lauf nach Hause und empfange sie«, sagte Kerstin, und Sofia flog den Berg hinunter. Sobald sie verschwunden war, sagte Kerstin, dass es dem Mädchen nicht gut gehe, dass sie von hier fort müsse.
»Wenn ihr morgen abreist, müsst ihr sie mit nach Göteborg nehmen, Jonas und du.«
»Das ist schon in Ordnung, Mama. Aber ich fahre nicht. Ich bleibe bei dir, bis das hier vorbei ist. Es sind Jonas‹ Ferien, die zu Ende sind, nicht meine. Er kann Sofia mitnehmen, seine Mutter kümmert sich gern um das Kind.«
Kerstin antwortete nicht, jetzt hat sie Angst, dachte Klara und wollte gerade sagen, dass Agnes Nyström eine wunderbare alte Frau sei und dass Sofia und sie sich sicher bestens verstehen würden, als Kerstin zu weinen anfing.
»Du bist so lieb.«
»Aber Mama, meine kleine Mama.«
»Das begreifst du doch wohl«, schrie Kerstin. »Wie könnte ich …«
Klara nahm ihre Mutter in die Arme und traute sich endlich zu fragen:
»Mama, was für Untersuchungen hat Stenström gemacht, als du bei ihm warst?«
Kerstin war so überrascht, dass sie aufhörte zu weinen, sich zusammenriss und sagte, er habe eine Blutprobe genommen und sie irgendwohin zur Analyse geschickt. Es war alles in Ordnung gewesen, aber er hatte gesagt, sie sei ein typischer Fall, eine Frau, die sich aufopfere, sie müsste die Gefühle aus sich herauslassen. Sonst könnte …«
»Gott sei Dank«, sagte Klara. »Und was für Gefühle hast du herauslassen können?«
»Eine ganze Menge Wut und so.« Kerstin nickte in Richtung Schlafzimmer des Lotsen, und zum ersten Mal dachte Klara, dass es sonderbar war, was für ein lieber Mensch Kerstin geworden war. Es musste schwer gewesen sein, in diesem Haus aufzuwachsen.
»Jetzt kommen sie«, sagte Kerstin und strahlte wie immer, wenn sie Hans wieder sehen sollte. Nach einer Weile konnte auch Klara das Auto hören, das sich die steilen Hänge zur Lotsenvilla hinaufkämpfte.
»Begrüße du sie«, sagte sie. »Ich gehe zu Opa rein.«
Kerstin hörte sie nicht mehr, sie stand bereits im Flur, die Haustür weit aufgerissen, und lächelte Hans an. Sie umarmten einander nicht, reichten sich nicht einmal die Hand, aber die Luft wurde in dem engen Flur schwer. Jonas kam der Gedanke, dass es sicher nicht immer leicht war, Kind in ihrem Haus zu sein.
»Wo ist Klara?«
»Hier.«
Sie kam aus dem Krankenzimmer gelaufen, ihm direkt in die Arme:
»Ich habe mich wie verrückt nach dir gesehnt.«
Er hörte beunruhigt die Anspannung in ihrer Stimme, schob diesen Gedanken jedoch zur Seite.
Sie tranken in der Küche Kaffee, aßen Butterbrote. Kerstin sagte, sie habe sich überlegt, ob Sofia nicht mit Jonas nach Göteborg fahren wollte. Das Mädchen protestierte, aber Hans entschied die Sache.
»Du hast genug für den Alten getan, Sofia.«
»Außerdem nützt es nichts mehr«, sagte Klara. »Opa ist jetzt weit weg, und ich glaube, er kommt nicht mehr zurück. Er erkennt dich nicht wieder, Sofia.«
»Meine Mutter wird sich wahnsinnig freuen«, sagte Jonas, und plötzlich wurde Sofia neugierig.
»Wie ist deine Mutter, Jonas?«
»Es ist schwer, seine eigene Mutter zu beschreiben. Irgendwie steht man ihr zu nahe, weißt du. Aber in gewisser Weise ist sie deiner Oma ähnlich, noch so eine große alte Dame.«
Dann musste er lachen, bevor er fortfuhr:
»Andererseits sind sie so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Kerstin ist klein, schön und beherrscht. Agnes ist groß, hässlich und vollkommen überwältigend. Aber ich möchte wetten, dass ihr beide euch gut verstehen werdet. Denn sie hat den Kopf voller Farben, Formen und Ideen, genau wie du.«
»Sie ist Künstlerin«, sagte Klara. »Und nett, Sofia. Warm, lieb und ein bisschen verrückt.«
»Außerdem musst du auch ein wenig an mich denken«, erklärte Jonas. »Es wird doch traurig für mich, wenn ich den langen Weg nach Göteborg ganz allein fahren muss.«
»Blödsinn«, widersprach Sofia. »Gar nichts ist traurig für jemanden, der so eine Mutter hat. Und zu ihr heimfährt.«
Sie lachte, alle fühlten sich erleichtert. Sofia würde ohne schlechtes Gewissen mitfahren. Jonas ging, um Agnes anzurufen: er kam nach einer Weile zurück und sagte, dass Frau Nyström gern mit Frau Horner sprechen wollte.
Kerstin blieb eine halbe Stunde weg. Als sie zurückkam, sah sie gestärkt aus.
»Sie hat mir so viele schöne Sachen gesagt, Jonas. Ich hätte ja eigentlich wissen müssen, dass ein Junge wie du eine wunderbare Mutter haben muss.«
»Habt ihr über mich geredet?«
»Nicht viel, Sofia. Sie möchte, dass du einige deiner Zeichnungen mitbringst, und dann hat sie gesagt, dass sie ein Atelier auf dem Lande hat, wo du schalten und walten kannst.«
»Wir werden ganz viele Zeichnungen mitnehmen«, sagte Jonas. »Ich will sie auch einem Freund zeigen, der Künstler ist. Aber zuerst müssen Kerstin und Hans sich aussuchen, welche sie behalten wollen. Und dann kriegen Klara und ich ein paar, meinst du nicht?«
»Natürlich.«
Hans hatte eine Weile bei dem Alten gesessen. Er sah traurig aus, als er herauskam und sagte, es sei schwer, dass man einander nie wirklich kennen lerne.