VII

49

Ein sanfter Nieselregen fiel von einem niedrigen Himmel. Über die Windschutzscheibe wischten die Scheibenwischer rhythmisch, hin und her, hin und her.

»Ich werde davon ganz müde«, sagte Sofia.

»Dann schlaf doch ein bisschen«, meinte Jonas.

Sie schloss die Augen, schlief aber nicht ein, sondern erzählte:

»Als ich klein war, habe ich geglaubt, dass der Himmel weint, weil wir uns schlecht benommen haben. Aber dann habe ich begriffen, dass es ja regnen muss, damit das Gras wächst. Glaubst du, dass wir mit den Blumen verwandt sind?«

»Ja, das glaube ich. Alles, was es auf der Erde gibt, ist aus dem gleichen Material gemacht. Es ist der gleiche Stoff, der die Sterne leuchten, die Blumen wachsen und die Gedanken durch unser Gehirn strömen lässt.«

»Mein Gott, das ist ja phantastisch. Glaubst du, dass die Blumen denken?«

»Nein, jedenfalls nicht so wie wir.«

»Aber ich weiß, dass sie das tun.«

Jonas ließ die Frage fallen, er sagte:

»Als ich klein war, hatte ich die gleichen Phantasien über den Regen wie du, er war ein großes Weinen. An der Westküste regnet es meistens den ganzen Winter, und ich erinnere mich daran, dass ich Mama gefragt habe, warum Gott so traurig sei. Sie hat sich hingesetzt und eine große Zeichnung von allen Flüssen gemacht, die von den Gebirgen und Bergen herunterfließen, durch die Seen und hinein ins Meer. Sie zeigte mir, wie das Meer warm wurde und der Dunst aufstieg. Dann zeichnete sie die Wolken und den Wind, der kam und sie ans Land blies, sodass es zu regnen anfing und die Erde grün werden konnte.

Sie sagte, es sei das gleiche Wasser, immer das gleiche Wasser, das im Kreis herumlief. Es kommt nie neues Wasser auf die Erde, sagte sie. Wenn ich weinte, konnten das die gleichen Tränen sein, die Moses vergossen hatte, als sein Volk in der Wüste um das Goldene Kalb tanzte.«

»Wie wunderbar«, sagte Sofia. »Stimmt das?«

»Weißt du, Agnes dramatisiert immer gern. Aber so weit ich es verstanden habe, hat sie im Prinzip Recht.«

»Ich habe nie gehört, dass Moses geweint hat. Steht das in der Bibel?«

»Du bist mir ja eine«, sagte Jonas lachend. »Nun ja, ich weiß das auch nicht, denn so genau habe ich das Alte Testament nicht gelesen. Aber so ist es immer mit Agnes. Sie hat in der Sache Recht, aber in den Details macht sie Fehler.«

»So in etwa geht es mir auch. Aber es ist gut, dass man größer wird und mehr über die Details lernt.«

»Ja, das ist gut. Und gleichzeitig ein bisschen traurig, findest du nicht? So viele Phantasien verschwinden und werden durch Tatsachen ersetzt.«

»Doch, stimmt. Aber komisch, dass du das so gut verstehst.«

»Das liegt sicher auch an Agnes, daran, dass du und sie, dass ihr euch so ähnlich seid, weißt du, wie wir gestern schon festgestellt haben.«

»Du meinst damit, dass du es gewohnt bist, dass die Leute ein bisschen verrückt sind?«

»Also hör mal! Du bist doch nicht verrückt. Und Agnes ist ungewöhnlich klar im Kopf, sie hat eine Menge Angestellte und Geschäfte in verschiedenen Städten. Und alles hat seine Ordnung, die Löhne und die Steuern. Sie ist nicht nur Künstlerin, sie hat auch Geschäftssinn. Und meistens macht sie gute Geschäfte.«

»Das ist merkwürdig.«

»Nein, warum denn. Wir haben doch davon gesprochen, Sofia, dass wir alle aus vielen unterschiedlichen Personen bestehen. Und das Schöne bei Agnes ist, dass sie es schafft, die verschiedenen Personen in sich zusammenarbeiten zu lassen. Du wirst das besser verstehen, wenn du sie kennen gelernt hast. Sie redet oft laut mit sich selbst, weißt du: ›Also, Agnes, jetzt musst du dein gutes Herz mal zurückstellen und den Vertrag mit diesem unzuverlässigen Schneider kündigen. Das ist nicht schön, aber notwendig‹, oder: ›Ich müsste diese nebelgraue Seide mit Lila zusammenspielen lassen, es muss unbedingt Lila sein, aber welches Lila?‹.«

Jonas senkte seine Stimme, er klang jetzt entschlossen und sicher. Sofia lachte laut, überlegte eine Weile und sagte dann:

»Also, zuerst muss man lernen, auseinander zu halten. Und wenn man das total sicher kann, dann kann man vielleicht alles dazu bringen zusammenzuarbeiten.«

»Ja.«

Der Himmel hörte auf zu weinen, es wurde heller, und als sie sich Närkesletten näherten, schien die Sonne. Das Mädchen war eingeschlafen und schnüffelte, wie es nur Kinder und Katzen können. Jonas spürte eine große und fast schmerzhafte Zärtlichkeit.

Als wäre sie von seinen Gefühlen geweckt worden, murmelte sie:

»Ich wollte dich noch etwas fragen, Jonas. Aber ich weiß nicht, ob ich mich traue.«

»Wir sind doch schon mal gesprungen.«

»Hm. Aber das war in der anderen Welt. Jetzt hier geht es um die Wirklichkeit, verstehst du?«

Er nickte und bog von der Örebro ab Richtung Karlstad. Als er sich auf der richtigen Spur nach Göteborg eingereiht hatte, murmelte er: »Nun komm schon, mein Mädchen, natürlich traust du dich.«

»Es geht um dieses Wunder. Es war ja nicht geplant gewesen, dass die Leute es sehen sollten und so. Ist irgendwas an mir, was gefährlich ist, Jonas? Etwas, wovon ich nichts weiß?«

»Es gibt Kräfte, die niemand richtig begreift«, antwortete er zögernd und fluchte leise: Warum verdammt nochmal hatte er nur darauf bestanden, dass sie fragte?

»Habe ich solche Kräfte?«

»Ich glaube schon.«

»Dann stimmt also was nicht mit mir. Und Anders, ist es bei ihm auch so?«

»Nein, Anders fehlt ein Sinn. Du hast einen zusätzlich, den man den siebten Sinn zu nennen pflegt. Obwohl es sich dabei eigentlich nicht um einen Sinn handelt, sondern eher um eine Fähigkeit. Alle haben sie ein wenig, man nennt das Intuition. Ich zum Beispiel kann bestimmte Sachen fühlen, besonders, wenn ich mit meinen Patienten spreche. Aber du und Klara, ihr seid darin ungewöhnlich tüchtig.«

»Klara hat Angst davor. Ich habe immer gedacht, sie ist bescheuert, aber nachdem sie erzählt hat, wie sie verrückt geworden ist, da habe ich sie besser verstanden. Ich will keine Idiotin werden, Jonas.«

»Deshalb ist es ja so wichtig, dass du das trainierst, was deine Oma dir beigebracht hat. Auseinander zu halten, damit alle wissen, wo du dich befindest.«

Er zögerte eine Weile, bevor er fortfuhr:

»Die Träume gehören in die andere Wirklichkeit. Für viele Menschen sind die Träume der einzige Kontakt, den sie mit dieser anderen Welt haben. Aber Träume kann man nicht kontrollieren. Du konntest es nicht wissen, aber es war nicht klug, dieses Zusammenträumen mit Anders zu üben.«

»Das ist mir auch klar geworden.«

»Das ist gut. Das nächste Mal, wenn du in dieser Richtung eine Idee hast, dann berate dich erst mit deiner Oma oder mit mir.«

»Lieber mit dir. Oma wird immer so schrecklich ängstlich.«

»Ja. Das ist aber kein Wunder, wenn man dran denkt, was mit Klara passiert ist.«

Er warf dem Mädchen einen Blick zu, sie war ganz blass geworden.

»Deinetwegen mache ich mir nicht so große Sorgen wie um Klara«, sagte er. »Du hast eine Möglichkeit, alles zu verarbeiten, du kannst das Andere zeichnen, malen und damit ausdrücken. Aber du solltest aufhören, das heimlich zu tun. Denn was ganz allein in heimlichen Räumen passiert, das wird so groß und stark, dass es leicht die Überhand gewinnen kann.«

»Wolltest du deshalb, dass ich die Ausstellung mache?«

»Ja.«

»Wenn also die Berge zu mir sprechen, dann soll ich Stifte und Block nehmen und zeichnen und die ganze Zeit daran denken, dass die Zeichnung zu der anderen Welt gehört?«

»Ja. Und in diese kommen will. Deshalb ist es außerdem wichtig, dass du uns anderen zeigst, was du gesehen hast, damit auch wir verstehen, dass der Berg spricht. Verstehst du?«

»Der Berg will also, dass ihm viele zuhören, meinst du das?«

»So kann man es sagen. Aber ich benutze dafür andere Worte. Wenn du von der anderen Welt sprichst, dann rede ich vom Unterbewusstsein. Und das Unterbewusstsein hat die Sehnsucht, bewusst zu werden. Verstehst du mich?«

»Das ist nicht leicht.«

»Denk an das, was wir vorher von den Träumen gesagt haben. Sie gehören zu der anderen Welt, die ich das Unterbewusstsein nenne und die so oft mehr weiß als wir. Das weißt du doch. Du gehst doch immer für eine Weile schlafen, wenn du unsicher bist. Dann träumst du und bekommst eine Antwort. Ein großer Wissenschaftler, der Freud hieß, hat das entdeckt. Und er hat es ganz toll ausgedrückt. Er hat gesagt, dass der Traum ein Brief vom Unterbewusstsein an das Bewusstsein ist.«

»Dann bin nicht ich allein merkwürdig?«

Die Stimme des Mädchens klang angespannt, Jonas wählte sorgfältig jedes einzelne Wort.

»Nein, ganz und gar nicht. Ich verbringe meine Tage damit, dass ich Patienten zuhöre, die mir ihre Träume erzählen. Sie müssen sie Bild für Bild beschreiben, und dann fangen wir an zu verstehen, was die Träume sagen wollten.«

»Wie komisch«, wunderte Sofia sich. »Träume sind doch ganz einfach zu verstehen.«

»Nicht für alle. Und nicht, wenn man älter geworden ist und viele und verwickelte Erinnerungen hat, die man unterdrückt und vergessen hat, weil sie nicht schön sind und einem wehtun.«

»Jetzt musst du eine Weile still sein, denn ich habe so viele Gedanken von dir gehört, dass mir der Kopf schon ganz weh tut.«

Jonas überlegte, ob er noch etwas über Johannes sagen sollte, darüber, dass es gefährlich sein konnte, Kontakt mit den Toten zu haben. Aber er beschloss, damit zu warten, dachte, Johannes werde sicher verschwinden, wenn Sofia einen guten Lehrer aus Fleisch und Blut bekomme. Per Karlsson, dachte er, ich muss Per dazu bringen, sich um sie zu kümmern.

»Ich muss mal pinkeln«, sagte Sofia.

Sie hielten auf dem nächsten Rastplatz, das Mädchen verschwand im Dickicht, während Jonas sich mit einem Busch am Straßenrand begnügte. Als sie zurückkam, legten sie sich eine Weile ins Gras neben dem Parkplatz, streckten sich aus und schauten in den Himmel:

»Du, Jonas. Warum ist dieses Unterbewusstsein klüger als wir?«

»Ich glaube, weil es sich auf irgendeine Weise, die wir nicht verstehen können, außerhalb von Raum und Zeit befindet. Dort bewegt es sich ganz frei.«

»Dann ist es also nicht in unserem Körper, im Gehirn?«

»Ich glaube das nicht. Aber das ist nur meine Meinung. Die meisten anderen Ärzte sind sicher ganz anderer Meinung, sie gehen davon aus, dass das Unterbewusstsein die Erinnerung ist, die wir in allen Ecken und Winkeln unseres Gehirns versteckt haben.«

»Aber Klara hat es doch im Berg versteckt.«

»Das war wohl in erster Linie ein Vergleich. Als sie krank wurde, bekam sie solche Angst, dass sie sich selbst gezwungen hat, fast ihre gesamte innere Welt zu verleugnen. Und das ist nicht gut, Sofia. Was man leugnet und verheimlicht, das wächst, wie ich vorhin schon gesagt habe. Eines Tages kann es dann ernsthaft hervorbrechen.«

»Machst du dir ihretwegen Sorgen?«

»Ja«, antwortete er, und plötzlich fühlte er sie, die Unruhe darüber, was wohl im Lotsenhaus jetzt geschah.

Mittags aßen sie in Finnerödja. »Ich glaube, ich platze gleich«, sagte Sofia, als sie ihre dritte Portion Erdbeeren mit Käsekuchen und Sahne nahm. Jonas rief im Lotsenhaus an, dort war die Lage unverändert. Der Alte döste in Bewusstlosigkeit dahin, Hans hatte Åke das Boot zurückgebracht, der Pfarrer war zu Besuch gekommen. Klara war selbst am Telefon, ihre Stimme zitterte. Jonas sagte: »Na, dann tschüs, wir rufen wieder an, wenn wir in Lerkil angekommen sind.«

Sofia verschlief ganz Västgötaslätten und wachte erst auf, als sie sich durch Göteborg schlängelten. Als sie die Strandvilla erreichten, wollte die Sonne bereits im Meer untergehen, das in lang gestreckten Wellen atmete. Jonas sah die Verblüffung des Mädchens und erklärte in seinem breitesten Göteborger Dialekt:

»Willkommen an der richtigen Küste, Sofia.«

»Angeber«, erwiderte das Kind.

Dann wandte sie sich dem Haus zu, ihre Augen wurden groß vor Überraschung, und sie flüsterte:

»Aber du hast gesagt, es ist ein Ferienhaus. Dabei sieht es aus wie ein Schloss.«

»Ein ziemlich verfallenes altes Holzschloss. Ich habe dir doch gesagt, dass Agnes ein bisschen verrückt ist.«

Dann war Agnes da, und Sofia verschwand in einer großen, herzlichen Umarmung. Ein zerfurchtes Indianergesicht mit krummer Nase, breitem Mund und blinzelnden Augen beugte sich über sie, und eine laute Stimme dröhnte:

»Du hast mir gesagt, du würdest mit einem Mädchen kommen, Jonas. Dabei bringst du mir eine Elfe.«

Sie stellte Sofia auf dem Hof ab und betrachtete sie eingehend.

»Aber mein liebes Kind«, erklärte sie fast andächtig. »Warum hat mir niemand erzählt, dass du aus dem Reich der Elfen kommst und eigentlich nur betrachtet werden darfst, wenn der Mond scheint und die Nebel aus den Wiesen aufsteigen?«

»Das liegt daran, dass ich ein ganz normales Kind bin«, erwiderte Sofia und brachte damit Agnes zum ersten Mal zum Lachen. Ihr Lachen donnerte, genau wie die Wellen, die an den Strand schlugen.

Sofia warf einen Blick auf das Haus. Es würde schön werden, genau wie Jonas gesagt hatte. Agnes nahm ihre Hand, sie gingen von Zimmer zu Zimmer, und das Mädchen zwitscherte vor Freude. Wie schön, oh, wie schön. So schöne Dinge, so kräftige Farben vor den weißen Wänden. Möbel, die so leicht aussahen, als schwebten sie über dem Boden, Bilder, überall Bilder, wunderbare Gemälde. Sie blieb sicher fünf Minuten vor dem Bild einer nackten Frau an einem Fels am Meer stehen und begriff zum ersten Mal, dass es andere Möglichkeiten gab, etwas zu sehen, als ihre eigenen.

Agnes blickte das Mädchen an, das Mädchen sah das Bild an.

»Wer hat das gemalt?«, fragte Sofia schließlich.

»Ein Mann, der Ivarson heißt. Er gehörte zu einer Gruppe Maler, die die Göteborgkoloristen genannt wurden. Irgendwann gehen wir auch ins Kunstmuseum und schauen sie uns dort alle an.«

Es war ein Hauch von Unruhe in Agnes‹ Stimme zu hören, aber Sofia bemerkte ihn nicht. Sie war bereits wieder im Meer, in dem blauesten Blau, das sie je gesehen hatte.

»Ich habe dein Zimmer in Ordnung gebracht«, erklärte Agnes schließlich. »Du kannst deine Tasche reinstellen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf, schleppten die Tasche hoch. Sofias Zimmer war groß und fast blendend weiß. Die einzige Farbe gab das Meer, goldblau im Sonnenuntergang vor dem Fenster, das vom Boden bis zum Dach reichte.

»Ich kann mir vorstellen, dass du ein paar bunte Kissen haben möchtest, aber ich habe gedacht, die sollst du lieber selbst aussuchen«, meinte Agnes. »Komm mit.«

Sie ging voran in ihren flatternden, bunten Kleidern. Sie ist wie ein Riesenschmetterling, dachte Sofia. Aber als Agnes die Türen zum Atelier öffnete, fiel dem Mädchen nichts mehr ein. Sie schrie auf vor lauter Freude. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es in der Welt so viele Farben gab. Glänzende Stoffe, Kissen, Staffeleien mit Skizzen, Ölfarben, Wasserfarben, Pinsel in großen Krügen.

»Hier, mein Elfenkind, wirst du tanzen können. So viel du willst. Ich sitze ganz hinten am Giebelfenster und zeichne, und du kannst mich immer stören, wenn du Hilfe brauchst.«

»Ich hoffe, es regnet die ganze Zeit«, sagte das Mädchen und fiel Agnes in die Arme, die wieder ihr lautes Meereslachen von sich gab.

 

Sie aßen in der Küche, Würstchen und Spaghetti, so etwas, worüber zu Hause immer nur gemeckert wird, wie Sofia bemerkte. Jonas telefonierte, sprach wieder mit Klara und holte schließlich Sofia an den Hörer:

»Kerstin möchte mit dir sprechen.«

In der Küche konnten sie hören, wie das Mädchen gar nicht schnell genug reden konnte, als sie beschrieb, wie wunderbar hier alles war, wie phantastisch Agnes war, wie schön sie es hatte.

Dann war es eine Weile still, bis Sofia laut und entschlossen sagte:

»Man muss überhaupt nicht lieb zu Jonas‹ Mutter sein. Man kann sein, wie man ist. Und jetzt gehen wir baden. Im Meer, nicht in so einer Pfütze wie bei uns daheim.«