Am nächsten Morgen regnete es, genau wie Sofia es sich gewünscht hatte. Sie wachte gegen fünf Uhr auf. Es war noch kalt, also zog sie einen Pullover über ihr Nachthemd und schlich sich dann in das große Atelier.
Sie ging geradewegs auf den Korb mit Stoffresten zu. Agnes hatte gesagt, Sofia könne mit allem, was darin war, machen, was sie wolle. Sie begann damit, jedes Stoffstück glatt auszubreiten, ihre Hände strichen voll Freude über Seide und Samt. Es gab auch Wolle, schwer und erdig wie ein frisch gepflügter Acker im Frühling. Und es gab ein großes Stück schwerer, rauer Seide in wechselnden Nuancen, grau, blau, lila, braun. In den Falten konnte es sogar grün leuchten.
Wie der Berg, dachte Sofia. Als hätte jemand einem geheimnisvollen alten Berg mit Moos in den Spalten die Haut abgezogen.
Aber am besten waren die Himmelsstoffe. Und die Meeresstoffe, glänzende Thaiseide in Blau und Grün. Sofia streichelte die Seide, hörte das Meer rauschen, als bräche sich dünnes Eis in der Frühlingssonne, und sah den Himmel, wässrig, hellblau und ruhig wie eine Glaskuppel über einem heißen Sommertag. Es waren jedoch die wilden Stiefmütterchen, die sie auf die Idee brachten, ein großes Stück Manchestersamt mit Veilchen, wie auf dem Schiffsgrab daheim. Sie sahen sie mit unsichtbaren Augen hinter honiggelben Lidern an, so klein, so nahe. Sie roch an ihnen, doch sie hatten keinen Duft, und Sofia fiel das Märchen von der Blume ein, die auf den Wohlgeruch verzichten musste, um ihre Schönheit zu bewahren.
Sie schaute sich auf dem weiten Boden um, auf dem sie ihre Schätze ausgebreitet hatte und wusste, was zu tun war. Sie wollte von dem Abenteuer, als sie und Anders zum ersten Mal den Berg hinaufgeklettert waren zum Schiff der Urzeitmenschen, ein großes Bild machen. Alles sollte dabei sein, die Gefühle, die Gedanken, das Gespräch über Gott und das Kirchenlied, das sie sangen: Felsen, der du zerbrachst für mich.
Genau so, sagte sie laut. Der Tag sollte wieder auferstehen. Das sollte Anders Kraft geben und den Mann im Bärenfell erfreuen, ihn, der zur Herbst-Tagundnachtgleiche wieder zum Berg kommen würde.
Sie begann mit dem Berg, der rauen Seide. Sie schnitt Risse in den Samt mit dem wilden Stiefmütterchen und zog ihn in die Spalten des Bergs, sie wickelte die tiefgrüne Seide aus für das Meer, das weit entfernt zu sehen war. Das passte nicht, sie hielt inne und überlegte.
»Du brauchst dunkle Flecken, um die Tiefe zu kriegen. Versuche es mal mit der braunschwarzen Wolle.«
Es war Agnes, Sofia schaute lächelnd auf, etwas beunruhigt von dem Ernst in der dunklen Stimme. Jetzt schimpft sie, dachte sie. Weil ich mich nicht angezogen habe und weil ich mich so furchtbar ausgebreitet habe.
Aber Agnes war aus einem ganz anderen Grund so ernst. Sie war intensiv mit Sofias Bild beschäftigt, von den Volumen und Farben beeindruckt, von dem Motiv, das sich erahnen ließ.
»Hast du schon lange hier gestanden?
»Ja, eine ganze Weile.«
Plötzlich zuckte Agnes zusammen, zog mit Mühe ihren Blick von dem Bild ab und begann zu lachen.
»Ich bin hergekommen, um mit dir zu schimpfen. Auch eine Elfe muss sich anziehen, wenn sie aufsteht. Und etwas zu essen in den Bauch kriegen. Und außerdem darf sie älteren Damen, die sich einbilden könnten, das Elfenkind sei aus dem Fenster geflogen, nicht so einen Schrecken einjagen. Aber als ich gesehen habe, was du hier machst, habe ich das alles vergessen.«
Sofia ging brav ins Badezimmer, duschte, zog sich an und kam dann in die Küche, wo Jonas und Agnes mit dem Frühstück warteten.
»Hallo«, sagte Jonas.
»Hallo.«
»Meine Güte, du bist aber nicht sehr gesprächig.«
»Ich denke.«
»Darf man fragen, was du denkst?«
»Ich denke, dass Kunst etwas Ernsthaftes ist. Agnes hat es mir gerade beigebracht.«
»Das stimmt, Sofia«, nickte Agnes lächelnd. »Und bald will ich dir noch etwas beibringen. Dass Kunst auch Handwerk ist und dass die Hände eine ganze Menge Dinge können müssen, zeichnen, schneiden, denken.«
»Aber Hände können doch nicht denken.«
»O doch. Meine können das, und wir werden es deinen zusammen beibringen.«
Jonas verabschiedete sich, er musste ins Krankenhaus. Aber er würde schon um vier Uhr wieder zurück sein.
»Wenn ihr Lust habt, können wir heute Abend nach Liseberg fahren.«
»Wir haben bestimmt keine Zeit, Jonas«, erklärte Sofia ihm.
Niemand lachte, aber es glitzerte in Jonas‹ Augen, als er Agnes ansah und beide dachten, dass sie noch nie ein Kind erlebt hatten, das keine Zeit hatte, zum Liseberg-Freizeitpark zu fahren. Sofia begann das Geschirr zusammenzustellen, aber Agnes sagte:
»Lass es stehen. Es kommt nachher ein Mädchen und kümmert sich ums Haus.«
Mindestens tausend Dinge lernte Sofia an diesem Vormittag. Zumindest hatte sie das Gefühl.
Die auf dem Boden ausgebreitete Landschaft nannte Agnes eine Vision. Vor dem nächsten Schritt musste Sofia eine Skizze machen. Auf Papier, einem großen Bogen Papier, den sie dann später in einzelne Abschnitte aufteilen sollte.
»Warum das?«
»Wir müssen es in Teilen nähen. Keine Nähmaschine kann eine so große Collage bewältigen.«
Sie brauchten eine Skala, sagte Agnes. Ein Meter auf dem Boden, das waren zehn Zentimeter auf dem Papier. Hier ist ein Maßband, jetzt heißt es nur messen und rechnen.
Den ganzen Vormittag stand Sofia an der Staffelei, der Berg wuchs auf dem Papier, es war still im Atelier. Agnes saß an ihrem Zeichentisch am Nordfenster und skizzierte neue Modelle. Um ihre Füße herum wuchs der Berg verworfener Zeichnungen und französischer Modezeitschriften zu einer Dünenlandschaft. Ein einziges Mal fluchte sie, ab und zu knurrte sie zufrieden, und alle Viertelstunde fragte sie:
»Und wie läuft es, meine Elfe?«
»Ganz gut. Aber ich bin schlecht im Rechnen.«
Da schälte Agnes sich aus ihrem Stuhl und knurrte zufrieden.
»Du rechnest genauso gut wie mein alter Brummkreisel«, sagte sie. »Aber du brauchst nicht so viel mit den Farben zu arbeiten. Die sind ja gegeben.«
»Dann habe ich nicht richtig verstanden, was mit einer Skizze gemeint ist.«
Sie machten Pause für das Mittagessen und aßen Omelett mit frischen Krabben. Danach wollte Agnes sich etwas hinlegen. In der Zeit sollte Sofia jedem Stück Stoff, das sie auf der Skizze eingezeichnet hatte, eine Nummer geben.
»Wenn du fertig bist, weck mich.«
Agnes hatte Probleme, wach zu werden. »Kaffee«, sagte sie, und als sie ihren Filterkaffee getrunken hatte, waren ihre Augen wieder klar, und sie konnten weitermachen. Sofia hatte beim Nummerieren einen Fehler gemacht, es sollte immer die gleiche Ziffer sein für den gleichen Stoff, auch wenn er an anderer Stelle wieder auftauchte.
»Natürlich«, nickte Sofia. »Wie blöd von mir.«
»Nein, ich habe es schlecht erklärt«, widersprach ihr Agnes und gähnte mit so weit geöffnetem Mund, dass Sofia ihr in den Magen gucken konnte. »Während du das korrigierst, hole ich große Ziffern, die wir an den Stoffstücken befestigen. Wie viele sind es?«
»Sechzehn Verschiedene. Und dabei fünf Vierer, drei Achter und zwei Elfer.«
»Das muss ein Fehler sein. Hier gibt es nur eine Elfe.«
»Dafür gibt es hier noch eine Fee«, sagte Sofia und deutete auf Agnes, die losbrüllte:
»Dann pass aber auf, kleines Mädchen, dass dich die Fee nicht viel zu fest an sich drückt.«
»Davor habe ich keine Angst«, entgegnete das Kind, und Agnes lachte so laut und lange, dass sie sich auf einen Stuhl setzen und nach Luft schnappen musste.
Gegen drei Uhr hatten sie alle Ziffern auf der Skizze und dem Boden verteilt, während der Regen gleichzeitig seine letzten Tropfen gegen das Fenster schlug, und der Sonnenschein das Meer erblauen ließ.
»Jetzt brechen wir für heute ab«, sagte Agnes. »Raus mit uns, in die Natur.«
»Aber ich bin nicht müde«, widersprach Sofia und spürte dabei, wie ihre Augen auseinander glitten.
»Aber liebes Kind, schielst du?«
»Besser, wenn du es gleich weißt«, erklärte Sofia und errötete bis in die Haarspitzen. »Du kommst ja doch dahinter. Ich schiele nämlich immer, wenn ich lüge.«
»Jetzt zerdrücke ich dich aber«, sagte Agnes, und Sofia musste wirklich in der kräftigen Umarmung um Atem ringen.
Sie strichen am Strand entlang, was bedeutete, dass Agnes spazierte und Sofia lief, voraus und hinterher, hin und zurück. Sie suchten Schneckenhäuser, betrachteten Fische, die im seichten Wasser standen, Wolken, die über den Himmel jagten. Sie kamen in den Wald, einen ganzen Wald von Buchen und Eichen, pflückten Walderdbeeren und wilde Himbeeren, Strandhafer und Strandnelken. Sofia wurde es ganz warm von all der Herrlichkeit, und Agnes sagte: »Ab mit dir ins Meer, du Elfe.«
Es war leicht, in dem Salzwasser zu schwimmen, es war wie auf Gran Canaria, und Sofia hörte sie wieder, Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag: Ding, dinge, ding ding, ding, dinge ding.
Daheim machten sie sich daran, einen großen Dorsch zu säubern, rieben ihn mit Salz und Zitrone ein und schoben ihn in den Ofen, zusammen mit vielen Kräutern, die sie in Agnes‹ Kräutergarten gepflückt hatten: Salbei für die Wahrheit, Rosmarin für das Gedächtnis und Dill, damit der Fisch sich zu Hause fühle.
»Du weißt doch, dass Dill nach Meer schmeckt«, sagte Agnes.
»Du bist wirklich ein bisschen verrückt«, bemerkte Sofia und schüttelte den Kopf. Aber Agnes lachte und sagte, dass es doch schlimm wäre, wenn Leute ihres Alters ebenso hoffnungslos vernünftig sein würden wie die Zehnjährigen.
»Niemand hat jemals zu mir gesagt, ich wäre vernünftig«, erklärte Sofia. »Hier werde ich noch richtig frech!«
Aber in dem Moment hörten sie Jonas‹ Auto. Sofia lief ihm entgegen und rief:
»Natürlich haben wir Zeit, nach Liseberg zu fahren.«
»Das habe ich mir doch gedacht. Hast du was Hübsches anzuziehen?«
Während sie den Tisch deckten, rief Jonas Klara an, und Agnes sagte streng:
»Aber heute Abend darf es nicht so spät werden, Sofia. Du musst gut schlafen, denn morgen sollst du zuschneiden lernen. Das bedeutet, dass du deine Hände trainierst, von allein zu denken.«
»Als ich die Skizze gemacht habe, habe ich verstanden, was du gemeint hast. Meine Hände können gut allein denken.«
»Wir werden sehen. Die Hände haben mehr Probleme mit der Schere als mit den Stiften«, erklärte Agnes und verschwand ans Telefon, wo sie lange mit Klara und anschließend mit Kerstin sprach.