52

In dem Lotsenhaus hatte der Tod innegehalten. Der Alte atmete ruhiger, und die eingesunkenen Wangen waren nicht mehr so wachsgelb. Für wenige Augenblicke erwachte er sogar jeden Morgen aus seiner Bewusstlosigkeit und sah sie überrascht an.

Sie brauchten nicht mehr Tag und Nacht Wache zu halten. Hans hatte ein Reisebett in das Schlafzimmer des Alten gebracht, auf dem die Nachtwache immer mal zwischendurch schlafen konnte.

Es war einfacher geworden. Aber es schien, als zögere der Tod vor dem Bett des Alten, um stattdessen im Haus und in den Gedanken der Menschen herumzuspuken. Alle drei dachten an Jan, an die stummen Tage nach seinem Tod. Eines Tages sprach Kerstin es aus:

»Damals habe ich mich genauso gelähmt gefühlt wie jetzt.«

Hans wollte den Zusammenhang nicht wahrhaben, ihm ging es nicht gut, weil er zum Warten und zum Nichtstun gezwungen war, wie er sagte. Unruhig wanderte er hin und her durch die Zimmer, manchmal dachte er voll Angst, dass der Tod sich noch unendlich hinauszögern könnte. Oder zumindest ein halbes Jahr, ein Jahr. Klara beruhigte ihn, es konnte sich nur noch um eine oder zwei Wochen handeln, sagte sie.

»Es ist schrecklich«, bemerkte Kerstin, »aber faktisch wünschen wir, dass ihn das Leben verlässt.«

»Wir sind ja auch nur Menschen«, sagte Hans.

 

Das gibt es doch gar nicht, aber die Zeit scheint wirklich stillzustehen, dachte Klara, die oft in der Küche bei ihrem Kaffee saß. Jedes Mal, wenn sie die Kaffeemaschine herausholte, Wasser und Kaffeepulver einfüllte, Untertasse und Tasse für Kerstin herausholte und Kekse, wenn es welche gab, schaute sie auf den Wecker. Das muss doch eine ganze Weile gedauert haben, dachte sie. Aber immer wenn sie auf die Uhr schaute, hatte der Minutenzeiger sich kaum gerührt.

»In der Uhr sind Schnecken«, sagte sie zu Hans.

»Ich verstehe, was du damit meinst«, sagte er und versuchte zu lachen.

 

Es war nicht so, dass sie ganz allein gelassen wurden. Katarina kam täglich und erfüllte das Haus mit ihrer Stimme. Jonas rief mindestens zweimal am Tag an, Sofia zwitscherte jeden Abend an Agnes‹ Telefon. Der Pfarrer kam und ging, blieb eine Weile bei dem Alten sitzen, kümmerte sich aber die meiste Zeit um Kerstin, die ihm erzählen konnte, wie verzweifelt sie war, weil das entscheidende Gespräch mit ihrem Vater nie stattgefunden hatte, obwohl sie es sich seit Jahren Tag für Tag vorgenommen hatte.

»Ich denke, Sie sollten jetzt mit ihm reden.«

»Aber er hört mich doch nicht mehr. Und er kann nicht antworten.«

»Möglicherweise hört er mehr, als wir glauben. Und was die Antworten betrifft, so würden Sie doch auch vergebens darauf warten, wenn er gesund wäre.«

 

Als es Abend wurde, erzählte sie den anderen, was Karl Erik gesagt hatte.

»Das waren harte Worte«, sagte Hans. »Aber wahre.«

Klara nickte, aber Kerstin schrie:

»Ihr versteht überhaupt nichts. Er war früher ganz anders, fröhlich, er hat mich auf dem Arm getragen, gesungen und Geschichten erzählt.«

Hans war es peinlich, er sagte: »Natürlich hast du Recht.«

Am nächsten Tag kam Karl Erik früh zu ihnen:

»Ich mache mir Sorgen um Sie. Und ich habe mir überlegt, dass es nicht gut ist, wenn Sie einfach nur warten. Wenn er tot ist, dann wird so viel zu tun sein. Fangen Sie doch jetzt schon damit an. Es gibt sicher eine Menge Papiere, die durchgesehen werden müssen, übers Haus, die Finanzen und Versicherungen. Kerstin ist die einzige Erbin, also können Sie gar nichts falsch machen, wenn Sie den Schreibtisch und die Schränke schon mal aufräumen. Briefe können Sie ja noch liegen lassen, das ist vielleicht jetzt zu gefühlsbeladen.«

»Es gibt bestimmt gar keine Briefe«, sagte Kerstin. »Aber ich finde das eine gute Idee, Hans. Ich weiß, wo die Schlüssel für den Schreibtisch und den Geldschrank sind.«

 

Als der Pfarrer aufbrach, fragte Klara, ob er sie mit in den Ort nehmen könnte. Sie würde so gern mal spazieren gehen, sagte sie. Das war eine fadenscheinige Ausrede, schließlich standen zwei Autos auf dem Hof. Aber niemand ließ sich etwas anmerken.

Als sie den Hügel hinunterrollten, sagte Klara, ihr sei klar, dass auch der Pfarrer die fürchterliche Stimmung im Haus gespürt habe. Und dass sie mit der Erinnerung an den Tod ihres Bruders zusammenhänge.

»Alles erinnert daran«, sagte sie. »Und das liegt nicht an Großvater. Das liegt an mir.«

Der Pfarrer hielt vor der Kirche an und schlug vor, für eine Weile hineinzugehen.

»Ich bin nicht gläubig«, sagte Klara.

»Aber ich. Und ich brauche möglicherweise die Ruhe dort drinnen, um zu verstehen, was Sie mir sagen wollen.«

Sie ließen sich auf der ersten Bank am Altarkreis nieder, das Licht sickerte durch die hohen Fenster, das blaue Gewölbe streckte sich gen Himmel, und plötzlich konnte Klara zugeben:

»Es tut mir auch gut hier zu sein, in diesem Raum.«

 

Sie erzählte von der Krankheit, die sie befallen hatte, als Jan starb. Aber in erster Linie wollte sie über seine letzten Tage sprechen, über den Sturm, über die Angst, die sich in stummer Verzweiflung um sie schließen konnte.

»Mama glaubte damals, ich wäre krank und sagte, ich sollte zu Hause bleiben und nicht zur Schule gehen. Deshalb blieb ich allein im Haus.«

Sie erzählte von der Zeit, die stillzustehen schien, von den Uhren, die sich kaum bewegten. »Genau wie jetzt«, sagte sie. »Genau wie jetzt.«

»Ich dachte immer, es läge daran, dass ich nicht wusste, was geschehen würde, ich wusste nur, dass etwas Schreckliches passieren würde dort draußen im Sturm. Aber jetzt wissen wir ja, worauf wir warten, und das ist ein normaler, natürlicher Tod nach einem langen Leben. Dennoch ist es genauso … Ich habe Angst. Ich glaube, ich habe noch mehr Angst als damals.«

»Wahrscheinlich, weil Sie Angst vor dem Tod haben. Vor dem Tod an sich.«

»Ja. Das habe ich bisher nie begriffen.«

»Aber bei Ihrer Arbeit treffen Sie doch vermutlich ziemlich häufig auf den Tod?«

»Ich laufe immer vorher davon, das ist schrecklich.«

Karl Erik nahm ihre Hand und schloss die Augen. Jetzt betet er für mich, das ist lächerlich, dachte Klara. Trotzdem fühlte sie sich erleichtert und wurde von einem eigentümlichen Gedanken überrascht: Wie wäre wohl das Leben, wenn man glauben könnte, man sei aufgehoben und alles geschehe zum Besten?

Als sie die Kirche verließen, sagte der Pfarrer, er würde gern mit Jonas sprechen. Ob er das dürfe?

»Er weiß Bescheid, und er macht sich Sorgen. Aber rufen Sie ihn gern an.«

»Klara, warum fahren Sie nicht zu ihm? Sie müssen doch nicht mehr hier bleiben. Wir können eine Krankenschwester engagieren, die täglich kommt und den Kranken betreut. Und ich rede gern mit Kerstin und Hans, wenn es Ihnen zu schwer fällt.«

»Man kann sich nicht drücken«, sagte Klara. Aber er sah, dass in ihren Augen Hoffnung aufblitzte.

»Sie denken nicht besonders logisch«, sagte er. »Sie haben selbst gesagt, die Angst, die im Haus herrscht, gehe von Ihnen aus. Wenn das stimmt, dann ist es doch eine Erleichterung für Ihre Eltern, wenn Sie abfahren. Und wenn dem nicht so ist, dann müssen die beiden sich zumindest Ihretwegen keine Sorgen mehr machen. Geben Sie mir jetzt Jonas‹ Telefonnummer?«

 

Karl Erik rief gerade während der Visite an, aber eine freundliche Stimme sagte, Doktor Nyström würde zurückrufen: »Von wem darf ich grüßen?« Eine halbe Stunde später rief Jonas zurück:

»Ist was passiert? Ich mache mir so große Sorgen.«

Der Pfarrer wiederholte Wort für Wort sein Gespräch mit Klara.

»Ich muss mit Hans reden«, sagte Jonas. »Und mit einem Arzt, der sich um Klara kümmern kann, wenn sie herkommt. Können Sie sie zum Flughafen fahren?«

»Selbstverständlich.«

 

Klara ging langsam am Strand entlang, sie entschied sich für die steile Treppe von hinten zum Lotsenhaus hinauf. Es überraschte sie selbst, aber das Gespräch mit dem Pfarrer hatte ihr geholfen. Der Tod, dachte sie, der Tod ist es, vor dem ich Angst habe. Wie sonderbar, dass mir das nie klargewesen ist!

Kerstin saß bei dem Alten, Klara kontrollierte seinen Puls:

»Unverändert«, sagte sie.

Im Speisezimmer stand Hans und sortierte Papiere auf verschiedene Stapel auf dem großen Esstisch. Es ging ihm besser, das war offensichtlich.

»Meine Güte, wie viel alten Krempel er aufbewahrt hat.«

Das Telefon klingelte, Hans‹ Stimme klang höflich, fast förmlich, als er sagte, er werde das Gespräch in seine Überlegungen mit einbeziehen. Das war sicher die Reederei mit einem neuen Vorschlag, der ihm nicht gefiel, meinte Kerstin im Krankenzimmer. Und Klara nickte und stimmte ihr zu. Aber sie wusste, dass es Jonas war, und sie wollte nicht mit ihm sprechen.

Sie öffnete die unterste Schreibtischschublade, darin lag ein altes Fotoalbum. Sie betrachtete lange das Porträt der Mutter ihres Großvaters, ein unversöhnliches Gesicht. Ihr Mann, ein Lotse aus dem neunzehnten Jahrhundert, sah freundlicher aus. Eingeschüchtert und hochmütig zugleich, wie der Mann, der dort hinten im Bett im Sterben lag.

Alles ist folgerichtig, dachte sie und blätterte müde die schwere Seite um. Da saß er, der einzige Sohn. Unter einer Palme beim Fotografen. Wie alt mochte er gewesen sein, als das Bild gemacht wurde? Zehn, zwölf vielleicht. Er sah jemandem ähnlich. Jan, ja, das war Jan, der sie mit seinen Augen aus dem letzten Jahrhundert ansah.

Deshalb hasst er mich, der Alte.

Der Boden gab unter ihr nach, bewegte sich in Wellen, während sie sich mit beiden Händen am Sofa festhielt. Und sie schaffte es, der Boden beruhigte sich, sie bekam ihre Stimme unter Kontrolle, als sie Kerstin zurief: »Ich lege mich für eine Weile hin.« Sie fror unangenehm und kroch unter die Bettdecke und den Überwurf. Durch die Wand hörte sie, wie Hans das Gespräch beendete.

»Papa«, rief sie, »Papa, komm her, hilf mir.« Aber er kam nicht, und ihr wurde klar, dass der Hilferuf ihr im Hals stecken geblieben war. Sie hörte, wie Hans nach ihr fragte und Kerstin antwortete, dass Klara sich hingelegt habe.

»Wir stören sie lieber nicht«, sagte Kerstin, und Klara rief wieder, ohne Stimme: »Kümmere dich nicht um sie, diese Hexe, Papa, Papa komm.« Das Bett schaukelte, sie schloss die Augen und bat Karl Eriks Gott um Schlaf. Als sie ein paar Stunden später aufwachte, sah sie ein, dass es ihr geholfen hatte, sie war davongekommen.

Diesmal, dachte sie.

Das Telefon klingelte, Jonas wieder, dachte sie. Ich schaffe es nicht, ihn nochmal anzulügen. Als Hans an ihre Tür klopfte, sagte sie es geradeheraus:

»Ich will nicht mit Jonas sprechen.«

»Das war nicht Jonas, das war der Pfarrer. Er kommt nachher und fährt dich zum Flughafen. Du sollst nach Hause, Klara. Zu Jonas.«

Sie wollte protestieren, sagte aber nur:

»Ich habe alles getan, was zu tun war.«

»Du hast mehr getan, als man von dir fordern kann. Du bist wie deine Mutter, ihr verausgabt euch.«

»Ich will nicht wie Mama sein«, flüsterte Klara. »Ich will wie du sein. Und wie die andere Klara, du weißt schon.«

Hans antwortete nicht, er begann ihr alles zu erklären. Holmgren hatte mit Jonas gesprochen, der sich freigenommen hatte und zu der Ärztin Judith Dorf gefahren war. Sie nahm im Sommer Patienten auf. Sie hatte zugesagt, dass Klara kommen durfte.

Klara war so überrascht, dass sie sich im Bett aufsetzte.

»Das ist ja phantastisch. Ich möchte wissen, wie er das geschafft hat. Womöglich hat er sie auf Knien angefleht«, sagte sie kichernd. »Sie hat nämlich eine enorme Warteliste.«

Sie hatte wieder Farbe bekommen und war fast fröhlich, als sie aufstand und sagte, sie wolle duschen und sei hungrig.

»Lös du Mama ab, dann mache ich etwas zu essen.«

»Wird gemacht.«

 

Nach dem Essen übernahm Kerstin wieder die Wache bei dem Alten. Hans stellte das Radio an und hörte die Fünf-Uhr-Nachrichten, und Klara ging nach oben, um zu packen. Sie hatte gerade ihre Reisetasche zugemacht, als sie Kerstin rufen hörte.

»Ich habe gedacht, er hört auf zu atmen«, sagte Kerstin, als die anderen beiden angelaufen kamen, aber Klara horchte ihn ab, schüttelte den Kopf und sagte, nein, sein Zustand sei unverändert.

Sie sah überrascht ihre Mutter an, den Körper, der schwer wie Stein wirkte, und die Augen, die weit fort ins Unbekannte blickten. Sie ist auf dem Weg in den Berg, dachte Klara voller Panik. Wie damals, als Jan starb.

Dieses Mal ließ der Boden sie nicht im Stich. Und mit hoher Geschwindigkeit sauste Klara auf einer breiten Autobahn, ohne Wagen, direkt in einen Tunnel hinein. Dort, zwischen den Felsen, brannte das Feuer, das sie vernichten sollte. Sie stemmte beide Füße gegen den Boden, um zu bremsen, aber ihre Geschwindigkeit war zu hoch, der Sog zu stark. Brennen, okay, ich soll verbrennen, dachte sie, und ihre Wut war so stark und rein wie das Feuer.

Aber vorher soll die Hexe es erfahren.

Nur, wie komme ich an sie heran? Wo ist der Punkt, die ungeschützte Stelle, an der die Haut noch weich ist und der Pfeil eindringen kann? Dann wusste sie es mit einem Mal; sie lachte laut und schrie:

»Du hast Jan getötet und mich verrückt gemacht. Aber Sofia kriegst du nicht. Niemals. Sofia gehört mir, hörst du, mir, und ich werde sie weit, weit weg von dir bringen, nach Amerika, wo Jonas und ich einen Job kriegen können.«

»Klara.«

Kerstin stand auf und streckte Klara die Hände entgegen, als flehe sie sie an. Aber Klara flüsterte:

»Nein, du, keine Tricks. Du hast uns immer manipuliert, aber was mich betrifft, ist damit jetzt Schluss.«

»Hans!«

Kerstin war es, die jetzt schrie, und im nächsten Moment war er zur Stelle und umarmte Klara. Er strich ihr übers Haar und spürte, wie sie sich entspannte.

»Es geht mir so dreckig, Papa. Ich muss von ihr weg, aber wenn er wirklich Atemstillstände hat, wie Mama glaubt, dann dauert es nicht mehr lange.«

»Und so weit ich verstanden habe, gibt es nichts zu tun«, sagte Hans. In dem Moment klingelte es an der Tür. Es war Karl Erik mit der Krankenschwester.

 

Vielleicht habe ich es ja gar nicht gesagt, dachte Klara. Vielleicht war es nur ein Albtraum wie der mit der schwarzen Autobahn und dem Feuer. Lieber Gott, lass es so gewesen sein, dass ich es nicht gesagt habe, dass sie es nie gehört hat. Mama, meine Mama.

Jetzt umarmte Kerstin sie, tröstete sie: »Kleine, tüchtige Klara, du fährst jetzt los. Zu Jonas ans Meer. Und zu Sofia und Agnes, die dafür sorgen wird, dass du endlich genügend Schlaf kriegst.«

Ich habe es nicht gesagt.

Im nächsten Moment stand Schwester Gudrun vor ihr. Klara sah ihre Krankenschwesternbrosche, und das half ihr. Zurück ins Hier und Jetzt, in ihre Rolle und zu ihren Aufgaben.

»Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich mit der Schwester unter vier Augen spreche«, sagte sie mit ihrer Dienststimme.

 

Eine Stunde später stieg sie an Bord des Flugzeugs nach Göteborg, zog den Sicherheitsgurt fest um sich. Als die schwere Maschine den Boden verließ, schlief sie, schlief tief und fest, bis die Stewardess sie weckte. Am Flughafen Landvetter stand Jonas, und alles war gut.