53

Judith Dorf hatte Steinkohlenaugen, die nach vorn, nach hinten und zur Seite gleichzeitig schauten und ihr Ziel niemals losließen, nicht einmal blinzelten. Oft legte sie ihren Kopf schräg, wie der Star, um den Klara sich als Kind einen Sommer lang gekümmert hatte.

Sie sieht nicht besonders nett aus, dachte Klara, und sonderbarerweise spürte sie bei dieser Feststellung eine Erleichterung. Man konnte sie nicht belügen. Das hatte sie selbst gesagt, als Jonas sie einander vorgestellt hatte: »Ich hoffe, Sie gehören nicht zu den Frauen, die alles Mögliche erdichten und nur Zeit vergeuden.«

Sie waren erst ziemlich spät bei der Hütte in der Nähe von Aspen angekommen, einem schlichten modernen Haus, mit weitem Blick über die blauen Berge und das Meer. Klara hatte ein Zimmer im Anbau bekommen. Dann hatte Jonas sie allein gelassen. Durch die dünne Wand hörte sie eine Frau im Zimmer nebenan atmen.

Eine Schwester im Unglück, dachte sie.

Für einen Moment fühlte sie sich einsam. Das währte eine Weile, dann sah sie ein, dass sie sich selbst etwas vormachte, und dachte, das könne sie gut, sich selbst und anderen etwas vormachen über Gefühle, die sie gar nicht hatte. Manipulieren.

 

Jetzt saßen sie da, die Vogelfrau und sie, mit einem großen Schreibtisch zwischen sich. Darauf lagen Jonas‹ Notizen von dem langen Gespräch im Winter. Er hatte sie Klara gezeigt und sie gefragt, ob er sie Judith Dorf schicken dürfe.

»Sie wissen schon viel über mich«, sagte Klara mit einem Kopfnicken zu dem dicken Papierstapel.

»Etwas, möglicherweise. Was ich hier habe, das sind ja die Bilder eines verliebten Mannes von seiner Geliebten. Wir werden sehen, wie weit sie stimmen.«

Zum ersten Mal bekam Klara Angst, sie hatte nicht das Gefühl gehabt, dass Jonas besondere Rücksicht genommen hätte. Doktor Dorf, die sowohl ihre Angst als auch ihre Verwunderung sah, lächelte freundlich und sagte:

»Aber das haben Sie sicher schon gehört, dass Liebe blind macht. Ich möchte gern, dass Sie mir jetzt Stunde für Stunde berichten, was gestern passiert ist.«

Klara begann zögernd, aber bald fand sie Worte für all das Dunkle, was in den Wänden des Hauses des Alten saß, und für die Erkenntnis, dass es von ihr ausgehe.

»Obwohl alle es spüren können«, sagte sie. »Meine Mutter hat es direkt gesagt, dass es genauso sei wie damals, als Jan starb, mein Bruder.«

Zum Schluss kam sie zu der schwarzen Autobahn, die sie zum Feuer im Berg ansog. Jetzt blitzte es in den Steinkohleaugen.

»Was bedeutet Feuer für Sie?«

»Wut. Aber auch Reinigung.«

»Gut, machen Sie weiter.«

Das war nicht leicht, aber dann sah sie Kerstin vor sich, die wie versteinert dasaß.

»Ich musste sie treffen, ich habe ihren schwachen Punkt gesucht«, flüsterte sie. »Und da habe ich gesagt … nein, ich glaube nicht, dass ich es gesagt habe, ich hoffe, es ist nicht herausgekommen.«

»Was haben Sie Ihrer Mutter gesagt?«

»Dass sie Jan getötet hat. Dass sie mich verrückt gemacht hat und dass ich ihr Sofia wegnehmen will.«

Ein eigentümliches Lächeln lief über das schmale Gesicht, fast vergnügt.

»Sehen wir uns das mal Punkt für Punkt an. Wie hat sie Ihren Bruder getötet?«

»Sie hat ihn gar nicht getötet, das war ein Auto. Und ich habe es gewusst, die ganze Zeit.«

»Woher konnten Sie das wissen?«

»Weil ich es wollte.«

»Sie wollten, dass er stirbt.«

»Ja.«

»Dann waren Sie es also, die ihn getötet hat.«

»Ja.«

Jetzt bin ich völlig wahnsinnig, dachte Klara. Das Geheimste, das Gefährlichste, was ich fast selbst nicht weiß, kommt einfach so aus meinem Mund. Laut schrie sie:

»Du siehst es doch, du Hexe, das Zeichen auf der Stirn, das Hakenkreuz.«

»Und wie können Sie es vor den anderen verbergen?«

»Schnaps, 96-prozentigen. Und eine Salbe. Das brennt fürchterlich, jeden Morgen. Jonas darf es nicht sehen.«

»Ich dachte, Sie schlafen zusammen«, entgegnete die trockene Stimme, und Klara dachte an die Nächte, seinen Körper neben ihrem. Und an den Morgen, an dem er immer vor ihr aufwacht, sie küsst und den Kaffee kocht.

Sie entspannte sich, schüttelte sich, »Bilder«, sagte sie, »nur Bilder.«

»Dann machen wir jetzt weiter«, sagte die Stimme. »Jetzt wissen wir, wie Jan starb. Der nächste Punkt betrifft eine psychotische Episode. Wie hat Ihre Mutter Sie verrückt gemacht?«

»Sie ist so schön. So schön und so falsch. Sie lässt sich davon nichts anmerken. Und Papa …«

»Was lässt sie sich nicht anmerken?«

»Dass sie schön ist.«

»Vielleicht weiß sie es gar nicht.«

Der Gedanke war für Klara so neu, dass sie verstummte, ihre Stimme sank danach auf die gewöhnliche Gesprächslautstärke:

»Sicher, sie ist nicht so besonders scharfsinnig. Aber mein Gott, sie hat doch einen Spiegel an der Wand und Augen im Kopf.«

»Spieglein, Spieglein an der Wand«, sagte die Vogeldame und lachte das erste Mal. »Ich habe noch nie einen Spiegel gesehen, der einem Menschen erzählen kann, wie er aussieht. Er zeigt nur das Eigenbild, und da es für gewöhnlich negativ ist, sieht man in Wirklichkeit oft besser aus. Hat Ihre Mutter ein schwaches Selbstbewusstsein?«

»Normal schwach, würde ich sagen.«

»Aha«, sagte die Ärztin, als wäre das Thema damit abgeschlossen. Aber dann nahm sie den Faden doch wieder auf:

»Hat Ihre Mutter das Hakenkreuz auf Ihrer Stirn gesehen?«

Klara begann zu lachen, »Nein, nein. Mama sieht nur das, was sie will, ihren wunderbaren Mann, ihre eigene Güte, ihre tollen Kinder. Und dann manipuliert sie alles so, dass es ihren Bildern gleicht.«

»Kein größerer Fortschritt, denke ich«, sagte Judith Dorf und schlug mit der Hand auf Jonas‹ gesammelte Notizen. Klara verstand die Geste nicht, sondern fuhr fort:

»Ich habe ja gesagt, dass sie nicht besonders scharfsinnig ist.«

»Und ich sage, dass Sie lügen, Klara. Sie geben mir ein falsches Bild von Ihrer Mutter. Das ist interessant, wir werden darauf zurückkommen.«

Klara wurde feuerrot und weinte zum ersten Mal während des Gesprächs; schließlich konnte sie nur noch flüstern:

»Sie haben Recht. Ich lüge immer, wenn es um Mama geht, und ich weiß nicht, warum.«

Die Schachtel mit den Papiertaschentüchern auf dem Tisch wurde zu ihr hinübergeschoben, die nüchterne Stimme sagte zögernd:

»Es sieht so aus, als spielten Sie eine Rolle in einem Drama.«

»Ja, das Gefühl habe ich manchmal auch. Aber was ist das für ein Drama?«

»Das weiß ich noch nicht, mein Kind. Das müssen wir beide herausfinden. Jetzt wollen wir mal eine Weile den dritten Punkt ansehen. Sie wollen also das Sorgerecht für Sofia übernehmen?«

»Nein, nein. Ich habe Angst vor Sofia. Sie weiß alles über mich, weil sie genauso ist.«

»Dann hat sie auch ein Hakenkreuz auf der Stirn?«

»Nein.« Mit einem Mal war Klaras Stimme normal, ihr Blick sicher, als sie direkt in die Steinkohleaugen sah:

»Hören Sie. Ich bin eine Hexe. Sofia auch. Aber es gibt gute und böse Hexen.«

Judith Dorf nickte und sagte ruhig, dass sie glaube, Klara habe Recht. Es gebe starke, unbekannte Kräfte, die Menschen für böse oder gute Dinge anwenden können.

»Die Frage, die wir gemeinsam erarbeiten werden, ist also folgende: Warum haben Sie sich ausgesucht, eine böse Hexe zu sein?«

»Aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich bin so geboren.«

»Wir wählen immer. Sie können Recht haben, dass Sie mit einem siebten Sinn geboren sind. Aber was Sie mit dieser Gabe gemacht haben, das liegt einzig und allein in Ihrer Verantwortung.«

Klara saß ruhig und sprachlos da. Sie hat Recht, dachte sie, höchstwahrscheinlich hat sie Recht.

»Doktor Dorf«, sagte sie schließlich. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich gewählt habe. Ich hatte eine Eigenschaft, vor der alle Angst hatten, über die niemand reden wollte. Das war so schrecklich, vor allem für Mama, die immer Angst hatte, dass ich mich vergaß und etwas sagte, das darauf hindeutete … dass ich etwas wusste, was ich eigentlich nicht wissen konnte.«

Judith Dorfs Lachen war warm und aufmunternd:

»Gut, Klara. Wir nähern uns bereits einem der Kernpunkte Ihres Problems, nicht wahr. Aber heute wollen wir nicht weitermachen, Sie haben genug zum Nachdenken mitbekommen. Nur noch eine Frage: In Jonas‹ Notizen steht ganz kurz, dass die Hellseherei in der Familie Ihrer Großmutter väterlicherseits vererbt wird. Wer hat das gesagt?«

»Das war etwas, was alle bei uns daheim wussten, obwohl nie so viel darüber geredet wurde. Doch, Papa hat mal über Klara gesprochen, seine Schwester, nach der ich meinen Namen bekommen habe. Er sagte, dass sie die wunderbare Fähigkeit hatte, um die Ecken zu schauen. Und dann wurde mir dieser Familienmythos von einer Verwandten von Papa bestätigt, die in Skåne wohnt. Sie erzählte phantastische Geschichten von den Frauen aus der Familie meiner Großmutter väterlicherseits. Eine war eine Heilige, eine wurde als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und eine hat ihren Mann und alle ihre Kinder ermordet. Ich weiß nicht, wie viel davon stimmt, sie ist nicht besonders nett, die Tante meines Vaters, meine ich.«

»Sie haben Ihren Vater nie gefragt?«

»Nein, das hätte nichts genutzt. Mein Vater hat so gut wie keine Kindheitserinnerungen. Ich glaube, deshalb ist er ein so wunderbarer Mensch.«

Judith Dorf war sonderbar berührt und zögerte kurz, beschloss dann jedoch, an ihrem Vorsatz festzuhalten und nicht zu schnell voranzuschreiten:

»Wir wollen Ihren Vater für eine Weile aussparen. Ich sehe, dass Sie ein sehr gutes Verhältnis zu ihm haben.«

»Jonas spricht von Ödipus, aber ich muss ehrlich sagen, ich verstehe nicht, was damit gemeint ist. Mein Vater ist wunderbar, und ich liebe ihn. Für mich ist das ganz einfach.«

»Das kann ich gut verstehen. Und dabei lassen wir es, Klara. Jetzt verabschieden wir uns für heute. Unser Gespräch habe ich auf Band aufgenommen, Sie bekommen die Kassette mit, und ich möchte, dass Sie sie sich anhören, wenn Sie wieder auf Ihrem Zimmer sind. Und dann wünsche ich Ihnen lange, inhaltsreiche Träume, damit wir einiges Substantielle haben, über das wir reden können, wenn wir uns morgen wiedersehen.«

»Leider erinnere ich mich fast nie an meine Träume.«

»In Zukunft werden Sie sich bestimmt daran erinnern.«

 

Sie brachte Klara zur Tür, sie ging mit kleinen, ruckartigen Schritten. Wie ein Vogel, dachte Klara. Sie selbst war einen Kopf größer und fühlte sich für einen Augenblick wie eine barbarische Riesin neben einem auserwählten Wesen aus einer verschwundenen Zeit.

»Sie wären früher, im alten Ägypten, Priesterin gewesen«, sagte Klara und lachte, bevor sie die Treppe hinunterging.

Judith Dorf setzte sich an ihren Schreibtisch, atmete tief ein und rief ihre Schwester an. »Ich komme heute Abend vorbei«, sagte sie. »Ich brauche dringend … Rat.«