Klara machte sich auf den Weg in die Stadt; sie ging durch den großen Wald, sicher drei Kilometer lang. Es war schön, sie fühlte sich eigentümlich leer und fast frei von Gedanken. Sie kaufte etwas zum Essen für mittags und abends für sich und Solveig ein, die andere Patientin in Judith Dorfs Anbau, eine gehemmte junge Frau um die fünfundzwanzig, ängstlich wie ein Hase. Viel kranker als ich, dachte Klara.
Nach dem Essen hatte Solveig einen Termin bei der Ärztin, und Klara legte sich auf ihr Bett, um das Band abzuhören. Zuerst hörte sie es von Anfang bis zum Ende, dann hörte sie es noch einmal und hielt es ziemlich oft an, spulte zurück, schrieb ab. Sie hatte das Gefühl, hier und da deutliche Hinweise aufblitzen zu sehen. Aber wenn sie das Band anhielt, um zu notieren, um was es sich handelte, glitten sie ihr wieder aus der Hand. Es würde dauern, sehr lange dauern.
Sie musste eingeschlafen sein, denn als Jonas sich plötzlich über sie beugte und sie küsste, wusste sie nicht, wo sie war. Er erklärte ihr lachend:
»Du bist bei Doktor Dorf in Aspen, Klara. Du bist so süß, wenn du schläfst, ein bisschen elfengleich, unberührt und unwissend.«
»Mit Letzterem hast du Recht«, sagte Klara und lachte. »Ich hatte einen phantastischen Vormittag. Hilfst du mir, das Band abzuhören. Weißt du, es gibt darauf Einsichten, aber die rutschen mir dauernd davon.«
»Nein. Später einmal, wenn alles vorbei ist, können wir es gemeinsam anhören. Jetzt hast du nur einen Arzt, und das bin nicht ich.«
Klara sah enttäuscht aus, aber sie verstand. Sie gingen schwimmen, wanderten Hand in Hand durch den Wald und fanden bald einen Platz mit weichem Gras unter hohen Bäumen, wo sie sich auszogen und sich ruhig und vertrauensvoll liebten.
Als sie zum Haus zurückkamen, trafen sie Judith Dorf auf dem Weg zu ihrem Auto: »Ich muss nur was in der Stadt besorgen«, erklärte sie. »Ich bin in ein paar Stunden zurück.«
»Darf ich heute Nacht hier bleiben?«
Es war Jonas, der fragte, und er klang wie ein Schuljunge.
»Ich kann dich kaum daran hindern«, antwortete Judith und lachte laut auf. »Aber der Teufel soll dich holen, wenn du dich in meine Arbeit einmischst, mein Junge!«
Sie lachten alle drei.
Klara war kaum halb wach, als Jonas sich verabschiedete und ihr einen Kuss gab. Die Uhr zeigte erst sechs, wie sie sah, als sie sein Auto anfahren hörte, gut, dann konnte sie noch ein paar Stunden schlafen.
Sie steht im Fenster eines Hauses, das ihr wohlvertraut ist, in dem sie aber noch nie war. Es ist ein altes Haus, das Fenster hat kleine, eingefärbte Scheiben, und sie öffnet es, um hinaussehen zu können. Ich habe vergessen, dass der Garten so schön war, denkt sie. Hier gibt es Levkojen und Rosen, Lilien und Rittersporn. Weit hinten liegt der Wald, hohe Laubbäume und weiches Moos, sie kennt auch im Wald jeden Winkel.
Auf dem gewundenen Waldpfad kommt eine Frau mit einem Korb überm Arm heran. Sie bleibt am Waldrand stehen, zögert eine Weile, bevor sie sich entschließt, näher zu kommen. Das ist Mama, na so etwas, das ist ja Mama! Und im Korb hat sie Äpfel, unsere alte Sorte, der Winterapfel Åkerö, wie sonderbar, die können jetzt mitten im Sommer doch noch gar nicht reif sein. Das müssen Äpfel aus dem Vorjahr sein, die sie aufbewahrt hat.
Klara ist so sehr mit dem Apfelkorb beschäftigt, dass sie gar nicht merkt, wie die Frau ihre Gestalt verändert. Erst als sie den Gartenweg erreicht, entdeckt Klara, dass sie geschrumpft ist, älter geworden, sich verändert hat. Die Ärztin, denkt sie, das ist Judith Dorf. In ihrem Korb liegt nur ein einziger Apfel, groß, rund und rot. Den will ich haben, den will ich haben.
Klara beugt sich aus dem Fenster und schaut der Frau direkt in die Augen, einer fremden Frau, die sie noch nie in ihrem Leben getroffen hat, aber dennoch kennt. Gut kennt.
Sie ist sehr groß und schlank, in weiße Tücher gehüllt und so blond, dass sie ganz farblos wirkt. So ähnlich, so ähnlich – aber wem? Klara hat jetzt Angst, etwas Schreckliches wird passieren, sie weiß, dass der Apfel vergiftet ist, aber in der Hand, die ihr die Frucht reicht, liegt nur eine Tablette.
»Iss«, sagt die fremde, gut bekannte Frau, ihre Stimme ist dunkel von Liebe und Trauer. Klara nimmt die Pille, weiß, dass es der Tod ist und dass alle Fluchtwege versperrt sind. Also schluckt sie sie und fällt, fällt in eine unendliche Dunkelheit. Bald, bald, denkt sie, schlage ich auf dem Boden auf, und dann ist alles vorbei.
Sie wachte auf, mit kaltem Schweiß bedeckt und mit Herzklopfen. Beunruhigt und gleichzeitig zufrieden. Was für ein Traum! Darüber würde Judith Dorf sich freuen.
»Jetzt möchte ich zuerst Ihre eigenen Assoziationen zu dem Thema des Traums hören und zu all den Symbolen.«
Wenn die Ärztin sich über den Traum freute, so zeigte sie es jedenfalls nicht. Sie war sachlicher als je zuvor.
»Anfangs ist das sicher Schneewittchen, das durch meinen Traum geistert. Jonas und ich haben ja darüber gealbert, dass ich eine Art Schneewittchen-Syndrom hätte. Aber ich hatte keine Angst und war nicht wütend, als Mama mit ihren alten Åkerö-Äpfeln ankam. Im Gegenteil, ich habe mich riesig gefreut, sie zu sehen. Und dann war es ja merkwürdig, dass sie mir Äpfel vom Vorjahr mitbrachte …«
»Wir lassen die Symbole zunächst mal so stehen.«
»Ja, Entschuldigung. Dass sie sich in jemanden verwandelt hat, der Ihnen ähnlich ist, das ist ja nicht so überraschend. Es war lustig, dass ich unbedingt diesen Apfel haben wollte. Es war wohl Evas Apfel, die Frucht der Erkenntnis.«
»Ja, das denke ich auch. Und ich finde es schön, dass Sie meinen Apfel essen wollten. Das spricht dafür, dass unsere Zusammenarbeit gut laufen wird«, erklärte Judith Dorf und dachte, dass diese junge Frau ungewöhnlich klarsichtig war.
»Haben Sie den Schluss, dass es sich um Eva und den Apfel der Erkenntnis gehandelt hat, gefasst, nachdem Sie aufgewacht sind?«
»Nein, nein, das wusste ich schon im Traum.«
»Gut. Und nun kommen wir zu der dritten Frau, die Sie kannten, und dennoch nicht wieder erkennen konnten.«
»Ich habe keinerlei Assoziationen zu ihr und ihrer Todespille. Es war merkwürdig, dass sie mich gezwungen hat, Gift zu schlucken, denn sie war in keiner Weise unangenehm. Sie war unglaublich traurig.«
»Gestern haben Sie gesagt, Sie hätten Angst vor dem Tod. War es denn so schlimm zu sterben?«
»Aber ich bin ja nicht gestorben, ich bin aufgewacht, bevor ich auf den Boden aufgeschlagen bin.«
Klara hatte nicht begriffen, dass jedes Detail in einem Traum eine Bedeutung haben konnte und von allen Seiten betrachtet werden musste. Was war das für ein Garten und was für ein Haus, was für Rosen und welcher Rittersporn? Klara wusste es nicht, konnte sich aber nach einer Weile an ein Buch erinnern.
»Ein altes Märchenbuch, das ich als Kind geliebt habe«, sagte sie verwundert. »Darin gab es das Haus. Und den Garten. Es war herrlich. Ich erinnere mich noch, dass ich versucht habe, Jan die Märchen vorzulesen, dass er sie aber garstig fand. Und das waren sie: garstig und wunderbar zugleich.«
»Erinnern Sie sich daran, wie das Buch hieß?«
»O ja. Es war eine alte illustrierte Ausgabe von den Märchen der Brüder Grimm.«
Sie kehrten zu den Åkerö-Äpfeln zurück, und Klara erzählte, wie Kerstin in hausfraulichem Eifer jeden einzelnen Apfel pflückte und auf den Dachboden legte, auf Holzwolle, in Papier eingewickelt.
»Und dann vergisst sie normalerweise die Äpfel. Und im Frühling, wenn es im Haus nach verfaulten Äpfeln zu riechen beginnt, flucht sie laut, während wir anderen sie auslachen. Und dann können wir nur noch ausmisten und die ganze Herrlichkeit auf den Komposthaufen werfen.«
»Interessant.«
»Was?«
»Im Traum hat sie sich ja an ihre Vorjahrsäpfel erinnert und sie in einen Korb gelegt, um sie Ihnen zu geben.«
»Alle ihre guten Vorsätze? So gut gemeint und dabei so sinnlos.«
Judith Dorf schaute zweifelnd drein, und Klara verstärkte ihre Äußerung:
»Ich mag keine Åkerö.«
»Natürlich nicht.«
Welche Phantasien und Gedanken hatte Klara über den Sündenfall? Auch damit kamen sie nicht viel weiter. Für Klara war es selbstverständlich, dass die Menschen den Schritt ins Bewusstsein tun mussten. Dem christlichen Mythos vom Verlust der Unschuld und der Geburt der Sünde schenkte sie nicht einen einzigen Gedanken. Wissen war wichtig.
»Woher sind Sie sich dessen so sicher?«
Klara erzählte, wie sie in der Schule geschummelt hatte, wie ihre Mutter ihr auf die Schliche gekommen war und danach mit ihr gepaukt hatte.
»Aber was mich am meisten beeindruckt hat, das war etwas, was mein Vater über die Menschen sagte, die so einen … medialen Zug haben wie ich. Er sagte, dass sie nicht ernst genommen würden, weil sie oft so unwissend seien. Deshalb dürfte ich es mir nicht so bequem machen, ich müsste lernen, die Welt, in der wir leben, durch Arbeit und Disziplin zu verstehen.«
»Das war hart.«
»Ich denke, es war gut«, sagte Klara, und Judith notierte sich routinemäßig, dass die junge Frau es nicht zuließ, wenn ihr Vater kritisiert wurde. Aber noch waren sie nicht so weit, das Thema aufzugreifen. Sie nahm einen anderen Faden auf:
»Wenn Sie die Fähigkeit besitzen, in der Erinnerung hin und her zu gehen, können Sie vielleicht auch herausfinden, wer diese Ihnen so bekannte, fremde Dame war? Wo Sie sie gesehen haben, in welchem Zusammenhang Sie einander getroffen haben?«
Klara schloss wortlos die Augen und blieb lange so sitzen. Schließlich schüttelte sie den Kopf:
»Ich denke nicht, dass ich sie jemals getroffen habe. Es ist komisch, ich erkenne sie, aber ich habe kein … obwohl ich sie genau kenne.«
»Wir lassen das erst mal«, sagte Judith Dorf. »Es kann auch jemand sein, den Sie getroffen haben, als Sie noch zu klein waren, um sich daran zu erinnern. Und es kann natürlich auch jemand sein, den Sie auf einem Bild, einem Foto oder einer Zeichnung in einem Buch gesehen haben, genau wie das Haus und den Garten.«
Klara schüttelte den Kopf.
»Leer«, sagte sie. »Total leer.«
Die zwei Stunden waren um. Sonderbar, dachte Klara, wie die Zeit rast, wo sie letzte Woche noch stillzustehen schien.
»Darf ich meine Mutter anrufen?«
»Nein, das möchte ich nicht. Schreiben Sie ihr einen Brief, sodass Sie in Ruhe die Worte wählen können und nicht ihre Reaktionen darauf hören.«
Judith Dorf brachte sie wieder zur Tür, gab ihr die Hand und sagte: »Heute ist Freitag, bis Montag machen wir eine Pause. Sie können mit Jonas übers Wochenende heimfahren. Wir sehen uns dann nächste Woche. Hören Sie das Band ab, aber reden Sie mit niemandem darüber oder über Ihre Träume.«
Den ganzen Nachmittag arbeitete Klara an dem Brief für Kerstin. Sie schrieb, überdachte die Worte und verwarf einen Entwurf nach dem anderen. Schließlich gab sie es auf. Sie machte einen Spaziergang, um auf andere Gedanken zu kommen.
Als sie zurückkam, verfasste sie einen kurzen, aber inhaltsschweren Brief an Hans: »Ich möchte, dass du Mama erklärst …«